Seit jeher hatte er die Höhe gesucht.
So lange er zurückdenken konnte, hatte sie ihn fasziniert. Dabei hatte er ewig nicht den Wunsch verspürt, sich tatsächlich in die Tiefe zu stürzen. Bis heute nicht, um diesem Leben zu entgehen. Es war stets die Frage gewesen, wie sich der Fall anfühlen würde. Würde sein Herz rasen vor Angst? Oder eher vor Aufregung? Angestachelt vom Adrenalin, das durch den Körper pumpte?
Mit sieben hatte er zum ersten Mal auf dem Fenstersims seines Kinderzimmers gesessen und sich gefragt, was passieren würde, wenn er sich dieses fehlende, winzige Stück vorbeugte.
Elfter Stock. Das wären entsprechend gute dreißig Meter gewesen. Vielleicht hätte es sich tatsächlich angefühlt wie der Flug in die Freiheit, den er sich schon damals erhofft hatte. Aber gegen diese Hoffnung stand die Realität. Und die sagte, dass es lediglich ein Sturz wäre. Ein Fall, der nicht in die Freiheit, sondern zum unweigerlichen Ende führte.
Dieses Leben zu beenden, war aber eben nie sein Ziel. Wenn er ehrlich war, hatte er zumindest damals nicht einmal darüber nachgedacht. Für Kinder in diesem Alter existierte die Frage nicht. Sie sind deutlich pragmatischer, was Leben und Tod angeht. Entweder man ist das eine – oder das andere. Dass manche ein Dasein irgendwo dazwischen führen, verstehen sie noch nicht. Damals war das deshalb keine Entscheidung, die er bewusst hätte treffen können.
Sie wurde getroffen. Von anderen. Stärkeren. Und die schienen entschieden zu haben, dass er es nicht wert war, zu sterben.
Trotzdem hatte er aufgehört, am Fenster zu sitzen. Die irgendwann von den Nachbarn gerufene Polizei, die seinen Vater aus dem Bett geklingelt hatte, war offenkundig ein Grund gewesen. Vor allem aber die Tracht Prügel, die er genau dafür kassiert hatte, dass die Bullen vor der Tür standen.
Die Faszination blieb dennoch – ließ sich zwar nicht leugnen, aber verstecken. Anstatt an Fenstern zu sitzen, hatte er zunächst versucht, sich andere Höhen zu suchen. Klettergerüste, Spielhäuser, Schaukeln. Die Spielplätze waren voll davon. Aber sie waren alle zu niedrig. Das Kribbeln im Bauch fehlte, wenn er am Rand saß oder bis zum höchsten Punkt schaukelte.
Es war nicht hoch genug. Er konnte springen, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Kein Kribbeln. Keine Angst. Kein Adrenalin.
Selbst die oberste Querstange an der Feuerwehrstange auf dem Spielplatz war gerade einmal etwas mehr als drei Meter über dem Boden. Wenn er dort hing, war das Kribbeln im Bauch kaum spürbar. Ließ er sich fallen, spürte er den Aufprall seiner Füße zwar durch den ganzen Körper hindurch, während sich die Wirbelsäule zusammenstauchte – aber der Flug war dennoch zu kurz.
Bäume waren besser – manche zumindest. Die, von denen er den Sprung nicht mehr wagte.
Als er neun war, zog sein etwas über ein Jahr älterer Halbbruder bei ihnen ein. Ein Verbündeter. Dachte er jedenfalls – vielleicht auch nur eine Hoffnung. So oder so: vergebens. Statt zu zweit Seite an Seite ihrem Vater gegenüberzustehen, stand er weiterhin allein. Allerdings inzwischen vor seinem Halbbruder. Erfahrung ist keine Sache des Alters – Gewohnheit jedoch eine Frage der Zeit.
Genau wie die Suche nach der Freiheit hinter der Höhe etwas wurde, dem er beinahe täglich hinterherlief. Und dennoch nie erreichte. Vielleicht war es auch nur der Glauben, den er stetig seltener fand. Daran, dass nach dem Flug kein Ende kommen würde, sondern eine Veränderung – zum Besseren.
Irgendwann waren die Bäume nicht mehr hoch genug. Waren zur gleichen Gewohnheit geworden, wie alles andere. Schmerz war leicht zu ertragen – und noch einfacher auszuteilen. Erst recht, wenn einen keiner sah oder beachtete – wenn sich niemand interessierte.
In den Jahren waren die nüchternen Momente des Alten seltener geworden – die Schläge schwächer. Vielleicht spürte er sie auch schlichtweg nicht mehr. Die Wut seines Halbbruders war etwas anderes. Der Verrat, als der irgendwann nicht hinter, sondern ihm gegenüberstand, war schmerzhafter als die Verletzungen, die daraus resultierten. Aber die waren entgegen den früheren nicht mehr zu übersehen.
Plötzlich interessierte es doch jemanden. Und das war neu. Anders. Nervig.
Denn wo seine Suche früher stets ein Einzelkampf und somit an sich ein Stück an Freiheit war, stand er plötzlich unter permanenter Beobachtung. Worte, Augen, Hände, die zur Abwechslung nicht frustriert zuschlugen, sondern helfen wollten. Es passte alles nicht, engte ein, war ein weiteres Gefängnis. Eines, das irgendwann schöner aussah, roch und weniger schmerzhaft war – und dennoch den Drang nach Freiheit umso mehr in ihm aufstachelte.
Ein Wunsch, den er mit einem neuen Weggefährten teilte – keinem Vater, Bruder oder Freund. Wenn er ihm hätte eine Bezeichnung geben sollen, wäre es wohl ‚Feind‘ gewesen. Einer, der auf dem Schulhof genauso austeilte wie er selbst. Nicht selten waren sie in den Monaten zuvor direkt aneinandergeraten. Und jetzt saßen sie plötzlich in der gleichen Falle. Nicht wortwörtlich, aber übertragen. Jeder in einem goldenen Käfig, der deutlich schöner war als sein bisheriges Zuhause. Und trotzdem so viel weniger Freiheiten zuließ.
Bis sie irgendwann feststellten, dass sie beide das Gleiche suchten. Dasselbe Kribbeln. Antworten, auf die gleiche, sich seit Jahren wiederholende Frage: Kommt mit dem Flug das Gefühl der Freiheit? Eine Erfahrung, die – wie sich herausstellte – sein neuer Weggefährte bereits gemacht hatte.
Der Moment, in dem er selbst zum ersten Mal auf dem Sprungturm stand, war Erregung pur. Zu dem Zeitpunkt hatte er keine Ahnung, wie sich ein Orgasmus wirklich anfühlte. Aber rückblickend konnte er sagen, dass es einen vergleichbaren Sturm in ihm ausgelöst hatte. Da war ein Hämmern in seiner Brust, das er noch nie gespürt hatte. Das Kribbeln, das diesmal nicht nur im Bauch blieb, sondern von dort nach unten wanderte. Die Beine entlang, nur um bei den Füßen kehrtzumachen und den gleichen Weg zurückzunehmen. Bis es schließlich durch den ganzen Körper vibrierte.
Dieser unbeschreibliche Zustand zwischen der Millisekunde, in der man oben steht und dem Moment, in dem man genau weiß, dass es unmöglich ist, sich noch abzufangen. Er schloss die Augen und ließ einfach los. Alles. Jeden. Sich selbst, den Schmerz, die Familie, was fehlte und was da war.
In diesem Moment hatte nichts davon eine Bedeutung. Da war kein einziger klarer Gedanke mehr in seinem Kopf, als er zum ersten Mal flog. Nicht einmal der Schmerz beim Aufprall auf dem Wasser konnte dieses Hochgefühl vertreiben. Dabei war das an sich vollkommen widersinnig. Wie konnte man high davon werden, sich irgendwo herunterzustürzen? Interessierte ihn letztendlich aber nicht. Er hatte seine Antwort und es fühlte sich so beschissen gut an, dass es aus dem Hoch eine Sucht machte.
In einem Punkt ist die körperliche wie die geistige Abhängigkeit jedoch gleich: Mit jedem weiteren Sprung wurde das Hoch kleiner. Abgestumpft. Bis er irgendwann innerlich leer an der Kante stand – und nicht begriff, wie er den Rausch zurückholen sollte. Wo war die Freiheit, die er sich erhofft, die er beim ersten Sprung gespürt hatte?
Sie war weg. Eine weitere Gewohnheit geworden.
Dabei hatte er neun Jahre lang geglaubt, dass es ihm einen Weg zeigen könnte, mit der Scheiße, die sich Leben nannte, klarzukommen. Falsch gedacht. Ein Trugschluss, dessen Konsequenzen ihm erst bewusst wurden, als es längst zu spät war. Denn danach fühlte es sich nie mehr wie ein Sprung in die Freiheit an. Da war nur der Fall. In ein Loch so tief, dass er keine Ahnung hatte, wie er jemals wieder rauskommen sollte.
Sein ganzes, bis zu diesem Zeitpunkt sechzehn Jahre währendes Leben hatte er danach gestrebt zu fliegen. Aus einem derartig tiefen Loch konnte man aber nicht herausfliegen. Wenn da niemand war, der einen herausholte, steckte man schlichtweg fest. In Kälte, Leere und Dunkelheit, die sich in ihm ausbreitete und alles zu fressen schien, was jemals in dieser Hülle seiner selbst gesteckt hatte.
Rückblickend betrachtet war da eine Hand. Heute weiß er das. Aber es war und blieb eine, die er nicht ergreifen wollte. Sie war zu nett, zu freundlich und er hatte zu viel Angst, dass sie ihn irgendwann genauso ansah wie alle anderen. Also blieb er in seinem Loch – innerlich blutend und trotzdem leer.
Bis er es eines Tages nicht mehr aushielt und erneut der Höhe entgegenstrebte. Weil er sie nicht loslassen konnte – weder die Sucht noch die Suche nach der Freiheit hinter dem Abgrund. Aber als er an der Kante stand, war da weiterhin nichts – kein Kribbeln, kein Herzklopfen. Es war so verflucht falsch. Alles. Leider war er nicht mehr dieses kleine Kind, das das Leben als schlichte Tatsache akzeptieren konnte.
Der Freitod war nie eine Option – diese Form der Nichtexistenz allerdings auch nicht. Deshalb ging er wieder auf die Suche. Für eine Weile. Nicht nach der Freiheit oder der Höhe, sondern nach dem nächsten Kick – dem Hoch, das er bisher nur beim Fall gespürt hatte. Dass er es ausgerechnet in einem dieser goldenen Käfige finden würde, hatte er nicht gedacht. Aber irgendwann war es da – das Flattern im Bauch, das Kribbeln im ganzen Körper. Und als er sich endlich eingestand, dass er dieses Gefühl von Haut auf Haut brauchte, war auch der Kick zurück.
Ein Hoch, ohne zu springen – der Flug, der nicht im Absturz endete.
Vor allem aber, verging es nicht. Im Gegenteil. Anstatt abzustumpfen und nach ständig mehr zu verlangen, schien jeder Schritt den Höhenflug zu verstärken. Eine neue Form seiner Sucht. Eine, die für sich betrachtet zwar stetig weitere Sprünge über diverse Schatten beinhaltete, aber keiner wirklichen Höhe bedurfte.
Trotzdem war da permanent diese Angst, die Sorge, dass es wie alles andere eines Tages verblassen würde. Genauso blieben allerdings die Hoffnung und die Begierde. Vielleicht war es auch einfach nur kindischer Trotz, der ihn daran festhalten ließ. Selbst als er irgendwann merkte, dass die Schatten, über die er sprang, stetig länger wurden – größer, breiter, dunkler. Er war doch in seinem Leben permanent gesprungen, hatte so oft an Kanten gestanden und die Augen geschlossen. Was machte es jetzt noch für einen Unterschied?
Es gibt leider nur wenige Dinge, die für die Ewigkeit sind. Die meisten verwittern mit der Zeit, nutzen sich ab, werden zur Gewohnheit, verblassen, verschwinden. Sein neues Hoch schien dennoch nicht dazuzugehören. In seinem Antlitz verblassten lediglich die Schmerzen – äußere wie innere, alte wie neue. Stattdessen schwebte er in einem Zustand, so nah an der immerwährend erhofften Freiheit, dass er bereit war, alles zu tun, um ewig darin zu verharren.
Aber alles war nicht genug.
Manchmal wirkte das wie der Sinnspruch seines Lebens. Es war nie ‚genug‘. Weder der Blick in die Tiefe, der kein Kribbeln mehr brachte, noch die Qualen, die manche womöglich längst dazu gebracht hätten, von vollkommen anderen Höhen zu springen. Letztendlich war er selbst es, der nie genug gewesen war. Für niemanden. Trotzdem hatte er nicht aufgeben können. Hatte festgehalten an dem, was offenbar nicht sein durfte, genauso wie an diesem verpfuschten Leben. Vielleicht war es deshalb so einfach gewesen, sich nicht zu wehren. Mit Sicherheit war es der Grund, warum er immer noch hier war.
Zu stur zum Sterben und trotzdem unfähig zu leben.
Eine bloße Existenz, die verzweifelt versuchte, irgendetwas zu ändern. Immer auf der Suche nach dem Paradies, das hinter dem Abgrund liegen musste. Nach dieser einen Höhe, die den Flug in die Freiheit einleiten würde. Noch immer nicht den, der alles beendet, sondern den, der etwas Neues beginnen würde. Er hielt daran fest, klammerte sich an die Vorstellung, dass es nur eine Frage der Zeit war. Dass hinter der nächsten Ecke diese Kante war, diese Höhe, von dem er fliegen könnte, um irgendwo zu landen, wo er endlich einfach sein durfte.
Bis ihn eines Tages die bittere Wahrheit offenbarte, dass es niemals hatte funktionieren können. Weil er nicht funktionierte. Zu kaputt. Zu viel Verlangen, das nicht sein durfte. Zu viel, was er brauchte und doch niemals bekommen konnte. Er war ein Defekt, der nicht reparierbar war. Und es nie sein würde. Jeder Sprung würde ihn nur noch weiter beschädigen, anstatt irgendetwas zu reparieren.
Die Erkenntnis kam langsam, schleichend, aber mit einer Wucht, die ihn an den Rand der Verzweiflung trieb – und darüber hinaus. Was folgte, war ein Sturz, kein Flug. Ein Fallen in die dunkle Ungewissheit. Eines, von dem er erwartet hätte, dass es ganz sicher ein wenig spektakuläres Ende bedeutete. Es war letztendlich doch schon immer nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich in der Finsternis endgültig verlor.
Als er von dort nach oben blickte, begann er jedoch noch endgültig die Konsequenz dieser Erkenntnis zu begreifen. Dass es nie der Sprung in immer weitere Untiefen gewesen war, der ihn retten konnte – oder dass er es jemals schaffen würde, aus dieser Finsternis herauszuklettern. Was er brauchte, war das Licht, das oben an der Klippe stand und darauf wartete, dass er es endlich auffing und festhielt. Nicht brutal und verzweifelt, vielmehr sanft und vorsichtig. Damit es niemals aufhörte zu leuchten. Ein ewigwährendes Feuer in der Finsternis.
Nicht gesucht – und dennoch gefunden.