Wie konnte es sein, dass sich Sergej so verschätzt hatte? Sie sollte sich bis zum Abend gedulden, hatte er gesagt. Aber jetzt waren sie schon so lange unterwegs, dass über dem Meer die Sonne aufging. Er würde sich schon etwas ganz Besonderes einfallen lassen müssen, um das wieder gut zu machen.
Sarah war sich noch nicht sicher, ob sie auf ihn sauer sein sollte oder auf die Idioten vom ComNet, die die Karte des Gebiets seit der ersten Vermessung nicht mehr aktualisiert hatten. Sie mussten sich durch einen Urwald voller Insekten und Monster kämpfen, der auf der Karte eindeutig nicht verzeichnet war. Der war ja nicht über Nacht gewachsen – wobei, sie hatte ein paar Pflanzen-Experimente im Kopf hatte, die so etwas möglich gemacht hätten. Wahrscheinlicher war es, dass sie Opfer purer Boshaftigkeit eines Bürohengstes geworden waren, der Außenweltler einfach nicht leiden konnte. Die nutzen doch jedes Quäntchen Macht, um sich überlegen zu fühlen.
Und aus diesem Grund bevorzugte sie Männer, die tatsächlich etwas auf dem Kasten hatten. Männer, die sich in der harten, neuen Welt behaupten konnten und nicht unter dem Stiefel der Zitadelle herumkrochen. Sergej war quasi der Archetyp dieses Mannes. Er war groß und durchtrainiert, die Jahre im Untergrund der Zitadelle hatten ihn abgehärtet. Man sah es seinem Gesicht an, wie viel Erfahrung er den anderen jungen Männern der Zitadelle voraushatte – aber auch den Kummer. Das verpasste ihm diesen wehmütig-mysteriösen Touch. Er hatte sich aus dem Ring, dem Gefängnis der Zitadellenstadt, herausgekämpft und die Ketten gesprengt, die alle Zitadellenbewohner gefangen hielten. Die Medienkanäle stellten das alles etwas anders dar, aber hier draußen wusste es offenbar jeder: Er war ein Held.
Sarah verzog die Mundwinkel. Sie hingegen war eher eine Schurkin. Spielte an den Gedanken ihrer Hypothermiepatienten herum, veränderte ihre Körper und ließ Experimente auf die Zitadelle los, die eigentlich für immer eingesperrt gehörten. Gut, das meiste davon passte zu ihrer Stellenbeschreibung und sie hatte deswegen auch kein schlechtes Gewissen. Nur das besagte Experiment hatte sie ihren Job gekostet – und beinahe auch ihr Leben.
In der Hinsicht war sie also das genaue Gegenteil von ihm, körperlich konnten sie auch nicht unterschiedlicher sein. Sie kam sich manchmal wie ein Zwerg neben ihm vor, woran vor allem ihre asiatischen Vorfahren schuld waren. Warum mussten die auch so klein sein? Herkunft, die spielte für die heutige Generation ansonsten kaum eine Rolle mehr. Nur ihr Vater, Chef der Asia-Enklave, hätte ihr am liebsten den Kopf abgerissen, schon bei ihrem ersten Freund, den er nicht höchstpersönlich ausgewählt hatte. Tradition, die Tradition, hatte er immer gesagt und der solle aus einer guten Familie stammen. Sie schnaubte.
Nun, ihr war das egal gewesen, sie hatte sich genommen, was sie wollte, und sich ihren Weg nach oben erkämpft. Im Gegensatz zu ihren Kollegen sogar ganz ohne Aufputschmittel und gefährliche Selbstexperimente. Sie stand bereits kurz davor, die ganze Abteilung zu übernehmen und sich damit das Tor zu noch mehr Einfluss zu öffnen und vielleicht zusätzlich einen Spitzenjob bei irgendeinem der großen Konzerne.
"Oh, Scheiße", stieß Sergej aus, der vor ihr ging und riss sie aus ihren Gedanken.
Denn das Einzige, das sich ihr jetzt eröffnete, als sie aus dem Wald an die Küste traten, war die Sicht auf die Trümmer eines Fahrzeugs. An den Stellen, an denen es nicht rußgeschwärzt war, schimmerte grüne Lackierung durch.
"Was ist das denn?", fragte Sergej. "Wie ein Bus sieht das nicht aus."
"Wann hast du denn das letzte Mal einen Bus gesehen, der fuhr?"
"Ist 'ne Weile her. Genau genommen fährt dieses Teil auch nicht mehr."
"Ein neuer Schweber der Konzerne vielleicht?", mutmaßte Sarah. "Nein ... dann wäre er schon längst geborgen und alle Spuren beseitigt worden."
Sie stiegen den Hang hinab, auf das Wrack zu und wichen dabei behutsam Trümmerstücken aus, die wie Stacheln einer grotesken Verteidigungsstellung aus dem Boden ragten. Das Fahrzeug war sonderbar kurz. Es musste einmal aus mehreren Modulen bestanden haben, von denen jetzt nur noch zwei übrig waren.
"Hey, das hier sieht wie der Fön aus, den ich als Kind mal hatte." Sergej kniete unter einer Auswuchtung an der Seite des Fahrzeugs und starrte von unten hinein.
"Ein Fön?" Den Ausdruck hörte Sarah zum ersten Mal. "Was soll das sein?"
"Damit hat man früher seine Haare getrocknet", erklärte Sergej.
"Aha." Sie sah in die Öffnung und musterte die Metallstreben, die sich in ihrem Inneren befanden. Ja, sie konnte sich gut vorstellen, dass damit irgendwie ein Luftstrom gelenkt werden konnte, ganz ohne technisch versiert zu sein. "Meinst du, das ist vielleicht ein Landwirtschaftsgerät zur Austrocknung von Sumpfgebieten?"
"Glaube ich nicht. Ich denke, das sind Triebwerke."
"Also doch ein Schweber?"
"Das … oder ein Raumschiff. Wir haben doch damals den Flieger von den Vetis gefunden ..."
"Der, der vom Rat beschlagnahmt wurde?"
Sergej stand wieder auf und bewegte sich auf den Teil des unbekannten Fortbewegungsmittels zu, der stärker beschädigt war. Sarah konnte sein Gesicht nicht sehen, hörte aber eine Spur Bitterkeit in seiner Stimme, als er antwortete: "Das behaupten sie zumindest."
Wenn alles stimmte, was Sergej erzählte, gab es in der Zitadelle Leute, die im Geheimen die Fäden zogen. Mitglieder der Familien, der Konzerne oder andere Gruppierungen. Die Zitadellenstadt besaß zwar einen gewählten Rat, der über die Geschicke der Zitadellenstadt entschied, die meisten Ratsmitglieder waren seiner Meinung nach aber Marionetten. Ja, seitdem sie mit Sergej und Klara unterwegs war, hatte sich eine ganz neue Welt aufgetan, was Verschwörungstheorien anging. Das hatte sie nie so erlebt, aber so abwegig war das vielleicht nicht. Immerhin wusste auch niemand so genau, was sie so in der Hypothermieabteilung trieben.
Es gab da diese Vetis, die wohl beinahe alles Leben auf der Erde ausgelöscht hatten. Heute versteckten sie sich unerkannt unter den Menschen. Auch Sarah selbst war an diesem unglückseligen Tag auf einen von ihnen gestoßen. Sie verscheuchte den Gedanken daran.
"Meinst du, dass das hier auch ein Schiff der Vetis ist?"
"Ich weiß nicht", antwortete Sergej. "Es ist schon eine Weile her, aber es sieht anders aus. Aber wer weiß. Schau mal, hier können wir einsteigen."
Sergej war an einem Riss angekommen, durch den sie sich hineinzwängen konnten, und ohne zu zögern kletterte er nach drinnen.
"Oh!", rief er von innen heraus.
Sarah war alarmiert. Klar, das konnte ein Ausruf des Erstaunens sein, weil er etwas Interessantes entdeckt hatte. Allerdings quittierte er die Entdeckung riesiger Killerroboter oder hungriger Dinos mit derselben unbewegten Stimme. Sie zog ihre Waffe und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Öffnung. Sie versuchte, einen Blick auf das Innere zu erhaschen, sah aber nur Dunkelheit.
"Süßer, alles klar?"
Die Pause, die folgte, war lang. So lang, dass sie am liebsten hineingestürmt wäre. Doch ihre Arbeit hatte sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Das wäre nicht das erste Mal, dass sie einen ihrer Partner verloren hätte, nur weil er zu ungestüm war. Das war eben der Nachteil, wenn man diese Sorte Mensch liebte. Andererseits war es immer noch besser, wenn es jemand anderen erwischte und nicht sie selbst.
"Ja, alles klar, komm rein." Ihre Sorge war unberechtigt.
Die Waffe verschwand wieder im Holster und Sarah schob sich behutsam zwischen den scharfkantigen Rändern der Öffnung hindurch, die sie wie das Maul einer Bestie verschlang. Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinab. Wie die Bestie, die sie damals zurückgelassen hatte. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und die Gedanken an dieses Bild und ihre Vergangenheit verflogen.
Sergej kniete neben einer Person, die auf Kisten und Decken aufgebahrt lag, und prüfte ihren Puls. Mit zwei Schritten, die auf den metallenen Platten des Bodens einen anklagenden Widerhall erzeugten, war sie neben ihm.
Ihr Blick fiel auf das Gesicht der Gestalt. In diesem Moment riss die ihre Augen auf und starrte Sarah mit vor Entsetzen verzerrter Miene an. Ein winziger Adrenalinstoß durchfuhr sie und ihr Puls beschleunigte sich. Aber nur kurz, dann beruhigte er sich wieder. Sie hatte schon in so viele Gesichter geblickt, als sie aus dem Kälteschlaf geholt wurden, und keines von ihnen hatte sie jemals angelächelt.
Faszinierender als der Wahnsinn, der aus diesen Augen sprach, erschien ihr die Beschaffenheit der Haut und der Stränge, in denen sie endete. Dort wo sich bei einem Menschen Haare befinden sollten, waren ... Tentakel? Waren sie hier über ein groteskes Experiment eines Konzerns gestoßen? Den Zügen ihres Gesichts und den Formen ihres Körpers nach handelte es sich um eine Frau. Sie öffnete den Mund und bewegte die Lippen. Doch statt etwas zu sagen, gab sie nur gurgelnde und blubbernde Laute von sich.
"Spricht sie mit uns?", fragte Sergej.
Sarah runzelte die Stirn. "Schwer zu sagen, vielleicht ist sie einfach nur durchgeknallt. Ansonsten habe ich beim Kurs für außerirdische Sprachen leider gefehlt. Sieht sie für dich wie eine Vetis aus?"
"Die Vetis, denen ich begegnet bin, sahen beide wie Menschen aus, aber wenn ich das richtig verstanden habe, waren das Klone, oder sie haben die Haut anderer Menschen getragen."
"Ist ja widerlich."
Sergej nickte zustimmend und dann wandte er sich wieder der Frau mit den Tentakeln zu. "Ob sie Zeichensprache versteht?"
Sergej machte eine allumfassende Geste um sie herum, zeigte auf die Frau und dann in die Luft. Das verstand zumindest Sarah. Auch bei der Tentakelfrau schien das eine Reaktion auszulösen. Langsam entspannte sich ihr Gesicht, doch ein Funken Wahnsinn blieb in ihrem Blick zurück. Trotzdem nickte sie.
Was folgte, war nicht einfach, aber nach und nach schafften sie es, sich verständlich zu machen. Erst per Handzeichen und dann Symbolen, die sie draußen in den Sand malten. Sie waren in einer Gruppe angekommen und abgestürzt. Sie war unsicher. Die anderen waren zu einem Turm gegangen. Gefahr.
Sarah fand es interessant, dass auch in ihrer Symbolik ein Totenkopf mit zwei Kreuzen darunter existierte. Die anderen schienen sie zurückgelassen zu haben, dennoch machte sie sich Sorgen darüber, ob sie in Gefahr schwebten? Oder bedeutete das etwas anderes?
"Wir nehmen sie besser mit zu Ruiz", entschied Sergej. "Nicht, dass sie von irgendwas gefressen oder von Möchtegernsheriffs abgeknallt wird. Und dann geh'n wir auf die Suche nach dem Rest."
"Sollten wir das nicht den Siks überlassen?" Nicht, dass es Sarah an Mitgefühl mangelte, aber wenn sie jetzt die ganze Welt retteten, wann würden sie wieder Zeit zu zweit haben? Klar, Helden waren sexy, aber auf einen Helden, der keine Zeit für sie hatte, konnte sie verzichten.
"Die Siks?" Sergej lachte. "Die können ja kaum innerhalb der Zitadelle für Ordnung sorgen. Und die Außenweltabteilung ist noch schwächer besetzt. Außerdem du weißt doch, was sich alles auf dem Weg zur Zitadelle befindet."
Klar wusste sie das. Aber wenn sie die Außerirdischen auf dem Weg zur Zitadelle beschützten, würden sie auch hineingehen müssen. Denn da war es genauso gefährlich für sie. Sarah verdrehte die Augen.
"Ach komm schon. Du kennst meinen Ehrenkodex. Ich kann nicht zusehen, wenn irgendjemand zu Schaden kommt, wenn ich es eigentlich verhindern könnte. Und das sind diesmal nicht nur irgendwelche Idioten, die zu blöd oder ignorant sind, um die Gefahr zu erkennen. Danach nehmen wir uns eine Auszeit, versprochen." Er schloss sie in die Arme, beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Und hey, wer weiß, welche Tore sich für unsere Welt öffnen, wenn wir ihnen helfen?"
Auch wenn er den letzten Satz aus Rücksicht auf die Romantik hätte sparen können, gefiel ihr der Gedanke irgendwie. Sie dachte dabei allerdings eher an die Tore, die sich für sie selber öffnen würden. Wenn sie den richtigen Leuten Bescheid gab, wer da auf dem Weg zur Zitadelle war, konnte sie damit ausbügeln, was sie verbockt hatte. Konnte zu ihrem alten Leben zurückkehren.
Sie hob ihren Kopf, streckte sich zu ihm hinauf und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. "Du hast recht. Lass uns die armen Außerirdischen retten." Was sie wirklich dachte, würde sie ihm nicht verraten. Wenn es gut lief, waren die einfach schon weg, bevor Sergej sie fand.
Sergej klinkte sich ins ComNet ein und kontaktierte Klara. Das Mädchen hatte sie beinahe vergessen. Klara hatte versucht, sie mit Spinnen und Schlangen zu vertreiben, aber vor so etwas hatte sie keine Angst. Falls sie jemals etwas wirklich Gefährliches in ihre Richtung schicken würde, würde sie es töten und Klara das abgezogene Fell zurückschicken.
"Hi Klara", sprach Sergej ins ComNet. "Kannst du deine Freunde fragen, ob sie eine Gruppe Leute gesehen haben, die in Richtung Zitadelle unterwegs sind und die keine Menschen sind?"
Eine Pause. Klara sprach. Sarah hatte sich nicht eingeklinkt und wusste nicht was.
"Nein, keine Vetis. Sie haben Tentakel, statt Haaren."
Noch eine Pause.
"Danke."
Sergej gestikulierte mit der Tentakelfrau, dass sie ihnen folgen sollte. Nun, dann konnte die Jagd ja beginnen.