- Eine Stunde zuvor -
Der Junge, der seinen Namen vergessen hatte, lauschte den ganzen Tag darauf, was seine einstigen Freunde im ComNet zu bereden hatten. Waren wirklich Aliens auf ihrem Planeten gelandet? Das konnten nur die Vetis sein!
Er knirschte bei dem Gedanken mit den Zähnen. Die Vetis hatten ihm alles genommen, was ihm jemals wichtig erschien. Eine gemeinsame Jugend mit seiner Familie, weil sie ihn in einen Eisklotz verwandelt hatten. Seinen Bruder, nachdem er ihn nach Jahren wiedergetroffen hatte. Als Letztes seine erste große Liebe. Er und seine Freunde hatten sich gegen die Tyrannei der Zitadelle aufgelehnt. Sie hatten gesiegt, dafür aber mehr bezahlt, als sie gewonnen hatten. Viele von ihnen hatten an dem Tag, an dem sie die Zitadelle öffneten, ihr Leben gelassen. Nur er, Sergej und Klara hatten überlebt. Aber die beiden waren vom Weg abgekommen. Hatten ihr Ziel, die Vetis aus der Zitadelle zu vertreiben, vergessen. Sie hatten ihn verraten.
Heute stand ihm nur noch sein treuer Butler Nil zur Seite. Und die Gemeinde im Netz der Zitadelle, die jeden Tag seine Heldentaten auf seinem Kanal verfolgten. Er zeigte ihnen, dass er sie schützte. Dass sie keine Furcht leiden mussten, auch wenn das Sicherheitskorps Tag für Tag in ihrem Dienst versagte. Selbst dann nicht, wenn sich unter ihnen finstere Kreaturen befanden, die über ihr Leben bestimmten.
Es war einfach, die Verbrecher aufzuspüren, die in den Ruinen dieser Stadt Zuflucht suchten. Jeder Mensch besaß einen ID-Chip, der in seinen Kopf implantiert war. Damit konnte man ihn verfolgen, konnte dafür sorgen, dass sich ihm Türen nicht öffneten, dass er nicht mehr einkaufen oder Lebensmittel aus dem Nahrungssynth beziehen durfte.
So einen Chip konnte man nicht einfach so entfernen. Wer das bei einem der Quacksalber der Unterwelt oder den äußeren Bezirken der Zitadellenstadt versuchte, der fand in der Regel nur den Tod. In den Operationskammern der Oberwelt, den Etagen der Zitadelle, die sich über der Erdoberfläche gen Himmel reckten, war das möglich, doch dorthin kamen diejenigen nicht, die sich vor dem Gesetz verstecken wollten. Und die ehrlichen Bürger? Nun, welcher Oberweltler wollte schon auf die Privilegien verzichten, die ihm sein Chip bot?
Klara und Sergej verfügten über keinen Chip, sein eigener wurde beschädigt. Das brachte Vor- und Nachteile mit sich, die sich hier draußen, fernab der Zitadelle relativierten. Die gelandeten Aliens besaßen natürlich auch keinen. Das machte es schwieriger, sie zu orten, aber nicht unmöglich.
Er schob die Schweißermaske von seinem Gesicht, trocknete es mit einem Handtuch und betrachtete sein Werk. In nur drei Stunden hatte er eine kleine Armee Überwachungsdrohnen zusammengebastelt. Jede von ihnen ein Unikat, bestehend aus dem Schrott, den er hier draußen fand und der zurückblieb, wenn er mal wieder eine Einheit des Sicherheitskorps vernichtet hatte, die glaubte, ihn festnehmen zu können.
Er schickte einen Befehl los. Das Steuerungsinterface verwandelte seine Gehirnströme in Radiowellen und sie erhoben sich. Einige von ihnen surrten, als ihrer Rotoren gierig die Luft einsogen, andere standen mit einer heimtückischen Lautlosigkeit still und bewegten sich keinen Millimeter, als sie im Raum schwebten.
Der Junge ohne Namen schickte sie, eine nach der anderen, auf ihre Reise. Sie würden ihm ihre Freiheit damit danken, dass sie ihm berichteten, wenn sich jemand der Ruine näherte, der hier nicht hingehörte. Eigentlich gehörte niemand außer ihm hierher – und sein Butler. Dies war sein kleines Reich, das er unter der hässlichen Oberfläche der vergangenen Zivilisation zu einem technologischen Utopia ausbaute. Im Herzen befand sich dieser Raum, sein Heldenunterschlupf.
In der Ecke, angeschlossen an unzählige, blinkende Datenkabel und die Energieversorgung, stand das Werkzeug, das ihm zu dem Helden machte. Es war schon das Werkzeug vieler Männer vor ihm gewesen, um die sich im Laufe der Jahre Legenden gesponnen hatten. Schon seit den ersten Tagen der Zitadelle verteidigten sie das einfache Volk gegen die Unterdrückung durch den Rat und seine Schergen.
Jeder seiner früheren Besitzer hatte einen gewaltvollen Tod erlitten. Nicht weil ihr Körper zu schwach gewesen war, sondern ihr Geist. Sie zeigten Gnade, da wo sie nicht angebracht war. Ihre Feinde aber waren grausam und erwiderten diesen Gefallen mit dem Tod. Einer seiner Freunde, dessen Name in weite, unerreichbare Ferne gerückt war, hatte die Rüstung getragen, als sie Tore der Zitadelle einrissen. Auch er war dabei gestorben. Nun hatte der Junge seinen Platz eingenommen und der Rüstung einen neuen Namen gegeben.
Die Rüstung versteckte unter ihrer schwarzen Schlichtheit bisher unerreichte technologische Raffinesse. Das war ihm selbst zu verdanken. Das Basteln fiel ihm leicht. Er musste nur Werkzeuge und Material in die Hand nehmen und hatte sofort vor Augen, was er bauen würde. Wenn er in die Rüstung hineinstieg, wandelte sich seine Sicht auf die Welt, er wurde jemand anderes. Er wurde zu Calu, Verteidiger der Schwachen und Streiter gegen die finsteren Vetis. Er hatte schon so viele von ihnen erschlagen. Er konnte nur ahnen, wie viele sich noch unter dem Äußeren eines Menschen verbargen.
Er stand auf und schritt an der Wand vorbei, an der Waffen verschiedenster Art aufgehängt waren. Schwere Energiewaffen, bestehend aus einer Unzahl leuchtender Röhren, antike Projektilwaffen, die auch heute noch von der einfachen Bevölkerung und den unteren Rängen des Sicherheitskorps verwendet wurden, und auch Nahkampfwaffen, Klingen und Sägeblätter.
Er strich über die Panzersegmente des Anzuges, die wie Lamellen übereinander lagen und der ansonsten menschlichen Form eine sonderbare Note verliehen. Das war seine zweite Haut. Der rechte Arm schien unbewaffnet, doch er war es, der dem seinen Namen verlieh, 'Die Faust des Calu'. Er war mit einem modifizierten Kraftfeld versehen, das alles schmolz und verbrannte, das mit ihm in Berührung kam. Am anderen Arm war eine Microgun montiert. Eine mehrläufiges Maschinengewehr, das ein Andenken an ihren Ausbruch aus der Zitadelle darstellte. Andere Waffen waren schlagkräftiger, aber er liebte das schnurrende Geräusch, das sie beim Abfeuern erzeugte – und das Entsetzen, das es bei seinen Gegnern auslöste.
Normalerweise versorgte Nil ihn mit Informationen über Vetis, die er aufgespürt hatte oder über eine Gang, die der Bevölkerung besonders zu schaffen machte. Mit diesem Wissen brach er auf, um das Problem zu lösen. Nil war gerade nicht da und es juckte ihm wirklich in den Fingern, auf die Jagd zu gehen.
Zum Glück musste er nicht lange warten. Keine zehn Minuten später hatten seine Drohnen gefunden, was er suchte. Vom Dach eines der wenigen intakten Hochhäuser blickte er hinab auf sein Reich, in dem hier und da kleine Lichter aufleuchteten. Die Menschen, die er duldete.
Eine Kameradrohne erhob sich neben ihm in die Luft und würde die Ereignisse dieser Nacht filmen. Er spürte, dass er viel Spaß haben würde.
***
- Gegenwart -
Die Trümmer des Gebäudes begruben den Vetis unter sich. Calu musste zugeben, dass er etwas enttäuscht war. All die anderen hatten wenigstens versucht, Widerstand zu leisten. Sein Blick wanderte zum Fuß des Geröllhaufens und betrachtete den roten Teppich, der sich von dort ausbreitete. Er war immer wieder erstaunt, dass ihr Blut rot war. Selbst bei diesem Exemplar in seiner natürlichen Gestalt.
Jetzt würde er sich um seinen Begleiter kümmern, diesen Übersetzungsroboter. Er gähnte unter seinem Helm. Das würde noch langweiliger werden als beim Vetis selbst. Calu hegte die Hoffnung, dass noch mehr von ihnen kamen. Im ComNet war schließlich die Rede von einer größeren Gruppe gewesen, die auf dem Weg zur Zitadelle war.
Im schlimmsten Fall würde er sich eben ein kleines Gefecht mit 'Eisenarm' und 'Wildschaf' liefern, wie die Decknamen seiner ehemaligen Freunde in der begeisterten Bevölkerung lauteten. Das wäre wenigstens eine Herausforderung.
Er betrachte die Bilder seiner Rundumkameras und die Meldungen der anderen Sensoren. Es dauerte nicht lange, bis er den Roboter entdeckt hatte. Getarnt, aber nur einige Meter links von ihm. Er hob den Arm seines Anzugs, richtete die Läufe seiner Microgun ein weiteres Mal aus und ließ den Motor der Waffe schnurrend anlaufen. Er wollte gerade den Befehl zum Feuern geben, da bewegte sich der Schutt, unter dem der Vetis begraben lag. Eine Lawine kleiner Geröllstücke rollte den Haufen hinab und landete spritzend im roten See.
Calu lächelte. Es steckte also doch noch etwas Leben in ihm.
Ein dunkelroter Schemen schoss auf ihn zu und stieß seine Waffe beiseite. Calu keuchte. Vor Schreck gab er eine Salve ab und fällte einen Baum, der als einsamer Zuschauer neben dem Supermarkt stand. Er grinste verlegen. Etwas Leben war wohl eine Untertreibung gewesen. Was war das? Ein Tentakel?
Calu machte einen Satz zurück, um Abstand zu gewinnen. Nun würde er das Monster zur Strecke bringen, das endlich seine wahre Gestalt zeigte.
Noch mehr schleimige Extremitäten tauchten wie aus dem Nichts auf und schlugen auf ihn ein. Ein Tentakel wand sich um seinen Arm, schneller als er reagieren konnte, saugte sich fest und zerquetschte die Microgun, die mit einem metallischen Quietschen starb. Das glibberige Ding war so breit wie Calus Oberschenkel. Verdammt! Calu hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ob er das eklig finden oder geschockt sein sollte, denn ein markerschütterndes Brüllen schallte in seinen Ohren. Er biss die Zähne zusammen, dann brannten die Schaltkreise der Audiosensoren durch und nur Stille und der Gestank misshandelter Elektronik blieben zurück.
Er aktivierte das Kraftfeld der anderen Faust und schlug auf den Tentakel ein, der ihn gefangen hielt. Der zog sich so schnell zurück, wie er aufgetaucht war. Calu nutzte seine Chance und rannte. Er rannte das erste Mal, seit er den Anzug übernommen hatte, um sein Leben. Er redete sich ein, dass er das nur tat, um die groteske Erscheinung besser einschätzen zu können, in die sich der Vetis verwandelt hatte. Doch tief in seinem Inneren machte sich die dumpfe Erkenntnis breit, dass er sich heute mit einem Gegner angelegt hatte, den er besser in Frieden gelassen hätte.
Wie groß war die Kraft dieser Tentakel? Calu wog seine Chancen für den Nahkampf ab. Riskant. Die Kraft der Bestie hatte ausgereicht, um seine Microgun wie eine leere Bierdose zu zerdrücken. Ein Querschnitt seines Anzugs erschien auf der Anzeige. Die mattgelbe Einfärbung des Arms zeigte ihm, dass sogar der beschädigt worden war.
Wenn es in den Ruinen seiner Stadt wenigstens noch Autos gäbe, die er wie in den Superheldenfilmen der Voreiszeit nach ihm werfen konnte. Aber die Schrotti-Trupps der Zitadelle hatten nach hier der Öffnung alles abgegrast und recycelt. So blieben ihm nur die Ruinen selbst, die er auf dem Weg zu seinem Hauptquartier als Waffe einsetzen konnte. Im Rennen fischte er einen Betonklotz von der Straße und schleuderte ihn in Richtung der tobenden Arme, mit denen der Vetis sich einen Weg durch die Trümmer bahnte.
Er traf einen der Tentakel und der Vetis stoppte. Schrie er? Das konnte Calu nicht hören, dafür hatte er für einen Moment die Gelegenheit, einen genaueren Blick auf ihn zu werfen.
Neun Arme, eine ungewöhnliche Asymmetrie, die in einem kokonartig deformierten Körper endeten, der keine Ähnlichkeit mehr mit der menschlichen Form des Vetis' hatte. Auch nicht wirklich mit dem Kopf eines Kraken, den er am Ende solcher Tentakel vermutet hätte. Der Körper befand sich in einem unentwegten Wandel, Stellen hoben und senkten sich und er sah, wie ein weiterer Arm aus dem Körper wuchs. Wenn das Monster einfach so wuchs, konnte es sich am Ende auch regenerieren? Calu war klar, dass er zu extremeren Waffen greifen musste. Es führte kein Weg daran vorbei, dass er sein Versteck aufsuchte.
Mit dem Gedanken drehte er sich um und lief weiter. Das hieß, er wollte weiterlaufen, doch etwas hielt ihn fest und riss ihn zurück. Einer der Tentakel kroch seinen Arm hinauf, bis zur Schulter. Wie hatte er ihn so schnell erwischen können? Calu schlug auf den Tentakel ein, brannte rote Stücke heraus und zerrte an seinem Arm. Aber das war nicht genug, um das Monster zu beeindrucken. Im Gegenteil, der Tentakel schloss sich noch fester um ihn und die Hülle des Anzugs knackte.
Ein zweiter Tentakel packte seinen Kopf. Schleimige Saugnäpfe schoben sich über die Kamerabilder und hüllten ihn in Dunkelheit. Der Querschnitt des Anzugs leuchtete erst am Torso und schließlich auch am Kopf rot auf und ein schriller Alarm jaulte los. Der Panzer, den er für unverwundbar gehalten hatte, würde gleich brechen!
So schnell hatte sich das Blatt gewendet. Er wurde vom Jäger zur Beute. Seine Gedanken überschlugen sich, suchten nach einem Ausweg. Wenn er fiel, war die Erde verloren. Das durfte nicht passieren.