Ich sitze am Kaffeetisch und esse einen Pfannkuchen. Da ich den ganzen Tag über noch nichts anderes gegessen habe – sieht man einmal von dem Apfel und dem Käsebrötchen von heute Morgen ab – wird es wohl nicht nur bei dem Einen bleiben. Der Pfannkuchen ist sogar, wenn mich nicht alles täuscht, frisch aus der Pfanne! Jedenfalls ist er noch leicht warm und zeigt sich mir von seiner schönsten Seite (was nicht schwer ist, da er von allen Seiten gleich aussieht). Vor mir liegt die Tüte, in der die anderen fünf zuckerüberzogenen Backwerke des Momentes harren, in dem ich gedenke, sie zu kosten.
Da ich nichts Besseres zu tun habe, lese ich die Aufschrift der braunen Papiertüte. Über dem Namen der Bäckerei steht: „Mit Liebe gebacken“.
Sofort stellt sich ein romantisches Bild in meinem Kopf ein: Ein junges niedliches Brötchen, wie es sich mit einem blondgelockten Bäckerlehrling bei Kerzenschein zu einem Glas Wein trifft. Die Unterhaltung ist amüsant und kurzweilig. Ich stelle mir vor, am Nachbartisch zu sitzen und den Beiden zu lauschen.
Der Bäckerlehrling erzählt von seinen Hobbies: Aufstehen um Mitternacht und Teigkneten bis zum frühen Morgen.
Das Brötchen hört interessiert zu und beginnt dann von seinen Eltern zu sprechen: Sein Vater sei Mehlsack und seine Mutter sei Butter, erklärt es. Jedoch wolle es niemals so werden, wie seine Eltern. Sein Vater sei ihm immer zu eingestaubt vorgekommen und seine Mutter hätte sich immer viel zu schnell erweichen lassen, sagt das Brötchen. Damit sei nun Schluss. Das Brötchen wolle alles anders machen; es sei sich sicher, das Leben auch auf andere Art und Weise gebacken zu kriegen.
Nach längerem Gespräch sind die Weingläser leer und die Kerze ist heruntergebrannt. Der Bäckerlehrling und das Brötchen verabschieden sich und verabreden sich wieder auf den nächsten Abend. Glücklich gehen die Beiden nach Hause …
In der Zwischenzeit habe ich den ersten Pfannkuchen gegessen und ziehe mit meinen vom Zucker verklebten Händen den Zweiten aus der Tüte. Während ich hineinbeiße, spinne ich meine Gedanken fort …
Die Beziehung zwischen Bäckerlehrling und Brötchen entwickelt sich wunderbar. Die Beiden sind kaum noch voneinander zu trennen. Egal, wohin der Bäckerlehrling geht – ob in die Disco oder in den Buchladen – überall hin nimmt er sein geliebtes Brötchen mit. Gemeinsam waren sie schon im Zoo, im Theater, im Park und in der Schwimmhalle. Sogar die Enten hat der Bäckerlehrling bereits mit dem Brötchen gefüttert!
So kommt es denn, wie es kommen muss: die Beiden heiraten!
Während der Hochzeitsnacht mache ich den dritten Pfannkuchen verzehrbereit. Ich überlege kurz, ob ich nicht doch hätte zwei mehr kaufen sollen. Schließlich habe ich heute ja noch wirklich nicht viel gegessen!
Als ich in den Pfannkuchen hineinbeißen will, höre ich den Bäckerlehrling schimpfen. Er ist gerade in einen ernsthaften Streit mit einem früheren Schulfreund verwickelt. Dieser hat das Brötchen im Bus eiskalt übersehen und sich einfach mit Schwung darauf gesetzt. Es ist nicht das erste Mal, dass etwas Derartiges passiert. Auch in anderen Belangen entwickelt sich die Ehe zwischen Bäckerlehrling und Brötchen nicht zum Besten. Die Kinder der beiden sind alles Schusterjungen und immer öfter verkrümelt sich einer der beiden Ehepartner in die Einsamkeit. Nachdem ich den dritten Pfannkuchen beinahe aufgegessen habe, sehe ich ein, dass wahre Liebe zwischen Backkünstlern und Backwaren nicht lange bestehen kann.
Ich will den Brötchentütenaufdruck bereits als schlechte Werbung abtun, als mir in den Sinn kommt, der Hinweis, das Backwerk sei mit Liebe gebacken, könne auch einen anderen Hintergrund haben. Während ich den Geschmack des vierten Pfannkuchens teste, nimmt eine Idee immer festere Gestalten an, deren Möglichkeit ich zuvor nie anzunehmen wagte.
Was, wenn Backstuben ein Hort des sexuellen Missbrauchs von Backwaren sind? Was, wenn die fehlgeleitete Liebe von Bäckerlehrlingen zu Brötchen der einzige Grund ist, warum unsereins jeden Tag frische Croissants und Brotsorten erwerben kann?
So unwahrscheinlich es im ersten Moment auch scheinen mag, sprechen in Wahrheit doch alle Indizien dafür!
Nehmen wir zum Beispiel den Backhandwerker. Den Hauptteil der Arbeit, für die er bezahlt wird, macht das Teigkneten aus. Was aber, wenn der Teig gar nicht geknetet werden will? Oft hört man ja einen Bäcker erzählen, wie schwer das Teigkneten sei. Doch was, wenn dies nur daran liegt, dass sich der Teig gegen den Körperkontakt mit dem Bäcker sträubt? Was, wenn er sich wehrt? Der Bäcker wird diese Gegenwehr nicht als Gegenwehr erkennen. Er wird denken, es liege in der Natur des Teiges, sich schwer kneten zu lassen. Dank der jahrelangen Übung wird sich der Backhandwerker durch die Gegenwehr des Teiges sogar dazu verleitet sehen, ihn noch stärker zu rollen und zu kneten!
Ich bin mir sicher, dass sich darüber noch nie jemand Gedanken gemacht hat. Es wird also dringend notwendig, das innere Wesen von Backwaren zu erkunden. Dass sie Gefühle haben, dürfte jedem sofort klar sein, schließlich lassen sie es einen sofort spüren, wenn sie sich vernachlässigt fühlen. Sie bilden dann Eigenschaften heraus, die sie als altbacken kennzeichnen. Wir müssen mit großer Sicherheit annehmen, dass sich das Zusammenleben von Mensch und Backware erheblich verbessern wird, wenn wir diese Wesen tiefenpsychologisch untersuchen.
Beginnen wir unsere Betrachtungen mit den Torten. Sie sind sehr vielschichtig und müssen oft zart angefasst werden, da sie sonst sowohl psychisch als auch physisch zusammenbrechen können. Einzelne Tortenstücken lassen sich oft nur schwer aus dem Familienkreis entnehmen, denn der Zusammenhalt ist – vor allem bei Eistorten – sehr stark. Isoliert neigen Tortenstücken dazu, auseinander zu fallen. Die Sterberate von Torten ist vor allem bei Geburtstagsfeiern und Tortenschlachten sehr groß. Einziger Vorteil am Tortendasein ist, dass Torten nur selten sexuell belästigt werden.
Anders sieht das bei dem Milchzopf aus. Er wird bereits in der Entstehungsphase gewunden und gezupft. Dabei wird er am ganzen Körper hinreichend berührt, sodass davon ausgegangen werden muss, dass er bald den Aufstand proben wird und sich derartige Zumutungen nicht mehr lange gefallen lassen wird.
An dieser Stelle würde ich nun gerne ein paar Worte zum Vollkornbrot verlieren, allerdings ahne ich, dass die Philosophie mal wieder unangenehme Nebenwirkungen hervorruft: Das Denken fordert meine Energiereserven heraus. Eilig stopfe ich mir den fünften Pfannkuchen in den Mund. Dabei bin ich wohl zu eifrig, denn prompt bekleckere ich mich mit Marmelade. Dies wirft die Frage auf, wie die Marmelade eigentlich in den Pfannkuchen kommt. Noch während ich mir diese Frage stelle, überkommt mich das ungute Gefühl es lieber nicht wissen zu wollen. Doch zu spät! Schon habe ich ein Bild eines Bäckergesellen vor mir, der sich ein Marmeladenglas nach dem anderen einfüllt …
Um dann was genau damit zu tun?
Leider reicht meine Vorstellungskraft nicht aus, um dahinterzukommen, was dann passiert. Ich habe mal gehört, die Marmelade wird in den Pfannkuchen eingespritzt, aber wie ein pfannkuchenvernarrter Bäckergeselle die Marmelade aus den zweiundzwanzig Marmeladegläsern, die er zuvor alle selbst leergegessen hat, nun noch in die Pfannkuchen hineinkriegen soll, ist mir dennoch ein Rätsel. Auf jeden Fall ist Liebe im Spiel, wie mir der Brottütenaufdruck verrät. Alles Weitere bleibt verborgen in den Tiefen der Backstuben.
Wieder einmal ärgere ich mich über mich selbst. Da will man einmal sechs Pfannkuchen am Stück genießen und dann kommt man wieder auf die abwegigsten Gedanken!
Ich nehme mir vor, den letzten Pfannkuchen zu essen, ohne einen einzigen Gedanken mehr daran zu verschwenden, was die Bäckerei wohl mit „Mit Liebe gebacken“ meinte.
Bis zur Hälfte des Pfannkuchens gelingt es mir sehr gut, mich allein auf den vorzüglichen Geschmack dieses geliebten Backwerks zu konzentrieren. Doch kaum bin ich bei der Marmelade angelangt, beginnt das Gedankenkarussell, sich erneut zu drehen.
Meine neue Frage: Was müssen das wohl für Orgien sein, die dazu führen, dass Tausende Tüten „Russisch Brot“ mit „viel Liebe“ gezeugt werden? Ob es davon wohl auch Live-Aufzeichnungen gibt?
Und: Sind sechs Pfannkuchen am Stück gesund?
Ich glaube, mir wird schlecht …