6. Kapitel
Sich den Schatten stellen
Sie gingen erneut den Gang entlang, an den vielen Türen vorbei und Lea hatte das sichere Gefühl, dass sie diesen Ort nicht zum letzten Mal gesehen hatte. Er würde für sie noch eine wichtige Bedeutung in ihrem Leben haben. Allerdings würde sie das nächste Mal sicher unter anderen Umständen hierherkommen. Davon war sie felsenfest überzeugt.
Sie schaute auf das Kind das neben ihr ging und ein tiefes Gefühl von Zuneigung, stieg in ihr hoch. Dieses Kind erinnerte sie nicht nur an ihren eigenen kleinen Sohn, sondern auch an ihre eigene Kindheit. Damals mit 6/7 Jahren, war alles noch so sorglos gewesen, ihre Welt war noch in Ordnung und sie hatte damals eine sehr gute Freundin, mit welcher sie sehr schöne, abenteuerliche Dinge erlebte. Doch als ihre Eltern sich dann trennten und ihre Mutter mit ihr und ihren beiden Brüdern wegzog, war diese sorglose Welt irgendwie durch dunkle Schatten getrübt worden. Die darauffolgenden Jahre, waren sehr prägend für sie gewesen und auf einmal stand sie ganz allein da, ohne Freunde, ohne wundervolle Abenteuer und ohne ihre Eltern schlussendlich, denn diese waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie kaum mehr Zeit für Lea hatten Irgendwie lebten sie sich mehr und mehr auseinander und Lea musste schneller erwachsen werden, als ihr lieb war. All die Trauer, all die Einsamkeit, all die Orientierungslosigkeit und Angst spiegelte sich in den Augen dieses Kindes, das langsam und unsicher neben ihr ging. Sie wollte es beschützen, wollte ihm Freude schenken, wollte für es da sein. Doch… als sie zur Eingangspforte kamen, fanden sie diese verschlossen vor.
„Oh nein!“ rief Lea verzweifelt „Das kann doch nun wirklich nicht wahr sein!“ Sie rüttelte an der Tür, doch diese bewegte sich keinen Zentimeter. Und… damit nicht genug… auf einmal erlosch das Licht ihres Stabes und tiefste Dunkelheit umfing sie. Lea erschauderte und sie spürte die kleinen Finger des Kindes, die sich vor Angst in ihre Hand krallten. „Was ist das?“ hörte sie seine zitternde, leise Stimme neben sich. „Ich weiss auch nicht!“ Sie suchte mit ihrer Hand instinktiv nach dem Tiger. Gottseidank, er war noch da! Sie klammerte sich an die mächtige Vordertatze des Tieres, so wie sich das Kind an sie klammerte. Der Tiger knurrte und machte sich zum Angriff bereit.
Es wurde dunkler und dunkler, kühler Wind zog auf und strich um sie herum, wie ein schlangengleiches Wesen. Es war eine finstere böse Präsenz, die Lea auf einmal fühlte. Ein Wesen aus reinem Schatten. Sie versuchte etwas zu erkennen, aber es war als bestünde die Umgebung nur noch aus lichtlosem Raum. Das einzige Licht, dass sie noch sah, war das Leuchten ihres Sternblumenmedaillons. Sie wollte sich bewegen, doch sie konnte es nicht. Sie war wie erstarrt und auch der Tiger wusste nicht, wie er diese dunkle Präsenz einordnen sollte. Sie war anders als das Monster, dass sie vorhin daran hatte hindern wollen, hier herein zu kommen. Noch böser, noch dunkler, noch unfassbarer. Leas Herz klopfte erneut bis zum Hals. Wie nur konnte sie diese Macht überwinden? Sie spürte wie das Kind an ihrer Hand zitterte wie Espenlaub und leise zu weinen begonnen hatte. „Es wird uns niemals hier rauslassen!“ schluchzte es. „Es hat mich bisher nicht rausgelassen und wird es auch diesmal nicht tun. Ich habe Angst Lea, so schreckliche Angst!“
Auch Lea fühlte wie das Grauen in ihre Knochen kroch, alles wurde kalt in ihr drin, das Blut schien auf einmal nur noch zähflüssig zu pulsieren, ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie musste sich übermenschlich anstrengen, nicht selbst zu zittern wie das Kind. Der Tiger war auch verunsichert, aber er hielt stand und stiess ab und zu ein Knurren aus. Leises hämisches Gelächter von hunderten von Stimmen drang an ihre Ohren und Lea nahm die ganze Kraft zusammen und fragte: „Was wollt ihr von uns? Verschwindet, wir wollen hier endlich raus!“ „Nein… nein… nein!“ erklang das Echo tausender Stimmen und kühle Schwaden streiften Lea und das Kind. „Nein!“ schrie der kleine Junge und begann noch lauter zu weinen „Lasst mich!“ Doch die dunkle Energie dachte nicht daran, sie machte sich vielmehr einen Spass daraus, Lea und ihre Begleiter, in noch mehr Angst und Schrecken zu versetzen. Auf einmal spürte Lea Zorn in sich aufsteigen. Wie konnten diese dunklen Schatten das arme Kind so quälen? Schützend stellte sie sich ganz nahe neben den Jungen und umfing ihn mit ihren Armen. „Es reicht!“ schrie sie bestimmt. „Ihr werdet das arme Kind nicht weiterhin so quälen! Ich habe genug von euch. Verschwindet, wer auch immer ihr seid! Ihr habt keine Macht über uns! Auf einmal kamen ihr die Worte des Tigers wieder in den Sinn: „Vertraue auf die Liebe, vertraue auf das Licht…!“ Sie schloss ihre Augen und besann sich darauf, wie Licht und Liebe ihr ganzes Sein durchfloss. Sie dachte an all ihre Lieben, an all das Schöne das es in ihrem Leben eigentlich gab und sie besann sich auf ihr Herz, dass doch so viel an Gutem und Schönem zu geben hatte.
Und… auf einmal begann der Raum um ihr Herz herum zu leuchten! Ein weissgoldener Wirbel entstand, dieser wurde heller und heller und es war als würde sich eine Pforte in ihrem Inneren öffnen, eine Pforte aus Licht und unbändiger Kraft. Ein Strahl entstand im Zentrum dieses Wirbels und aus diesem bildete sich ganz plötzlich ein wundervolles Wesen! Es sah aus wie ein Greif, mit mächtigen Schwingen, einem Adlerkopf und Löwenpranken. Eine gewaltige Präsenz ging von ihm aus. Er zog ein paar Kreise um Lea, das Kind und den Tiger; goldener Sternenstaub regnete auf sie hernieder und erhellte die Dunkelheit. Der Greif wandte seinen edlen Kopf, mit dem scharfen Schnabel der Frau zu und schien ihr ein wortloses Versprechen zu geben. Dann flog er auf die dunklen Schatten los, die die Tür blockierten und schlug mit seiner gewaltigen Vorderpranke gegen das Holz. Lea konnte es kaum glauben! Das Tor zersplitterte in tausend Stücke und die schrecklichen Schatten verflüchtigten sich, so wie sie gekommen waren! Die Frau atmete tief die frische Luft ein, die nun von draussen hereinströmte und sie sah das helle Sonnenlicht, welches sich seinen Weg zwischen den Felsen hindurch gebahnt hatte und nun alles erhellte...