Content Notes/Inhaltswarnung: systematische Ausgrenzung, Pandemie, Food
Diese Geschichte ist Teil des Adventskalenders des Jahres 2020, der von Vampire’s Lair auf Belletristica organisiert wurde. Vielen Dank an Vampire’s Lair, dass ich zu einem Beitrag eingeladen wurde, an Riley für das schöne Coverbild und allen Beitragenden für die wundervollen Geschichten, die hier zusammengekommen sind. Ich kann sie euch alle ans Herz legen – schaut sie euch unbedingt auch noch an! Ihr findet sie hier: https://belletristica.com/de/books/29167-christmas-adventskalender-2020/
Das Piepsen des Timers riss mich so sehr aus meiner Konzentration, dass die Marmelade, die eigentlich mittig auf dem Plätzchen hätte landen sollen, daneben ging und nun als hässlicher Fleck gleich zwei Keksränder verunzierte.
„So eine Scheiße“, murrte ich, bevor ich mich an den Sprachassistenten wandte. „Welcher Timer ist das?“
„Das ist der Timer mit dem Namen ‚Ofen links‘“, informierte mich die höfliche Stimme. Dann endete die Unterbrechung und wieder schallte laute Weihnachtsmusik durch die große Gemeinschaftsküche.
Schnell griff ich nach den bereitliegenden Topflappen und zog das nächste Blech aus dem Ofen. Nummer elf. Dies Plätzchen hier waren sogar verdammt gut geworden – weder zu hell noch zu dunkel. Erleichtert zog ich das Backpapier samt der warmen Kekse auf das letzte bisschen freier Küchenzeile und legte die nächsten ausgestochenen Rohlinge auf. Langsam wurde das mit dem Platz echt knapp. Aber immerhin lag ich nicht allzu weit hinter meinem Zeitplan.
„Stell einen Timer namens ‚Ofen links‘ auf zwölf Minuten“, rief ich laut, damit der Sprachassistent mich verstehen konnte.
Als ich mich wieder auf den Stuhl vor dem Küchentisch fallen ließ, schloss ich für einen Moment die Augen und spürte der Erschöpfung nach, die mich langsam zu überwältigen drohte. Aber ich hatte keine Zeit für eine Pause. Es war noch so verdammt viel zu erledigen, wenn alles rechtzeitig fertig werden sollte ... Also ran an den Speck.
Lustlos griff ich nach dem Marmeladenglas und fuhr fort, Plätzchen zusammenzukleben.
Ohne Vorwarnung ging das Licht aus und wieder an.
Erschrocken riss ich den Kopf nach oben. In der Küchentür, die Hand noch auf dem Lichtschalter, stand dieser Neue, der zu Semesterbeginn hier ins Wohnheim gezogen war. Der, der sich nie an Gesprächen beteiligte und Gesellschaft mied.
Verdammt. Ich dachte, alle wären längst zu ihren Familien gefahren und ich alleine hier. Stattdessen war ausgerechnet dieser seltsame Kerl da und sah mit einem nicht interpretierbaren Blick erst mich, dann die komplett von mir belegte Gemeinschaftsküche an. Hoffentlich machte er mich jetzt nicht auch noch wegen meines fehlenden Mundschutzes an.
„Äh, sorry“, sagte ich zerknirscht. „Willst du dir was zu essen machen?“ Dann wurde mir klar, dass er mich wegen der Musik ja eh nicht hören konnte. „So eine Scheiße“, murmelte ich leise, ohne jedoch die Maske des freundlichen Lächelns abzulegen. „Ich bin eh spät dran und jetzt kommst auch noch ausgerechnet du daher und hältst mich auf.“ Meine Laune sank auf einen neuen Tiefenrekord und ich nahm es hin, dass ich klebrige Marmeladenabdrücke auf meinem Telefon hinterließ, als ich die Lautstärke herunterregulierte.
„Ich möchte mir eine Pizza machen“, sagte der Typ mit irritierend betonungsloser Stimme. „Warum hält dich das auf?“
Hatte er mich etwa verstanden? „Nein nein, das hält nicht auf“, wiegelte ich schnell ab.
Seine Miene verschloss sich. „Ich bin nicht blöd, weißt du. Anlügen musst du mich nicht.“ Dann wandte er seinen Blick von mir ab und suchte nach einem freien Platz, um seine Tiefkühlpizza abzulegen.
Der verletzte Ausdruck, den ich für einen kurzen Moment in seinen Augen gesehen hatte, und die Tatsache, dass er natürlich recht hatte und ich meine miese Laune nicht an ihm auslassen sollte, bereiteten mir ein ziemlich schlechtes Gewissen. Also stand ich auf, nahm eins der Keksbleche von der Küchenzeile und lächelte ihn entschuldigend an.
„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich bin nur ziemlich im Stress. Da kannst du natürlich nichts dafür.“
Er sah mir in die Augen, als versuche er, herauszufinden, ob ich es ernst meinte. Dann nickte er. „Okay.“ Damit war die Sache für ihn wohl erledigt, denn er kümmerte sich wieder um seine Pizza.
„Warum bist du denn hier?“, fragte ich an seinen Rücken gewandt. „Musst du in ein Labor oder so was?“
Praktisch jeder hier im Wohnheim war zu seiner Familie nach Hause gefahren. Dank der Pandemie gab es in diesem Semester ohnehin fast nur noch Onlinevorlesungen, warum sollte man also hier bleiben, in einem Gebäude, in dem man so viele andere Leute traf?
Doch ich erhielt keine Antwort. Da war sie wieder, diese komische Art, die der Typ immer an den Tag legte. Er ignorierte mich einfach! Frustriert stellte ich das Keksblech auf meinen Stuhl und drehte die Weihnachtsmusik erneut auf.
Er reagierte auch darauf nicht. Als seine Pizza endlich im Ofen war und er auf seinem Telefon einen Timer eingestellt hatte, wandte er sich mir zu, lächelte und sagte irgendetwas.
„Was?“, rief ich und legte demonstrativ eine Hand hinters Ohr. „Warte mal.“ Ich drehte die Lautstärke wieder runter.
Erkenntnis blitzte in seinen Augen auf, als sein Blick zwischen meinem Telefon und dem Bluetooth-Lautsprecher auf dem Fensterbrett hin- und herwanderte.
„Hörst du Musik?“, fragte er. Als ich ihn nur verblüfft anstarrte, verzog er ein wenig das Gesicht und wechselte das Thema. „Warum bist du eigentlich hier?“, erkundigte er sich. „Musst du auch ins Labor? Was studierst du eigentlich?“
Ich lachte humorlos auf. „Sag mal, bist du taub oder so? Ich hab dich genau dasselbe gefragt und keine Antwort gekriegt.“
Er seufzte. Seine Mundwinkel hoben sich kurz. „Hallo“, sagte er dann. „Ich bin Fabian. Ich studiere Biologie. Und ja, ich bin gehörlos.“
Oh.
„Jetzt komme ich mir vor wie ein Idiot“, murmelte ich nach einigen Sekunden Stille.
Fabian lachte. „Glaub ich“, meinte er nur.
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. „Tut mir leid“, sagte ich dann und lächelte. „Ich bin Alex. Ich studiere Physik. Und ja, ich höre Musik.“ Ich wies mit einer Hand auf den Bluetoothlautsprecher, wurde aber durch das Piepsen meines Telefons abgelenkt, das mir das Ende meines Timers für „Ofen rechts“ ankündigte. „Stop“, befahl ich dem Sprachassistenten und eilte zum zweiten Ofen, um meine Plätzchen zu holen.
„Ich verstehe dich nicht, wenn du mich nicht anschaust“, ertönte Fabians Stimme hinter mir.
Das hatte ich natürlich nicht bedacht. Mit einem entschuldigenden Lächeln drehte ich mich wieder zu ihm um. „Sorry, ich meinte gar nicht dich. Ich hab mit meinem Telefon geredet. Meine Plätzchen sind so weit.“
Er nickte nur und sah dann auf die Unmengen halb fertiger Kekse in der großen Gemeinschaftsküche. „Warum backst du denn so viele?“, fragte er mich.
Mit dieser Frage endete die Ablenkung, die Fabians Auftauchen für mich bedeutet hatte, und meine Laune sank abrupt ab. Die ganze Realität der Pandemie traf mich wieder und mit einem Seufzen lehnte ich mich an die Küchenzeile. Dass mir dabei ein paar Plätzchen vom Blech fielen, bemerkte ich gar nicht.
Eine halbe Stunde später saßen Fabian und ich zusammen in der Küche, teilten seine Pizza und unterhielten uns. Er hatte mir geholfen, die Kekse wieder aufzusammeln und dann so mitfühlend gefragt, ob alles in Ordnung wäre, dass der kommende Wortschwall einfach aus mir herausgebrochen war.
Ich hatte ihm erzählt, wie unerwartet viel Energie mich diese ganze Pandemiesituation kostete. Dass ich immer gedacht hatte, ein vernünftiger, rationaler Mensch zu sein, die Entscheidung meiner Familie, Weihnachten dieses Jahr nicht gemeinsam zu feiern, mich aber überraschend hart traf: Als Patchwork-Familie waren wir schlicht viel zu viele Haushalte, um das guten Gewissens verantworten zu können. Und dass ich nun wenigstens jedem Weihnachtsplätzchen schicken wollte, wenn ich sie schon alle nicht sehen konnte.
Fabian war ein guter Zuhörer. Als er mir am Ende erklärte, dass ich vielleicht ein bisschen überkompensierte und verzweifelt versuchte, was gegen die Einsamkeit zu unternehmen, tat die Präzision seiner Analyse schon fast weh.
„Ja, da hast du wahrscheinlich recht“, gab ich zu, selbst überrascht von der Erkenntnis. „Mir fehlen die Traditionen und das Zusammensein“, fasste ich zusammen. Dann endlich kam ich gedanklich von mir zu ihm. „Wie ist es eigentlich bei dir mit Weihnachten?“
Er lächelte traurig. „Meine Eltern leben in Frankreich. Wir haben beschlossen, dass ich dieses Jahr hierbleibe und sie zu Hause.“
„Und wie kommst du damit klar?“, erkundigte ich mich. Irgendwie war diese Gemeinsamkeit etwas, das eine Art Vertrautheit zwischen uns schuf.
„Geht schon. Schade, aber okay. Lieber feiere ich nächstes Jahr wieder mit ihnen und weiß, dass sie dieses Jahr sicher sind.“ Dann bröckelte seine coole Fassade. „Ich begegne hier einfach zu vielen Leuten“, flüsterte er und blinzelte ein paar Mal.
Das erinnerte mich an etwas. „Bist du uns anderen deshalb immer ausgewichen?“
Fabian lachte auf. „Nein. Das war einfach aus Frust. Man muss ja überall so einen Mund-Nase-Schutz tragen – ich kann so nicht Lippenlesen und versteh gar nichts mehr. Und ich hab echt keine Lust, das immer jedem zu erklären.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hätte dich heute auch nicht angesprochen, wenn du deinen tragen würdest.“
„Ach du Scheiße“, murmelte ich. Das schockierte mich wirklich. Ich hatte nie drüber nachgedacht, dass Leute wie Fabian in der Pandemie plötzlich mit niemandem mehr reden konnten. „Das tut mir echt leid.“ Was Besseres fiel mir nicht ein.
Er versuchte wirklich, ein tapferes Gesicht zu machen. Aber ich konnte trotzdem sehen, dass ihm die Situation sehr zu schaffen machte. Anders als mir, doch mindestens genauso heftig. Irgendwie mochte ich diesen Mann und Sympathie und Mitgefühl vermischten sich in meinem Inneren zu einer seltsamen, aber starken Mischung.
Spontan machte ich ihm einen Vorschlag. „Wir sind die beiden Einzigen hier im Wohnheim, glaube ich. Wenn du möchtest, können wir zusammen Weihnachten feiern. Und die Vorweihnachtszeit miteinander verbringen.“
Fabian schluckte, atmete durch und lächelte dann. „Das wäre toll. Brauchst du Hilfe bei diesen Plätzchen? Jetzt hab ich dich ja doch aufgehalten – vielleicht kriegen wir sie zu zweit heute noch fertig.“
Seit dieser Begegnung trafen Fabian und ich uns jeden Tag in der Gemeinschaftsküche. Es stellte sich heraus, dass doch noch zwei weitere Personen im Wohnheim waren, die jedoch, als sie von Fabians Behinderung durch die lippenverdeckenden Mund-Nasen-Schutze erfuhren, einfach auf eine andere Küche auswichen und uns „unseren Raum“ vollständig überließen.
Ich lernte meinen neuen Freund in dieser Zeit immer besser kennen. Fabian war ein ruhiger, rücksichtsvoller, besonnener Mann mit klugen Gedanken, einem trockenen Humor und einer beeindruckenden Beobachtungsgabe. Mit ihm wurde es nie langweilig und ich gewöhnte mich schnell an die kleinen Gesten der Rücksichtnahme, die ihm das Leben leichter machten, setzte mich automatisch so in den Raum, dass er mich nicht im Gegenlicht sah und sprach nur, wenn er mich anschauen konnte. Schon nach wenigen Tagen empfand ich es sogar bei anderen Leuten als unhöflich, wenn sie jemanden mitten im Satz unterbrachen, ohne die Blicke aller am Gespräch Beteiligten zuvor auf sich zu ziehen.
Heiligabend rückte immer näher.
„Was ist dir am 24. denn wichtig?“, erkundigte Fabian sich während des Abendessens.
„Wiener Würstchen und Kartoffelsalat zum Mittagessen“, antwortete ich prompt. „Und sehr laut und ohne jede Rücksicht auf etwaige Melodien zwei, drei Weihnachtslieder singen.“
Fabian lachte. „Ohne Rücksicht auf die Melodie? Da mach ich mit!“
Damit hatte ich nicht gerechnet, freute mich aber sehr. „Cool! Hast du Lieblingslieder?“
„Nein. Such du aus.“
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und sah Fabian an. „Hör mal. Du hast immer mich aussuchen lassen in den letzten Tagen, aber wenn ich dich nach deinen Weihnachtstraditionen frage, kriege ich nur so 08/15-Antworten. Gibt es wirklich nichts, was du gerne machen möchtest?“
Fabian lächelte unsicher. Aber im Gegensatz zu sonst lenkte er nicht sofort vom Thema ab.
„Komm schon. Du kannst es mir erzählen“, ermunterte ich ihn.
Er sah mich zögernd an. „Es ist aber kindisch“, murmelte er entschuldigend.
Ich lehnte mich vor und sah ihm ernst in die Augen. „Hey. Wofür sind Freunde denn da? Wir wollen zusammen eine schöne Weihnachtszeit verbringen. Ich mach gern jeden Quatsch mit, wenn du dich darüber freust.“
Fabian errötete doch tatsächlich ein wenig vor Freude. „Ich mag Kartoffelsalat nicht mal besonders“, gestand er mir und gab mir damit zu verstehen, dass es ihm genauso ging.
Grinsend drückte ich seinen Unterarm. „Na also. Also, raus mit der Sprache. Was machen wir am 24. Dezember außer Kartoffelsalat noch?“
Er holte tief Luft, dann rückte er endlich mit seiner Weihnachtstradition raus. „Einen Weihnachtsbaum für Tiere.“
So verrückt die Idee war, so schön fand ich sie auch. Wir besorgten uns Äpfel, Karotten, Sellerie und Birnen sowie zwei Packungen dieser Körnerstäbe, die für Wellensittiche und andere Käfigvögel gedacht sind.
„Wie befestigen wir das Zeug eigentlich?“, fragte ich Fabian, als wir am Waldwanderparkplatz angekommen waren.
Er warf mir nur einen verschwörerischen Blick zu und grinste. „Wirst du schon sehen. Ich hab das über die Jahre perfektioniert!“
Die gute Laune, die er bereits den ganzen Tag über hatte, steckte mich so richtig an. Es machte Spaß, ihn dabei zu beobachten, wie er kritisch die verschiedenen Bäume musterte, die an der von ihm ausgewählten Stelle standen.
Mit einem Winken machte ich ihn auf mich aufmerksam. „Warum eigentlich genau hier?“, erkundigte ich mich.
„Weil hier die Förster die Tiere füttern“, erwiderte er und zeigte auf eine Art große Heuraufe, der ich bisher keinerlei Beachtung geschenkt hatte. „Hier kommen sie sowieso her.“
Davon hatte ich ja noch nie gehört. Interessiert musterte ich das Ding, während Fabian weitersuchte.
Dann fand er endlich einen Baum, der seinen Ansprüchen gerecht wurde. „Komm, der hier ist gut!“, rief er freudestrahlend und winkte mich eifrig zu sich. „Ich zeig dir jetzt, wie das geht.“
Nach und nach schnitt er die verschiedenen Obst- und Gemüsesorten mit einem Taschenmesser in Schnitze. Dann brachte er je einen Längsschnitt an, mit dem er die Stücke in unterschiedlichen Höhen auf die Zweige der kleinen Tanne steckte.
„Es ist wichtig, dass auch die kleinen Tiere gut rankommen“, erklärte er ernst und verstreute einige der Schnitze direkt auf dem Boden. Dann stellte er sich neben mich und bewunderte sein Werk.
Und er konnte wahrlich stolz darauf sein. Der kleine Baum bot einen prachtvollen Anblick: Alle Tannenzweige waren mit Leckereien geschmückt, die den Tieren hoffentlich schmecken würden.
Doch noch schöner als das Bäumchen war das Leuchten in Fabians Augen.
„Danke, dass du mit mir Weihnachten feierst“, sagte er und schenkte mir ein ganz besonderes Geschenk: Ein so glückliches Lächeln, wie ich es in unserer erst wenige Wochen alten Freundschaft noch nie gesehen hatte.
„Na los“, sagte er dann und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. „Gehen wir diesen Kartoffelsalat vernichten.“
Ich lachte und zog ihn in eine kurze Umarmung. Dank ihm war Weihnachten dieses Jahr zwar anders, aber irgendwie doch wie immer: schön.