Warum, beim Namen der verwunschenen Großen Qualle, halfen sie ihm? Baldor war verwirrt. Dieser Sergej war sogar richtig begeistert, als bestünde sein Lebenssinn nur darin, anderen zu helfen. Das Mädchen, Klara, schien auch freundlich zu sein. Die andere Frau hatte zwar auch zugestimmt, ihm zu helfen, aber ihm entging nicht, dass sie es eher tat, weil die anderen es wollten. Das entsprach mehr dem Bild, das er bisher von den Menschen hatte. Feindlich oder zurückhaltend misstrauisch.
"Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll", gab er zu. "Entweder ihr erlaubt euch einen Scherz mit mir oder das ist eine Falle." Er überlegte kurz, ob es half, aber schlimmer konnte er es ja nicht mehr machen. Er spielte seine Trumpfkarte aus. "Ihr solltet wissen, dass ich euch reich belohnen kann, wenn ihr es ernst meint und mir wirklich helfen wollt!"
Die drei sahen ihn mit großen Augen an. Klara kratzte sich in der Mähne ihres zotteligen Kopffells. Der Typ mit der Armprothese, Sergej, verschränkte die Arme und lachte. "Wir wollen dir wirklich helfen, keine Sorge."
Dass sie seine Sprache beherrschten, war noch so ein Punkt, der Baldor verwirrte. Oder er ihre, falls er sich auf Ngis Aussage verlassen konnte. Sie verstanden ihn, sie wollten ihm helfen – einfach so – da musste doch etwas faul sein. Oder ließen ihn seine Instinkte gerade vollkommen im Stich? Niemand tat etwas umsonst. Niemand! Die unglücklichen Ausnahmen zu dieser Regel konnte er an einer Hand abzählen.
"Also", sagte die Frau in den weißen Klamotten, Sarah, "ich hätte nichts gegen einen Haufen Kohle. Ich befürchte nur, dass uns die hier auf der Erde gar nichts bringt."
Kohle? Kohle ... in seinem Kopf verschwamm dieser Begriff und sein Verstand ersetze ihn durch Muscheln. Er schüttelte das unbehagliche Gefühl ab, dass er verrückt werden könnte. Das mit dem Geld war natürlich ein Argument. Die Erde war kein Teil der Galaktischen Gemeinschaft. Wäre er nicht zufällig auf ihr gelandet, hätte er nicht einmal von ihrer Existenz gewusst. Kein Geld also? Was konnte er ihnen noch anbieten? Viel hatte er ja nicht mehr. Vielleicht ...
"Zerbrich dir nicht den Kopf", unterbrach Sergej seine Gedanken. "Mir reicht es, wenn ich weiß, dass ich dir gegen die Vetis helfen kann."
"Glaub ihm ruhig, Junge. Mein Sergej ist ein strahlender Ritter, der sich nicht scheut, auch gegen das finsterste Monster des Universums in die Schlacht zu ziehen." Sarah seufzte. "Deswegen liebe ich ihn ja." Baldor entging die Ironie nicht, der Sarahs Worte umgab. War sie eine falsche Seeschlange?
Ihrem Ritter war das offenbar egal. Was ihm mehr zu schaffen machte, war der Robotermensch, den er geschultert hatte. Er ließ ihn wieder zu Boden fallen. "Verdammt schwer, das Teil", murmelte er und rieb sich die Schulter.
War das eine Chance, wie Baldor sich doch revanchieren konnte?
"Hey Ngi, jetzt enttarn dich endlich und trag die andere Blechbüchse. Dann würdest du endlich mal etwas Nützliches tun."
Neben ihm löste sich Ngis Körper aus dem Hintergrund einer Mauer. Sergej hob die Augenbrauen. "Nützliche Fähigkeit."
"Ja, so gut wie die Einzige, die er aufzuweisen hat. Er behauptet ja, ein Kampfroboter zu sein. Von wegen. Er läuft jedes Mal weg, wenn es brenzlig wird, darum bin ich schon zweimal fast gestorben." Murmelnd fügte er hinzu: "Und ich könnte bei der Großen Qualle schwören, dass mich diese 'Faust des Calu' vorher mit wirklich getötet hat."
"Wenn du gestorben bis und doch noch lebst ... bist du dann ein Zombie?", fragte Klara mit großen Augen.
"Ich habe von diesen Zombies gehört, Ngi hat mir von einer Zombieapokalypsendokumentation erzählt, aber ich habe keine Ahnung, was das ist."
"Dokumentation? Huh?", fragte Sergej ungläubig. "Hey Sarah, gab es wirklich eine Zombieapokalypse, die ich verschlafen habe?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nicht, dass ich wüsste."
"Dann hat Ngi wahrscheinlich einen Spielfilm gesehen." Sergej grinste und in Baldors Kopf ratterte es erneut, als sein Verstand irgendwie für ihn übersetzte.
"Das war alles nur erfunden?" Baldor presste seine Lippen zusammen und zog die Augenbrauen nach unten. Jetzt sah er bestimmt so sauer aus, wie sein Dad. "Nur deswegen sind wir hier in die Ruine gegangen, um nach Nahrung zu suchen. Ngi, ich werde dich demontieren lassen!"
"Boss, darf ich dich noch einmal an die Roboterwürde erinnern. Außerdem arbeite ich nur für dich, ich bin nicht dein Eigentum."
Baldor stieß ein Grummeln aus, das tief aus seinem Inneren kam. Oh, wie wünschte er sich die Zeiten zurück, in denen noch alles und jeder auf ihn gehört hatte.
"Zombies gibt es aber wirklich", warf Klara ein. "Wir haben schon welche gesehen. Du kannst sie verletzen, wie du willst, und sie stehen immer wieder auf."
"Außer du weißt, was du zu tun hast", ergänzte Sergej die Erklärung. "Trotzdem sind sie hartnäckig. Ich denke aber nicht, dass wir auf der Erde noch einmal auf welche treffen werden, es sei denn, die Vetis haben noch welche auf Eis liegen."
Diese Vetis schienen hier wohl jedes Register gezogen zu haben und trotzdem hatten die Menschen sie vertrieben. Das war ein Hoffnungsschimmer.
"Warum bist du eigentlich so fies zu deinem Roboter?", fragte Klara.
"Bin ich fies? Ich weiß nicht. Es ist schließlich nur ein Roboter."
"Roboterwürde", ächzte Ngi, als er 'Die Faust des Calu' über seinen Kopf stemmte. Das war natürlich nur theatralisches Getue, denn der Roboter konnte unmöglich Anstrengung spüren.
"Das ist irgendwie gemein. Ist er denn kein fühlendes Wesen?", hakte Klara nach.
"Bin ich", bestätigte Ngi, gleichzeitig mit Baldors "Nein!" Er sah den Roboter finster an. "Also, in meinen Unterrichtssitzungen haben wir auch Robotik durchgenommen. Unsere Roboter wurden als willenlose und gefühllose Kampfmaschinen gebaut, die ohne zu zögern gegen unsere Feinde in die Schlacht ziehen sollten. Ngi scheint eine ... Anomalie zu sein."
"Boss, darf ich auf die Roboterdynastie hinweisen, die das Galaktische Bankenzentrum beherrscht? Sie sind übrigens ebenfalls die Autoren der Gesetze zur Roboterwürde. Wenn du bei denen auftauchst und ihnen erzählst, dass sie keine Gefühle haben, siehst du dein Geld nie wieder."
"Das ist Quatsch. Sie können mir mein Geld nicht verweigern. Wenn das bekannt würde ..."
"Lass mich runter!", unterbrach ihn die Faust des Calu, die scheinbar wieder zu Bewusstsein gekommen war.
"Soll ich ihn runterlassen?", fragte Ngi nach.
"Benimmst du dich, Moritz?" Die Frage kam von Sergej. Statt eine Antwort zu geben, zappelte der Robotermensch weiter vor sich hin. Ngi setzte ihn nicht ab.
Ein Objekt surrte an Baldors Kopf vorbei und folgte Ngi schwebend. "Was ist das?"
"Ah", holte Sergej aus, "Moritz filmt sich jeden Tag und strahlt seine Untaten in der Zitadelle aus. Da kann sich dann jeder ansehen, wie er hier auf gewaltvolle Weise Selbstjustiz ausübt oder in die Zitadelle einfällt, das Sicherheitskorps auseinandernimmt und Menschen tötet, die er für Vetis hält."
"Und jetzt hat er seinen Fans gezeigt, dass jeder Möchtegernheld auch fallen kann", kommentierte Sarah die Sache spöttisch. "Sag mal, Sergej, weißt Du eigentlich, wo das Hauptquartier ist?"
"Nein, aber Klara weiß es. Hab ich Recht?"
Das Mädchen nickte, ohne zu erklären, woher und nickte dann ein zweites Mal in die Richtung, in die sie gehen mussten.
Nach einer Weile gesellten sich zu dem einen Objekt noch viele weitere, die ihnen wie ein Schwarm Libellen summend und mit Abstand folgten. Sie blieben friedlich. Genau wie die Menschen in den Ruinen. Ja, hier lebten noch viel mehr von ihnen. Sobald sie die Gruppe kommen sahen, flüchteten sie und beobachteten sie neugierig aus der Sicherheit der verfallenen Gebäude.
"Was sind das für Menschen, die hier in den Ruinen hausen?", fragte Baldor. "Ich dachte eigentlich, es gäbe eine richtige Stadt hier? Die Zitadelle, oder so?"
Sarah zuckte mit den Schultern. "Das sind Verbrecher und Menschen, die der Zitadelle entkommen wollen."
"Entkommen?" Die Welt dieser Menschen war wirklich sonderbar.
"Ja, die versuchen der Zitadelle zu entkommen", erklärte Sergej. "Wenn du im richtigen Teil der Zitadelle lebst, geht es dir gut, aber für jeden anderen ist sie ein Käfig. Die Armen schuften für die Reichen und wer sich wehrt, erleidet einen tragischen Unfall oder landet im Gefängnis. Wer das kapiert flieht und landet hier, wo er von den Banden rekrutiert oder versklavt wird."
"Das hört sich auch nicht besser an."
"Nein", fuhr Sergej fort. "Aber wenn du Glück hast oder Verbindungen, dann schaffst du es in eine der neuen Siedlungen. Natürlich wartet dort ebenfalls Arbeit auf die dich, aber du bist frei. Weit genug entfernt von der Zitadelle oder den Banden."
"Ihr gehört zu denen, die Glück hatten?"
"Nein, wir sind besonders", raunte Klara ihm zu, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ganz nah neben ihm lief. "Wir haben nie wirklich zur Zitadelle gehört."
Baldor vergrößerte den Abstand wieder – so ganz geheuer war ihm die Nähe doch noch nicht. Hätte er sich die Flirterei besser gespart.
Wenn er das richtig verstand, gehörten sie auch jetzt noch zu keiner Gruppe. Klara konnte mit Tieren reden, das war besonders. Auf Nethufia konnte das niemand. So wie Sarah bei Klaras Erklärung reagiert hatte, war das auf der Erde nicht anders. Wurde sie verfolgt, weil sie besonders war, genauso wie er, weil er nicht von diesem Planeten stammte?
"Haben die Menschen hier Angst vor euch?", fragte Baldor. "Also die, die sich in den Ruinen verstecken?"
"Das sollten sie besser haben", behauptete Sarah und grinste. Ein Grinsen, das Baldor nicht gefiel. "Wenn sie uns zu nahe kommen und was Komisches versuchen, werden sie von einer Armee aus Spinnen oder Ratten gefressen. Nicht wahr, Kleines?"
Das war an Klara gerichtet, die ihr einen Blick zurückwarf, der sie mit tausend Harpunen durchbohrte. Die beiden mochten sich nicht, so viel war klar. Sergej, ihr Ritter, er war das Bindeglied, das sie zusammenhielt. Derjenige, der sie dazu brachte, ihm zu helfen. Er war es, mit dem Baldor sich gut stellen musste, wenn er an sein Ziel kommen wollte. Auch mit Klara. Denn sie musste richtig mächtig sein, wenn sie eine ganze Armee Ratten mobilisieren konnte. Ratten hörten sich gefährlich an. Sein Verstand suchte nach Bildern, um es diesem Wort zuzuordnen. Vergeblich. Ohne zu wissen, was Ratten genau waren, konnte er nur Vermutungen anstellen. Aber eines war sicher: Klara musste so etwas, wie eine Präsidentin der Tiere sein.
Er betrachtete sie genauer, als sie wieder davon schnellte und seine Blicke nicht mehr bemerken konnte. Für eine Herrscherin war sie ziemlich ungepflegt, ihre Kleidung skurril. Die Haare, das Fell, das die Menschen auf dem Kopf hatten, waren verfilzt und matt. Im Gegensatz zu Sarahs, die schwarz glänzend in der leichten Brise tanzten, die durch die Stadt zog. Klaras Haare reichten bis zur Mitte ihres Rückens und ... er konnte schwören, dass sich gerade etwas in ihnen bewegt hatte! Er kniff die Augen zusammen, doch jetzt war sie zu weit weg.
Sie trug eine Rüstung, die an Aufzeichnungen über nethufische Ureinwohner erinnerte. Sie war gespickt mit glänzenden Schuppen, bunten Federn und Fell. Die Rüstung war mit dem Schmuck verwachsen und hatte einen Grünstich. Oder war sie braun? Vielleicht war es einfach nur der Dreck, der ihr diese Farbe verlieh und alles zusammenhielt.
Klaras Gang unterschied sich von dem der anderen beiden. Manchmal spazierte sie aufrecht neben ihnen her, kurz darauf huschte sie gebückt in die Schatten einer Ruine und spähte um die Ecke. Aus den Schatten kehrte sie in Begleitung zurück. Drei hässliche Tiere, die sie flankierten. Mit der Art, wie Klara über den Boden krabbelte, hätte man sie auf den ersten Blick für eine von ihnen halten können.
Er löste den Blick von dem sonderbaren Mädchen, ließ ihn über die Umgebung schweifen und zog die Augenbrauen hoch. Es sah so aus, als wären sie die Ursache einer ganzen Völkerwanderung. Trieben die Ruinenmenschen vor sich her, wurden von surrenden Roboterfliegen verfolgt und von Kreaturen aus finsteren Gutenachtgeschichten beschützt. Und Baldor stand im Mittelpunkt von alledem. Er lächelte. Im Mittelpunkt, so wie es sich für einen zukünftigen Präsidenten gehörte.
Sie erreichten ein Gebäude, das sich von der zerfallenen Umgebung abhob. Vielleicht war es vor einer Weile noch eine Ruine gewesen, jetzt aber sorgfältig repariert. Eine Tür aus stabilem Metall, die ihn um etwa zwei oder drei Köpfe überragte, zierte seine Front.
"Das ist es?", fragte Sergej.
Klara nickte abwesend. Unterhielt sie sich gerade mit irgendwelchen Tieren oder träumte sie nur? Dann sprach sie doch noch. "Ich habe keinen anderen Eingang entdeckt, wir müssen hier durch."
"Müssen wir?", fragte Sarah mit gespielter Überraschung. "Mein Süßer kann an jeder beliebigen Stelle einen neuen Eingang in die Wand hauen. Komm, lass mal deine Muskeln spielen."
"Ich würde dir den Gefallen gerne tun, aber überleg mal, was passiert, wenn wir das machen. Moritz hat dort unten einen Haufen gefährlichen Scheiß gebunkert. Wenn die Banden da ran kommen, weil wir einen unverschließbaren Eingang schaffen, gibt es hier bald eine kleine Armee. Das will ich Captain Lover nicht antun, nachdem er sich die letzten Monate so bemüht hat, sich mit uns gutzustellen."
"Süßer, hab ich dir schon gesagt, dass du einfach zu gut für diese Welt bist?"
"Ich kann mich zwar nicht mehr an alle 537 Mal heute erinnern ..."
Die beiden lachten und grinsten sich an. Klara verdrehte die Augen und nuschelte etwas, das Baldor nicht verstand. Schließlich ging Sergej zur 'Faust des Calu' und klopfte gegen seinen Helm. Der hörte auf zu zappeln.
"Hey, Moritz, machst du uns die Tür auf, oder sollen wir sie einschlagen?"
Moritz? Gut, das war sehr viel kürzer als 'Die Faust des Calu'. Nach zunächst ausbleibender Reaktion fing er wieder zu zappeln an und zeigte mit beiden Händen auf seinen Helm. Dort wo sich die Ohren befinden würden, wenn der Helm welche gehabt hätte.
"Vielleicht ist er taub?", vermutete Baldor. "Oder sein Roboteranzug ist defekt. Würde mich nicht wundern, so zerbeult, wie der aussieht. Konnte er eben nicht auch noch reden?"
Sergej fingerte am Hals des Anzugs herum und drei schnappende Geräusche später zog er den Helm ab. Ein Kopf mit gelben, gekringelten Haaren kam zum Vorschein und begann Sergej zu beschimpfen. "Du bist echt ein Arsch, Eisenarm, mich die ganze Strecke bis hierher zum Gespött der Zitadelle zu machen. Wenn ich wieder ..."
Sergejs Gesicht blieb fest wie eine Felswand und er hob den Helm wieder über Moritz' Kopf. Der riss die Augen auf und schluckte den Rest seines Satzes runter.
"Also? Machst du uns die Tür jetzt auf und bietest uns, wie ein artiger Gastgeber, Getränke und Kekse an?"
"Bleibt mir etwas anderes übrig?"
"Nein, wenn du nicht mitspielst, zerlegen wir den Eingang und verteilen all deine Spielzeuge unter den Armen."
Moritz nuschelte etwas, das sich eindeutig nach einer Beleidigung anhörte. "Also gut, lass mich runter."
Sergej nickte Ngi zu, der seine Last krachend auf den Boden fallen ließ. Moritz richtete sich knirschend und quietschen auf, ging einen Schritt nach vorne und posierte vor der Tür. Geräuschlos öffnete sie sich und gab den Blick auf graue Stufen frei, die in der Tiefe verschwanden.