Warum tat er sich das an?
Die Frage hatte er sich in den letzten Wochen – eher Monaten – mehrfach gestellt. Eine Antwort darauf konnte er bisher nicht finden. Jedenfalls nicht so einfach. Dafür müsste er sich nämlich die eine oder andere Sache eingestehen. Angefangen damit, was es überhaupt war, das er hier tat. Wobei die Frage im Grunde recht einfach zu beantworten war. Zumindest oberflächlich. War schließlich nicht zu übersehen, dass er hier faul auf einer Bank fläzte. Seufzend legte er den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Was ist los, Leon?«, fragte prompt jemand.
Ein ganz bestimmter Jemand, um genau zu sein. Und wenn man es noch genauer nahm, war dieser gewisse Jemand sogar der Grund dafür, warum er sich hier sein zartes Hinterteil platt saß. Zumindest einer der Gründe. Wobei ... nein, ehrlicherweise war der Kerl der einzige Grund.
»Mir ist langweilig, Lance«, gab er deshalb quengelnd zurück.
Der lachte jedoch nur und widmete seine Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen. Wie so oft. Leider. Wobei es vielleicht besser war. Schließlich würde Leon die Art von Aufmerksamkeit, die er eigentlich gern hätte, sowieso nicht von Lance bekommen. Und falls doch ... Na ja, ehrlicherweise wüsste er vermutlich nichts Sinnvolles damit anzufangen.
Leon öffnete ein Auge und versuchte, zu seinem Freund zu schielen. Aber der stand derart ungünstig vor ihm, dass das aus seiner aktuellen Haltung unmöglich war. Also hob Leon den Kopf wieder und sah aus halbgeöffneten Augen nun doch zu dem Jungen hinüber.
Lance: Sechzehn, groß, sportlich, Einserschüler, der Schwarm aller Mädchen ihrer Jahrgangsstufe. Und offensichtlich nicht nur von denen. Würde freilich niemand je erfahren.
Dieser Musterschüler ihrer elitären Lehranstalt stellte sich gerade in Position – stand damit im Profil vor Leon. Die Beine hüftbreit auseinander. Als Lance leicht in die Knie ging, drückte sich sein Po nach hinten raus. Der Rücken gerade, die Arme ebenso gestreckt vor ihm, setzte er den Golfschläger neben den Ball. Ein kurzer Blick zu seiner Linken, bevor er wieder nach unten sah. Während Lance die Arme langsam zu seiner Rechten hoch führte, fühlte sich das Hämmern in Leons Brust sofort viel stärker an. Und als Lance schließlich mit einem kräftigen Zug die Arme wieder senkte, hielt er selbst tatsächlich den Atem an.
Der Durchschwung sah für Leons laienhaften Augen perfekt aus. Noch bevor der Driver den Ball berührte, hatte er bereits freien Blick auf diesen wunderbar festen, hübschen Po, der sich drei Sekunden vorher noch so verführerisch nach hinten rausgestreckt hatte. Erst als der Schlägerkopf sein Blickfeld durchschnitt, konnte Leons starrer Blick sich wieder von der ansehnlichen Rückseite lösen.
Er musste ein leises Stöhnen unterdrücken. Leugnen war zwecklos. Genau das war der Grund, warum er hier war. Um dem unangemessenen Pulsieren in seinem Schritt keine Chance zu geben, schob Leon die Hände in die Hosentaschen und sank weiter in sich zusammen. Die blöde Bank war zu hart, aber beschweren würde er sich sicherlich nicht noch einmal. Schließlich müsste er hier nicht sitzen. Er könnte im Wohnheim hocken und etwas lesen – oder Hausaufgaben machen. Letzteres wäre definitiv notwendig. Aber auf diese Weise würde ihm dieser Anblick hier entgehen. Und das wäre schließlich ausgesprochen ... schade.
»Ach, verdammt«, murrte Lance und ließ den Golfschläger auf die Abschlagmatte sinken.
Da das eine Chance zu sein schien, sich von den dämlichen Gedanken abzulenken, ging Leon drauf ein: »Was ist los?«
»Ich hab versucht, den Slice zu korrigieren, aber jetzt ist’s direkt ein Fade geworden. So ein Mist.«
Die Tatsache, dass Leons Hirn es schaffte, die Begriffe in ein »der Ball ist vorher nach rechts abgedriftet, jetzt zieht er zu weit links rüber« übersetzte, hätte anderen Leuten vermutlich zu denken gegeben. Für ihn selbst war es inzwischen lediglich Kollateralschaden. Wenn man Lance öfter zum Training auf die Range des Golfplatzes begleitete, war das wohl nicht anders zu erwarten.
»Bist du sicher, dass du es nicht auch noch einmal probieren willst, Leon?«
Warum musste dieses verdammte Lächeln eigentlich immer so gut aussehen? Kein Wunder, dass die Mädels Lance reihenweise hinterherliefen – insofern sie nicht direkt sabbernd vor ihm zusammenbrachen. Der konnte sich seine Freundin aussuchen – was er dummerweise, genau deshalb, auch oft genug tat. Dass Leon leidend daneben stand und seinem besten – und nebenbei einzigen – Freund viel Glück wünschte, war wiederum sein eigenes Problem.
»Glaub nicht«, antwortete Leon, darum bemüht, die Stimme möglichst gelangweilt klingen zu lassen.
»Ach, komm schon. Wir haben ungefähr die gleiche Größe, du kannst meine Schläger nehmen«, versuchte Lance erneut, ihn zu motivieren.
Das dazugehörige Grinsen und die glänzenden stahlblauen Augen hatten Leon fast so weit. Warum musste der Kerl eigentlich so verdammt gut aussehen? Das war gemein. Weniger, weil Lance jedem anderen Jungen in ihrer Jahrgangsstufe – und vermutlich ein paar weiteren – damit den Rang bei den Mädels ablief. Nein, schlichtweg, weil es für Leon dadurch noch schwerer wurde, seine Augen von dem Kerl zu lösen.
»Nardo?«
Überrascht fuhr Leon zusammen und blinzelte, bis sein Blick endlich klar war. Die gerunzelte Stirn verhieß nichts Gutes. Den Spitznamen verwendete Lance selten. Im Grunde nur wenn er genervt war – oder Leons Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Als ob der Kerl die nicht ohnehin schon viel zu oft hatte.
»Ja?«, presste er irgendwann heraus.
»Willst du ein paar Bälle schlagen?«
Die Bälle, an denen Leons pubertierender Körper zunehmend Interesse zu finden schien, standen hier blöderweise nicht zur Debatte, also schob er die Hände tiefer in die Taschen und nuschelte: »Bin kein Mitglied, schon vergessen?«
Wer nicht zum Golfklub gehörte oder das Rangefee bezahlte, durfte hier nicht trainieren. Eine gute Ausrede. Immer wieder. Zumal er im Augenblick eh nicht hätte aufstehen wollen. Zumindest hatte Leon kein Interesse daran, die Hände aus den Hosentaschen zu ziehen.
Das blöde Pochen da unten würde sich hoffentlich bald legen – bevor es Lance doch noch auffiel. Für eine Sekunde fragte Leon sich, ob der Kerl in dem Fall weiterhin mit ihm befreundet sein würde. Aber den Gedanken schob er schnell beiseite. Natürlich wäre er das. Lance war kein Arschloch und hatte auch nie über ›so etwas‹ gelästert. Im Gegensatz zu einigen anderen im Wohnheim. Nein, der Kerl war so ziemlich zu jedem ›nett‹. Und das war vermutlich der einzige Grund, warum er überhaupt mit einem Außenseiter wie Leon befreundet war.
Als er vor gut zweieinhalb Jahren auf ihre Privatschule gekommen war, hatte Leon keine Freunde gehabt. Im Übrigen auch keine irgendwo zurückgelassen. Nein, er war zeit seines Lebens ein Einzelgänger gewesen. Hatte ihn aber selten gestört. Seine generelle Abneigung – um nicht zu sagen Angst – vor anderen Menschen störte hingegen viele in seinem Umfeld. Also hatten Leons Eltern beschlossen, die Privatschule mit Internat in der Nachbargemeinde würde ihm helfen. Schließlich konnte man sich im Wohnheim nur bedingt aus dem Weg gehen.
Wobei Leon auch das problemlos geschafft hatte – für ungefähr vier Monate. Bis zu dem Zeitpunkt, als Lance in der Zimmertür stand, ihn mit diesem unwiderstehlichen Lächeln angesehen und gefragt hatte, ob Leon schon einen Partner für die Projektarbeit in Bio hatte. Hatte er natürlich nicht gehabt. Woher auch? Er hatte es in vier Monaten nicht einmal geschafft, die Namen seiner Mitschüler zu lernen.
Weil es ihn nicht interessierte.
Bis heute fragte Leon sich manchmal, warum Lance überhaupt zu ihm gekommen war. Jeder in der verdammten Klasse hätte sich darum gerissen, mit ihm diese Arbeit zu machen. Die Eins war garantiert. So genau wollte Leon die Antwort auf die Frage aber lieber nicht wissen. Immerhin waren sie in der Folge inzwischen knapp über zwei Jahre befreundet. Und im Grunde war das ja genug. Nach dem Abitur würden sie ohnehin getrennte Wege gehen.
Leon würde nicht riskieren, seinen besten Freund zu verlieren. Selbst wenn der sich nicht beschämt oder gar angewidert von ihm abwenden würde, wäre irgendwas zwischen ihnen garantiert anders. Bestimmt. Wobei? Ganz sicher war Leon sich da nicht. Mal wieder. In letzter Zeit gab es viele Dinge, über die er sich nicht mehr sicher war. Oder zumindest gewisse Hoffnungen, die Leon hegte und nicht vollständig vertreiben konnte. Fing aber allmählich an zu nerven. Irgendwie.
Sein Blick hing vermutlich schon etwas zu lange an diesem hübschen, noch nicht wirklich erwachsenen Gesicht. Obwohl es definitiv nicht mehr so kindlich aussah wie sein eigenes. Dabei war Lance ziemlich genau drei Monate jünger als Leon. Wenn man sie beide ansah, würden die meisten vermutlich nur den kräftigen, groß gewachsenen Sportler und den schlaksigen, mit Brille ausgestatteten Nerd sehen. In Wirklichkeit hatte Leon von ihnen beiden die schlechteren Noten. Was allerdings vor allem daran lag, dass er selten Hausaufgaben machte und chronisch keine Lust auf Unterricht hatte.
Warum war das Leben eigentlich jetzt schon so verdammt kompliziert? Reichte es nicht, wenn er sich irgendwann in der Zukunft, als Erwachsener, mit diesem ganzen Gefühlsmist rumschlagen musste?
Lance zuckte, nachdem keine weitere Antwort kam, mit den Schultern und legte einen neuen Ball auf das Tee der Abschlagmatte in Position. Prompt wanderte Leons Blick zu dem kleinen Plastikkorb, in dem nur noch eine Handvoll weitere Bälle lagen. Die hatte Lance vermutlich in den nächsten fünf bis zehn Minuten durch.
»Soll ich dir noch welche holen?«, fragte Leon, während sein Freund die Griffhaltung prüfte.
»Nah, lass mal. Ich glaube, das reicht für heute dann.«
Schade. Leon wollte noch nicht zurück ins Wohnheim – zu den ganzen dämlichen Idioten, die nur Sport, Weiber oder Lernen im Kopf hatten. Seine Augen wanderten an Lances Gestalt entlang. Der Kerl war im Grunde genauso. Warum störte es Leon bei ihm nicht? Vielleicht weil Lance eben trotzdem Zeit mit ihm verbrachte. Obwohl Leon vermutlich die schlechteste Gesellschaft der Welt darstellte. Meistens zumindest. Na ja, er wollte allerdings auch ungern dabei erwischt werden, wie er seinem besten Freund was abstarrte.
Apropos. Sie waren schon länger nicht mehr beim Schwimmen gewesen. Neben Golf, neuerdings eine von Leons Lieblingssportarten. Zumindest wenn er Lance dabei zusehen konnte, wie der sie ausübte. Nicht, dass Leon selbst an irgendeinem Sport sonderlich viel Interesse zeigen würde.
Um die Konzentration seines Freundes nicht weiter zu stören, hielt Leon vorerst die Klappe und bewunderte stattdessen die elegante Drehung, nach der sich ihm wiederum dieser hübsche, nette Po entgegenstreckte. Irgendwann, wenn sie kurz vor dem Abschluss standen, würde Leon die Hände da drauflegen. Einfach damit er nicht sein Leben lang bereute, es nicht getan zu haben.
Na gut, vielleicht lieber nach dem Abschluss. Beim Abiball oder so. Wobei Lance da vermutlich mit irgendeinem Mädel aufschlagen würde. Ein bedauerndes Lächeln zog an Leons Mundwinkel. Die Frage, warum er nicht als Mädchen auf die Welt gekommen war, hatte sich ihm komischerweise noch nie gestellt. Vielleicht weil er keins sein wollte. Er war gern ein Junge. Nur manchmal fand Leon es doof, dass er sich nicht einfach so wie jeder angeblich ›normale‹ Jugendliche in ein Mädchen oder wenigstens irgendeinen Promi oder wen auch immer vergucken konnte. Nein, es musste natürlich sein bester Freund sein. Sein einziger Freund.
Warum ausgerechnet Lance, du dummes Herz?
Das Seufzen konnte Leon erneut zurückhalten und sein Schritt schien auch endlich zur Vernunft gekommen zu sein. Immerhin etwas. Also zog er die linke Hand aus der Hosentasche. Mit zum Vorschein kam dabei ein noch verpackter Lutscher. Den hatte Lance ihm gestern gegeben. Er bekam ständig solche Sachen von irgendwelchen Mädchen. Dabei mochte der Kerl so einen Süßkram überhaupt nicht.
Die Plastikfolie raschelte, als Leon den Lutscher auspackte. Vermutlich störte es Lance bei der Konzentration, er sagte aber nichts. Als der Lolli im Mund gelandet war, schloss Leon wieder die Augen und lehnte den Kopf erneut in den Nacken. Die warme Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Es war angenehm. Auch wenn er Lance so wiederum nicht sehen konnte. Hören reichte ohnehin. Schließlich konnte er die Bilder leicht genug aus den Erinnerungen der letzten Monate abrufen. Noch etwas, das er Lance ganz sicher nicht erzählen würde.
Wusch und klong – der nächste Schlag.
Leon schwieg weiter, lauschte den Geräuschen, während er versuchte, sich davon abzulenken, dass nur noch wenige Bälle im Korb verblieben. Wobei sie so oder so in absehbarer Zeit zurück ins Wohnheim fahren würden. Dort konnte Leon nicht schauen. Nicht wie hier. Die anderen Jungen würden etwas merken. Was ihn selbst, in der Folge, erst recht zum Außenseiter machen würde. Und trotzdem saß er hier und schaute nicht. Ziemlich dämlich. Aber so war er halt.
Ein Idiot. Ein hoffnungslos verliebter Trottel.
»Danke«, flüsterte Lances Stimme mit einem Mal neben ihm.
Leon schaffte es, daraufhin nicht zusammenzuzucken. Stattdessen drehte er betont langsam den Kopf zur Seite und zog den Lutscher aus dem Mund. »Wofür?«
Lance grinste und deutete auf die große Wiese der Range, während er den Handschuh von der linken Hand zog. »Na, dass du mit mir herkommst. Obwohl du gar nicht Golfspielen willst.«
»Kein Ding«, murmelte Leon seinerseits.
Der Lutscher wanderte wieder zurück in den Mund und seine Augen von dem zu attraktiven Gesicht weg. Warum schlug sein Herz eigentlich immer in den unpassendsten Augenblicken schneller? So wie jetzt. Nur weil der dumme Casanova neben ihm saß? Wahrscheinlich. Dämlich genug, sich dieser Qual jeden Tag aufs Neue auszusetzen, war Leon ja offenbar. Vielleicht eine masochistische Ader.
»Wenn deine Mutter uns nicht fahren würde, könnte ich nicht so oft hierher. Mein Alter würde mir die Haut abziehen, sollte er jemals erfahren, dass ich statt zu lernen lieber auf der Range stehe und Bälle schlage.«
Leon drehte erneut den Kopf und grinste um den Stiel des Lutschers herum. »Wenn du erst einmal das Masters gewonnen hast, hält er die Klappe.«
Da musste auch Lance lachen und schüttelte den Kopf. »Ach, ich glaube, zum Profi fehlt mir der Ehrgeiz. Und wahrscheinlich das Talent.«
»Für mich sieht’s gut aus«, murmelte Leon. Vorsichtshalber wandte er sich aber wieder ab und starrte erneut auf den Rasen.
»Wann kommt deine Mutter zum Abholen?«
Mit einem schmatzenden Geräusch zog Leon den Lutscher aus dem Mund und prüfte danach die Uhrzeit auf seiner Armbanduhr. »Fünfzehn Minuten, wenn sie pünktlich ist. Falls Du doch länger bleiben willst, kann ich jetzt noch ins Büro gehen und sie anrufen, damit sie später kommt.«
»Nah, passt scho.«
Leon lachte leise. »Pass auf dein Hochdeutsch auf, sonst jammert der Weigel wieder in Deutsch morgen.«
»Hm«, brummte Lance und sank nun seinerseits weiter auf der Bank zusammen.
Sie schwiegen, was Leon nicht wirklich störte. Denn hier zu sitzen war im Grunde genug. Zumindest alles, was er sich je erhoffen würde. Träume sind für Idioten. So einer wollte er nicht sein.
»Sag mal, Nardo ... Hast du eigentlich eine Freundin?«
Überrascht drehte Leon den Kopf und sah zu Lance hinüber. Warum stellte der auf einmal solche Fragen? Hatte er etwa eine Ahnung? Prompt beschleunigte sich Leons Herzschlag. Allerdings nicht auf die gute Art und Weise.
»Wie kommst’n da drauf jetzt?«, fragte er stattdessen zurück – darum bemüht, sich die eigene Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
Lance jedoch zuckte nur mit den Schultern. »Weiß nicht. Fiel mir nur grad auf, dass ich dich noch nie mit einem der Mädels gesehen hab.«
Das Schlucken konnte Leon ganz gut damit verstecken, dass er erneut den Lutscher in den Mund steckte. Dieses ungute, stechende Gefühl in seinem Bauch war etwas anderes. Warum musste Lance mit so einem Thema anfangen? War ja nicht so, als ob sie sich über dessen Eroberungen sonderlich häufig unterhielten. Vor allem, da Leon absolut null Interesse daran hatte, etwas darüber zu hören, was Lance mit irgendwelchen Mädchen trieb. Das Wissen, dass der Kerl, im Gegensatz zu ihm, keine Jungfrau mehr war, reichte Leon. Im Grunde war das schon zu viel Information, wenn man es genau nahm.
»Und?«, fragte Lance erneut nach.
»Nah«, gab Leon betont lässig zu. Schließlich dürfte er damit nicht der Einzige im Wohnheim sein. »Ist mir zu anstrengend.« Das sollte hoffentlich als Erklärung ausreichen.
»Ah«, kam lediglich von seiner rechten Seite.
Sie schwiegen sich erneut an, während die Zeit zur Abwechslung mal viel zu langsam vorwärts zu schleichen schien. Irgendwann hielt diesmal Leon es nicht mehr aus. Weder das Schweigen, noch den Druck in seiner Brust. Also gab er nach.
»Was ist mir dir?«
»Hab mit Melanie Schluss gemacht.«
Einen Moment überlegte Leon, aber wie üblich hatte er kein Bild vor Augen. Trotzdem war er sich ziemlich sicher, dass besagtes Mädchen eine Klasse über ihnen war. Noch so etwas, was bei Lance üblich zu sein schien. Er interessierte sich stets für die älteren Jahrgänge. Wobei keine seiner sogenannten Beziehungen wirklich lange zu halten schien. Warum eigentlich nicht?
Lance war schließlich ein recht umgänglicher Kerl. Immerhin hielt er es mit jemandem wie Leon schon eine ganze Weile aus. Wobei das Label ›bester Freund‹ wohl nur von Leons Seite aus an ihrer Beziehung klebte. Als was Lance ihn sah, war ihm hingegen weiterhin ein Rätsel. Manche Dinge blieben aber wohl lieber im Verborgenen.
Eigentlich wollte Leon keine Antwort auf die nächste Frage, ihm fiel allerdings nichts anderes ein und das wieder einsetzende Schweigen machte ihre gemeinsame Anwesenheit hier nur umso peinlicher.
»Und jetzt? Wer steht als Nächstes auf deiner Eroberungsliste?«, nuschelte Leon um den Stiel des Lutschers herum.
»Weiß nicht.« Wieder dieses blöde Schweigen, aber diesmal fiel Leon nichts ein, um es zu brechen. Musste er allerdings nicht, denn irgendwann fuhr Lance fort: »Vielleicht probiere ich mal was Neues.«
Das leise, schnaubende Lachen konnte Leon sich nicht verkneifen. »Ach ja?«
Lance zuckte mit den Schultern und griff über seinen Schoß hinweg zu Leons linkem Arm. Nach einem Blick auf die Armbanduhr wussten sie beide, dass noch nicht einmal fünf Minuten vergangen waren, seit Lance ihn das letzte Mal nach der Uhrzeit gefragt hatte. Der stöhnte verhalten und lehnte sich wieder zurück. Diesmal legte er dabei allerdings beide Arme auf die Rücklehne der Bank.
Ein Kribbeln schoss Leon den Rücken entlang, als er die Wärme eines nackten Unterarmes knapp über dem Kragen seines eigenen Poloshirts spürte. Betont langsam, damit es nicht auffiel, senkte er den Kopf wieder nach vorn. Um der Versuchung zu entgehen, seine Hände wie ein Volltrottel im Schoß zu kneten, drehte er ein paar Mal an dem Lutscher im Mund. Das kam ihm allerdings recht schnell genauso dämlich vor. Also ließ er auch das wieder, stopfte stattdessen die Hände erneut in die Hosentaschen. Dabei drehte er das Handgelenk und sah ein weiteres Mal auf die Uhr. Keine Minute seit dem letzten Mal.
Warum verging die Zeit noch immer derartig langsam? So gern Leon mit seinem Freund zusammen war; wenn der direkt neben ihm hockte, war das irgendwie unangenehm. Peinlich. Am Ende würde Lance Leons dämliche Schwärmerei bemerken. Er sollte etwas sagen, die Stille unterbrechen. Immerhin waren sie Freunde.
»Hast du Lust, nachher bei mir vorbei zu kommen?«, fragte Leon zögerlich. »Meine große Schwester hat mir ein paar neue Bücher geschickt. Vielleicht ist eins bei, das du magst.«
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bevor Lance endlich antwortete: »Klar, warum nicht?«
Wieder strich etwas über die nackte Haut in Leons Nacken. Diesmal war er sich aber nicht sicher, was das war. Sein dummes Herz konnte allerdings nicht anders, als sich hoffnungsvoll vorzustellen, es wäre mehr als nur ein Zufall. Er wischte sich die zu langen Haare aus der Stirn und senkte weiter den Kopf. Auf solche Zufälle konnte Leon verzichten. Sie brachten am Ende nur Probleme. Davon hatte er, was Lance anging, ja schon genug.
Plötzlich war da ein Schmerz in Leons Nacken, als etwas an seinen Haaren zog. Er keuchte überrascht auf, wehrte sich aber nicht, als die gleiche Hand, die ihn offensichtlich hielt, seinen Kopf herumdrehte. Eine weitere kam herauf und zog ihm den Lutscher aus dem Mund. Bevor Leon etwas sagen oder auch nur ansatzweise reagieren konnte, pressten sich zwei Lippen auf die seinen.
Schlagartig war sein Puls bei hundertachtzig, die Aktivität im Hirn aber auf den Nullpunkt abgesackt. Etwas Feuchtes und Weiches strich über seine Unterlippe. Wie automatisch öffnete er den Mund ein kleines Stück. Als das komische, feuchte Etwas gegen seine Zunge stieß, fühlte es sich gar nicht mehr so weich an – und Leon war sich nicht sicher, ob er das Gefühl überhaupt gut fand. Irgendwo in seinem Inneren war ihm klar, worum es sich handelte. Dummerweise war Leon aber nicht sicher, ob er den Gedanken zu Ende führen sollte. Das vielleicht auch gar nicht wollte. Denn wenn er zu viel darüber nachdachte, würden sich weitere Fragen ergeben. Und Leon war sich definitiv nicht sicher, ob er die Antwort darauf wissen wollte.
Die Berührung verschwand. Was blieb, war ein eigentlich warmer Atem, der durch die Feuchtigkeit auf seinen Lippen geradezu unerträglich kühl wirkte.
»Entschuldige«, flüsterte es vor Leon, dann war auch der schmerzhafte Zug im Nacken bereits verschwunden.
Als er die Augen öffnete, war Lance aufgestanden. Mit dem Trainingsbag über der Schulter schlenderte er, gelassen wie immer, in Richtung Parkplatz. Unfähig, sich zu bewegen, starrte Leon ihm hinterher. War das ...? Hatte Lance ihn etwa gerade ...? Mit Zunge?!
Ein Keuchen entrann seiner Brust, während Leons Fingerspitzen zitternd in Richtung Mund wanderten. Er konnte sie noch immer spüren. Nicht die eigenen verdammten Finger, sondern diese Lippen. Die Zunge seines besten Freundes. Der Kerl, den er seit Monaten heimlich anschmachtete. Leons Blick wanderte zurück zu dem sich stetig weiter entfernenden Rücken. Hastig sprang er auf und stürzte diesem hinterher.
»Was ...?«, setzte er an, als er Lance fast eingeholt hatte. Aber Leons Stimme versagte.
»Wenn ich nachher doch nicht vorbeikommen soll, sag’s gleich«, gab Lance ungewohnt verhalten zurück. Sonst nahm der Kerl nie ein Blatt vor den Mund.
Wo vor wenigen Sekunden in Leons Kopf glückliche Leere geherrscht hatte, schien mit einem Mal das reinste Chaos zu explodieren. Die Gedanken überschlugen sich, versuchten irgendwo einen Halt zu finden, scheiterten jedoch kläglich. Stattdessen regte sich etwas in Leons Brust, im Bauch und ... Nun ja, alle anderen Bereiche seines Körpers hielten sich da lieber vorsorglich heraus. Immerhin würde seine Mutter jeden Moment hier auftauchen, um sie abzuholen und zum Wohnheim zurückzufahren. Tatsächlich konnte er den blauen BMW schon den Weg entlangkommen sehen. Ihm würden höchstens zwei, drei Minuten bleiben, bis sie da war.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte er also mit zitternder Stimme.
Lance stockte und atmete einmal tief durch, bevor er sich schließlich umdrehte. Erst war sich Leon nicht sicher, was gleich kommen würde, aber plötzlich war da ein geradezu scheues Lächeln, bevor Lance antwortete:
»Hatte Lust auf was Süßes.«
ENDE