Wie Mikadostäbchen lagen die Bäume unter ihm auf einem wirren Haufen und langsam legte sich die Staubwolke, die sie beim Umfallen aufgewirbelt hatten.
Manchmal fragte sich Sergej, worin sein Job eigentlich bestand. Klar, er hatte den Siedlern versprochen, sie vor den Gefahren der Außenwelt zu schützen, als sie vor einem Jahr als erste Gruppe die schützenden Mauern der Zitadelle verließen. Inzwischen machte er außerdem ihr Holz, jagte ihr Essen und kochte sogar für sie. Und alles nur wegen eines Softwaredefekts ihres Nahrungssynths. Das war eine absolut tolle Erfindung, wenn sie denn funktionierte. Man steckte oben irgendetwas hinein, etwa ein Stück Holz und unten kam eine Portion Pommes mit Currywurst heraus. So etwas hatte es damals, zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht gegeben, in dem er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte.
Das Holz zitterte und bewegte sich. Erst ein Stamm, dann die ganze Gruppe. Sein Gegner hatte diese Partie eindeutig verloren, auch wenn ihm der Name Mikado nichts sagte, doch den Kampf hatte er noch nicht aufgegeben. Mit einem Kraftakt stemmte der dicke Dinosaurier die Last nach oben, trampelte vorwärts und ließ sauber zerteilte Stämme zurück, durch die sein Sägezahnschwanz wie durch Butter hindurch schnitt. Er hob seinen panzerbewehrten Kopf und hielt Ausschau nach Sergej.
"Hey, Dicker! Hier oben. Komm doch her, wenn du dich traust!"
Den letzten Teil hätte er sich sparen können, denn der Dino kannte keine Angst. Er stellte sich auf die Hinterbeine und stieß einen röhrenden Schrei aus. Dann ließ er sich nach vorne fallen und seine Vorderhufe schlugen krachend auf dem Boden auf. Ein wütendes Schnauben, er stürmte los und die Erde bebte. Sergej schlang seine Arme noch fester um den Baum, auf den er geklettert war, nachdem er seine Beute begraben hatte. Tannennadeln piksten ihn an unangenehmen Stellen und er fragte sich, welche Geheimgänge sie durch seinen robusten Außenwelt-Synthese-Panzer gefunden haben mussten, um genau dort zu landen.
Als das Biest sich umdrehte und seinen Schwanz kreischend durch den Baum fahren ließ, sprang Sergej. Sein Ziel war der Kopf – außer Reichweite der Säge. Nur leider nicht außer Reichweite des nervtötenden Geräuschs, das der Schwanz erzeugte. Sergej biss die Zähne zusammen, da musste er jetzt durch. Dann landete er mit seinen Beinen um den Hals, dankte der Polsterung zwischen den Beinen und klammerte sich mit seiner linken Hand an einer vorstehenden Panzerplatte fest. Als er bequem saß, ließ er seinen rechten Arm auf den Kopf niedersausen.
Andere Männer hätten zur Jagd vielleicht auf die modernen Stanzkanonen zurückgegriffen, die Löcher von bis zu einem halben Meter in allem zurückließen, das nicht bei vier aus der Schussbahn war. Aber erstens sollte ja etwas zum Essen übrig bleiben und zweitens besaß die Siedlung keinen Stanzer. Davon gab es vielleicht gut ein gutes Dutzend, versiegelt in den Waffenkammern der Zitadellenstadt.
Doch wer wie Sergej einen künstlichen, kraftfeldverstärkten Arm aus reinem Niveum besaß, brauchte solche Waffen nicht. Sein Arm war eine Naturgewalt für sich und die Panzerplatten leisteten ihm nur kurz Widerstand. Dann brach er knackend durch den Schutz des Dinos, direkt in den Schädel. Das Monstrum taumelte einige Schritte vorwärts, bevor seine Vorderbeine nachgaben.
Sergej grinste triumphierend, dann sah er ein, dass er sich besser einen anderen Ort zum Feiern suchte, wenn er nicht unter fünf Tonnen Dinofleisch begraben werden wollte. Er befreite seine Prothese, sprang zu Boden und wich beim Abrollen einer garstigen Wurzel aus.
Der Koloss ging krachend hinter ihm zu Boden und schreckte einen Vogelschwarm auf, der sich nach dem Kampf bereits wieder in Sicherheit wähnte. Sergej stieß den Dino vorsichtig mit der Fußspitze an und als er sicher war, dass der sich nicht mehr rührte, schickte er per ComNet eine Meldung an Ruiz, den alten, wettergegerbten Boss der Siedler.
Die Arbeit war getan und nun suchte er nach dem Bach, durch dessen Lauf er beim Kampf gestolpert war. Sein Arm mochte zwar eine tödliche Waffe sein, doch wie ein Schwert wurde auch er bei fehlender Pflege stumpf. Die technische Pflege mussten Experten übernehmen, dessen Stelle in der Siedlung nach dem Ableben des letzten noch vakant war, doch reinigen konnte er seinen Arm selbst. Dinohirn machte sich nicht besonders als Deko.
Ein von Pausen durchsetztes Piepen erklang in seinem Ohr. Irgendetwas Wichtiges? Sergej verstellte die Lichtdurchlässigkeit seiner Sonnenbrille, die außerdem Schnittstelle zur Steuerung seiner Rüstung und den Funktionen des ComNets war, der Kommunikationsplattform der Zitadellenstadt. Die Umgebung verblasste und an ihrer Stelle erschien eine Landkarte der Umgebung. Die anderen beiden, die sich in seiner Gruppe befanden, konnte er darauf nicht erkennen. Dafür etwas anderes. Ein Signal von der Küste.
Was war das? Das ComNet behauptete, es sei ein Notruf, aber dort lebte eigentlich niemand. Die Position lag weitab der etablierten Siedlungen oder der Routen zwischen ihnen. Auch nicht in der Nähe eines der illegalen Testgebiete der Konzerne.
Er sah auf die Anzeige seiner Gruppenmitglieder und zögerte. Sollte er die beiden anderen kontaktieren? Die Teilnehmerin, die als Dok Wu gekennzeichnet war, war seine aktuelle Freundin. Sie war drei Jahre älter als er, dafür war er zwei Köpfe größer. Mit 28 war sie als Doktor der Hypothermie in der Zitadelle bereits weit aufgestiegen. Bis dort etwas passiert war und sie hierher strafversetzt wurde. Ihr Pech, sein Glück. Hypothermie war die Wissenschaft, Menschen einzufrieren, aufzutauen und wieder zu reparieren. Diese Wissenschaft verband beiden auf eine besondere Art. Nicht, dass er sie auch studiert hätte, nein er war einer der Patienten, an denen sie praktiziert worden war.
Ein Industrieunfall, bei dem er seinen rechten Arm verloren hatte, und seine blöde Versicherung hatten ihm einen Platz in einer Kältekammer eingebracht. Es war billiger gewesen, ihn einzufrieren, als ihm den Rest seines Lebens die Arbeitsunfähigkeitsrente auszuzahlen. Er wusste nicht, wie lange er eingefroren war. Als er aufwachte, hatte sich der Rest der Menschheit in der Zitadelle verkrochen, weil sie dachten, hier draußen würde eine Eiszeit herrschen. Sergej musste erst mit seinen Freunden nachhelfen, damit sich wieder nach draußen trauten. Und was hatte er nun davon? Ja, das hier. Ewige Plackerei.
Seine Freundin Sarah versuchte, die Datenbanken ihres Nahrungssynth wieder zu restaurieren. In der Zwischenzeit sorgte er für die Verpflegung der Siedlung. Er hielt sie nur ungern von ihrer Arbeit ab, die so gar nicht ihrem Fachgebiet entsprach. Bis sich der angefragte Techniker der Zitadelle darum kümmerte, konnten noch Wochen vergehen. Und so lange wollte er nicht den urzeitlichen Jäger mimen.
Die Dritte im Bunde war Wildschaf, deren Name in Wirklichkeit Klara lautete. Sie war mit ihren dreizehn Jahren eigentlich zu alt, um seine Ziehtochter zu sein, aber so war eben der Lauf der Dinge. Die Befreiung der Menschheit aus der Zitadelle war nicht glimpflich ausgegangen und er und sie beiden waren die Einzigen aus ihrer Gruppe, die überlebt hatten – oder noch bei Verstand waren. Ohne ein Auffangsystem für Waisenkinder, dem man auch vertrauen konnte, kümmerte er sich um sie – auch wenn es nicht immer einfach war.
Aber es verband sie noch mehr. Auch Klara hatte im Kälteschlaf gelegen und sie war besonders. Damit meinte er nicht nur, dass sie sich gerade in der Pubertät befand. Wegen ihrer Besonderheit mochte sie es nicht, wenn er auf die Jagd ging. Und diese Besonderheit war ebenfalls der Grund, warum er sie nicht der Obhut Zitadelle überlassen konnte. Sie würde wissen, dass er gerade auf der Jagd gewesen war, und in dem Gemütszustand wollte er sie lieber nicht kontaktieren.
Er konnte alleine gehen. Dann wäre aber Sarah sauer, wer wusste schon, wie lang ihn dieser Notruf aufhalten würde. Kontaktierte er sie aber und ließ Klara im Unklaren, wäre die sauer. Sie war nämlich ganz schön eifersüchtig. Und zwar auf alle seine Freundinnen, die er in der Zeit hier draußen gehabt hatte. Er hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, eine Familie gründen zu können, denn mit ihrer besonderen Fähigkeit schaffte sie es, alle zu vertreiben.
Nun, es galt abzuwägen, wie groß das Ausmaß jeder Konstellation an Wut und Enttäuschung sein konnte, und Sergej beschloss schließlich, beiden lediglich eine Sprachnachricht zu schicken.
"Hallo Sarah, hallo Klara. Ich hab da ein komisches Signal aufgefangen und werde die Quelle ansehen. Ihr seid wahrscheinlich beide beschäftigt und ich will euch bei nichts unter-"
"Du hast wieder gemordet, oder?", unterbrach ihn Klara, die sich offensichtlich nicht mit einer Sprachnachricht zufriedengeben wollte. Gemordet? So konnte man das sehen. Er selbst schlüpfte ja auch nur ungern in der Rolle des Metzgers.
"Ist es dir lieber, dass die Siedler verhungern?"
"Die können doch auch Wurzeln essen, warum musst du dafür das Leben unschuldiger Tiere auf so brutale Weise beenden?"
"Wurzeln?" Sergej kratze sich an den kurzen blonden Stoppeln, die seinen Kopf bedeckten. "Alles klar. Kannst du dich noch an Simeon erinnern, den Junge, der vor zwei Monaten wirklich Wurzeln gegessen hat?"
"Vage", antwortete Klara sichtlich desinteressiert.
"Weißt du noch, wie lange es gedauert hat, all die Käfereier wieder aus seinem Bauch rauszuoperieren?"
"Das war für die Käfer sicher auch nicht schön!"
"Siehst du? Wenn die Siedler einfach in den Wald gehen und irgendwas essen, leiden deine Tiere genauso", beendete Sergej den kurzen Ausflug in die Vergangenheit. "Es wird noch mindestens ein Jahr dauern, bis sie das Land urbar gemacht haben. Und genau wie ich, hast auch du versprochen, ihnen zu helfen. Oder nicht?"
"Ja, hab ich", gab Klara kleinlaut zu.
"Und wenn du schon nicht bei der Jagd hilfst, was die Sache enorm vereinfachen würde, unterstütz mich wenigstens so weit, dass du mir nicht jedes Mal vorwirfst, dass ich die Siedler am Leben halte und nicht die Tiere."
"Hab's ja kapiert. Aber ich leide halt mit. Das kann ich nicht so einfach abstellen."
"Das weiß ich und ich hoffe, dass sie diesen blöden Nahrungssynth bald repariert bekommen."
"Ich auch. Ich würde dir gerne bei dem Signal helfen, hab hier aber noch ein kleines Problem, ich komm dann nach."
"Ein Problem?", wollte Sergej noch nachhaken, aber Klara hatte sich bereits ausgeklinkt. Na ja, vielleicht war es auch besser, wenn er nicht genau wusste, was für ein Problem das war.
Er atmete durch. Das war weniger katastrophal gelaufen, als gedacht. Immerhin waren sie eher Freunde, als Vater und Tochter, wer wusste schon, ob sie sonst überhaupt mit ihm reden würde, statt sich schmollend in ihrem Baumhaus einzusperren.
"Hey Süßer, du tust mir manchmal wirklich leid", ertönte nun Sarahs wohlklingende Stimme in seinem Ohr. "Ich dachte, ich warte, bis der Sturm vorbei ist, bevor ich mich melde."
"Du bist nicht nur die schönste Frau auf diesem Planeten, du musst auch die klügste sein und dafür liebe ich dich."
"Ha, wenn du sehen könntest, wie verlegen mich das macht. Hör nicht auf mit den Komplimenten, dann siehst du es noch. Ich bin nämlich schon auf dem Weg zu dir."
"Vergiss deine Ausrüstung nicht, das Signal war immerhin ein Notruf. Am besten Werkzeuge und deine Med-Tasche."
"Packe bereits. Gib mir fünfzehn Minuten, dann bin ich da."
"Ich freu mich. Bis gleich." Sergej wollte sich ebenfalls ausklinken.
"Und wie ich mich erst freue. Du weißt doch, dass ich total auf Ritter stehe, die gerade eine Bestie erschlagen haben."
"Na ich hoffe, deine Freude hält an, bis wir auch den Notleidenden geholfen haben."
"Süßer, du bist einfach zu gut für diese Welt, aber manchmal so unromantisch." Sie lachte und klinkte sich aus.
Er hoffte, dass es ausnahmsweise nicht die Welt war, die er retten musste, denn den Abend wollte er lieber mit Sarah verbringen. Doch falls die Welt tatsächlich in Gefahr sein sollte, hatte er immerhin einen Grund, sich vor der Nahrungssuche zu drücken.