Der Abstieg zog sich ewig hin und Baldor wurde der monotonen Inneneinrichtung langsam überdrüssig. Überall kaltes, schmuckloses Grau, fast wie das der Straße. Nur hier gab es noch nicht einmal Krater, um für etwas Abwechslung zu sorgen. Jedes Mal, wenn die Treppe eine Plattform erreichte, nur um auf der anderen Seite noch weiter in die Tiefe zu führen, fragte er sich, was das für ein bemitleidenswertes Wesen sein musste, das so tief unter der Erde hauste – unter all diesem Grau. Zu Anfang hatte Baldor noch versucht, die Stufen zu zählen, damit er bei späteren Erzählungen damit angeben konnte, irgendwo hatte er sich verhaspelt und er wollte nicht noch einmal ganz nach oben laufen, nur um die exakte Anzahl in Erfahrung zu bringen.
Nachdem Tage vergangen waren – vielleicht auch Wochen –, erreichten sie eine Tür, die der Zwilling der Eingangstür ganz oben war. Auch die öffnete sich ohne Murren, als sich 'Die Faust des Calu' davorstellte.
Was sie empfing, war wohl für einen Mechaniker dasselbe, was die heiligen Pewi-Inseln für einen Schellpilger waren. Hier drinnen war von den monotonen grauen Wänden nichts mehr zu erkennen. Stattdessen waren sie bedeckt von Maschinen, Werkzeugen und Ersatzteilen. Die Wände waren so überladen, wie hielten das Zeug dort nur, ohne sie einzureißen oder wenigstens selbst herunterzufallen?
"Bei der Großen Qualle!", rief er aus. Denn jetzt, da sie ihm diesen Schatz präsentierte, war er zu einem wahren Gläubigen geworden. "Müssen wir überhaupt noch in die Stadt? Gibt es hier nicht alles, was man zur Reparatur meines Schiffes benötigt?"
"Das kannst du knicken, Vetis!", spuckte Calu aus. "Nichts hiervon funktioniert, wenn ich es nicht selber bediene. Und eher sterbe ich, als meine Werkzeuge in die Dienste eines Monsters zu stellen, das unsere Welt vernichten will!"
"Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich bin kein Vetis. Ich –"
"Du kannst mir viel erzählen", unterbrach ihn Calu, "aber ich durchschaue –"
Baldor setzte seinen Satz mit Nachdruck und mehr Lautstärke fort: "– bin ein Nethuf. Die Vetis haben meine Heimat zerstört. Wie kannst du es wagen, mich für einen von ihnen zu halten!"
Den letzten Satz stieß er mit einem verzweifelten Brüller aus und funkelte Calu durch die Schlitze seiner zusammengezogenen Augen an. Der verstummte. Damit hatte er ihn tatsächlich zum Schweigen gebracht.
"Moritz hat recht. Wenn er nicht will, nützt uns die ganze Technik hier nichts." Sergej war offenbar nicht nur Ritter, sondern gleich noch Diplomat. "Moritz, gibt es irgendetwas, um dich umzustimmen?"
Calu oder Moritz, oder wie auch immer dieser Spinner hieß, schüttelte nur verbissen den Kopf. Sein Blick sprang hoffnungsvoll zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite, die sich lautlos geöffnet hatte. Ein alter Mensch betrat den Raum und versetzte den Rest der Gruppe in Erstaunen. Sein Gesicht war müde und und graues Menschenfell bedeckte seinen Kopf.
"Hey, das ist doch ...", grollte Sergej und seine Miene veränderte sich. Seine Augenbrauen bildeten einen Strich über seinen zusammengekniffenen Augen und seine Nackenmuskeln traten hervor. Dieser Mann war eindeutig keiner seiner Freunde. Schlimmer noch als Calu. Ihn behandelte er wie ein kleines Kind, das unbewusst etwas – viel – Schlimmes angestellt hatte. Jetzt aber knisterte die Luft. Dieser Mann war ein richtiger Feind.
Er war gespannt, was Sergej, der ja angeblich Stahltüren zerstören konnte, mit ihm anstellen würde. Was er aber tat, verwirrte Baldor. Plötzlich entspannte Sergej sich wieder und starrte nur noch regungslos in die Richtung des Opas.
"Mist!", brüllte Klara und streckte ihre Hand in seine Richtung aus. Die drei Tiere huschten an ihr vorbei, auf ihn zu und Baldor war sich sicher, dass sie ihn gleich anfallen würden. Als sie ihn erreichten, tänzelten an ihm vorbei und hielten an. Sie sahen sich verwirrt um, kratzen sich und verteilten sich im Raum. Klara stand nun völlig emotionslos neben ihm und ihre Hand sank langsam herab.
Sarah hatte noch nicht einmal einen Angriffsversuch unternommen, als sie dasselbe Schicksal ereilte. Baldor verstand nicht, was hier passierte, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass er dem Gruppenzwang folgen sollte. Er tat einfach so, als sei ihm ebenfalls alles egal.
Calu lachte. "Nil, gut dich zu sehen. Wenn du meine Freunde wieder nach draußen begleiten könntest."
Der Mann hatte die Hände hinter seinem Rücken zusammengelegt, ging mit wohlbedachten Schritten auf die Gruppe zu und musterte sie. "Junger Meister, ich denke, das werde ich nicht tun." Die Stimme klang, als würde er durch seine Nase sprechen. Seltsam, diese Menschen. "Du hast mir gerade alle unsere Feinde auf dem Silbertablett präsentiert."
"Wie meinst du das? Das sind doch keine Vetis, außer dem mit den Tentakeln."
"Du hast recht. Beinahe." Der Mann blieb vor Baldor stehen, sah im in die Augen und ließ dann seinen Blick an ihm herunter und wieder hinauf wandern. "Nicht einmal der mit den Tentakeln ist ein Vetis." Der alte Mann seufzte. "Weißt du, junger Meister, eigentlich hast du nie wirklich gegen die Vetis gekämpft. Man könnte sagen, dass eher das Gegenteil der Fall war."
"Wie meinst du das?" Calu war verwirrt. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in Baldors Magen breit und das war nicht nur der Hunger. Er fragte sich, ob er nicht irgendwie eingreifen sollte. Konnte er das denn überhaupt?
"Nun, junger Meister, du vergisst das zwar immer wieder, aber ich bin der einzige Vetis in diesem Raum. Und so, wie es aussieht, benötige ich deine Dienste ab jetzt nicht mehr. Der Widerstand in der Zitadelle ist schwach. Keiner glaubt so wirklich an unsere Existenz und die einzigen Menschen mit Fähigkeiten und einer Motivation, uns gefährlich zu werden, stehen vor mir. Ich habe sie ihrer Emotion beraubt, ihrem Wunsch, mich anzugreifen, und sie vergessen in jeder Sekunde, was ich die Sekunde davor gesagt habe."
In Baldors Kopf ratterte es. Sergej hatte gefragt, ob er besondere Fähigkeiten habe, weil alle Außerirdischen Fähigkeiten besaßen. Dieser Mann war ein Vetis. Was war seine Fähigkeit? Die Leute um sich herum zu willenlosen Zombies zu machen? Er ließ sie vergessen, was passiert war, was sie tun wollten? Baldor konnte sich noch an alles erinnern und seinen Willen hatte er ebenfalls noch. Warum wirkte das nicht bei ihm? Oder sah der Mann keine Gefahr in ihm?
Auch Calu zeigte noch Gefühle, Zorn und Verzweiflung. "Ich dachte, wir stehen auf derselben Seite!", brüllte er. "Ich habe dir vertraut! Weißt du, was ihr mir alles genommen habt?" Dann verstummte er.
"Oh, diese Theatralik. Du verzeihst mir, junger Meister, aber ich bin alt, meine Ohren empfindlich und meine verbliebene Zeit ist zu kostbar, um sie damit zu verbringen, mir zum tausendsten Mal dein Leid anzuhören."
Er wandte sich Baldor zu. "Du scheinst zufällig mit in diesen Schlamassel gezogen worden zu sein. Ich habe heute einen großen Sieg für mein Volk errungen und bin deswegen gnädig. Du darfst gehen, wenn du magst."
Baldor glotzte ihn an, ohne sich zu rühren. Das war ein Test, oder? Vielleicht ein schlechter Scherz? Sobald er sich rührte, war er sicher geliefert.
"Willst du das wirklich, Boss?", flüsterte ihm die elektronische Stimme Ngis ins Ohr. Oh der war ja auch noch da. Natürlich war er, wie immer wenn es brenzlig wurde, unsichtbar geworden. Und nein, Baldor wollte nicht wirklich abhauen. Diese Leute waren nützlich. Wenn er sie verlor, musste er wieder bei null anfangen. Doch hatte er eine Wahl?
"Du bist wirklich ein Vetis?", fragte er vorsichtig.
"Klar." Der alte Mann blieb gelassen, so als sei es überhaupt nichts Besonderes, dass er einer plündernden und mordenden Rasse angehörte, die Gedanken fraß und gleich vier Menschen umbringen wollte.
"Du siehst selber aus wie ein Mensch. Und so alt ..." So alt, dass er ihn in einem Kampf besiegen könnte, auch wenn Baldor selbst noch nicht ausgewachsen war? Er musste sich nie auf einem Schulhof mit den anderen Jungs prügeln, woher sollte er das also wissen?
"Ich bin sogar noch viel älter", antwortete der Mann. "So alt, wie kein menschlicher Körper jemals werden kann. Du kannst mir ruhig glauben, dass ich kein Mensch bin. Sieh dir deine Freunde doch an, wie sie dastehen. Hilflos. Festgefroren in ihrer Emotionslosigkeit."
"Die Vetis, die meinen Heimatplaneten gefressen haben, waren gigantische schwarze Schatten. Dieser Trick hier wirkt dagegen ... blass. Tut mir echt leid, dass ich das sagen muss."
Das war frech, das wusste Baldor, mutig und wahrscheinlich auch ziemlich dämlich. Aber er hatte einen Plan. Die Stirn des Alten zog sich in Falten.
"Nein wirklich", fuhr Baldor fort. "Sie konnten das ganze Meer und alle Meerestiere mit einem Happs verschwinden lassen. Korrigier mich ruhig, aber außer zu labern, hast du hier noch nichts geleistet."
Ja, da war es. Zorn funkelte in den Augen des Vetis. Funktionierte sein Plan oder lag er total daneben? Er wollte ihn so sehr reizen, dass er es nicht mehr schaffte, die anderen zu kontrollieren. Einer würde ja reichen, das waren ja alles Kämpfer, im Gegensatz zu ihm. Doch das Gesicht des Vetis entspannte sich. Konnte er am Ende auch noch Gedanken lesen?
Als ob seine Ahnung zuträfe, begann sein Kopf zu schmerzen. Es war nicht wie bei den Schell. Kein Stechen, eher ein Sog. Eindeutig kein Gefühl, das etwas in seinem Kopf zu suchen hatte. Würde er gleich nichts mehr fühlen und willenlos rumstehen, wie die anderen? Wie in einem Horrorfilm in seinem Körper gefangen sein, während der Alte das mit ihnen tat, was er wollte?
Der Sog ließ schlagartig nach – Baldor konnte sich immer noch erinnern und sein Hass auf die Vetis war nicht verschwunden.
"So – viele – Erinnerungen ...", keuchte der Vetis und hielt sich den Kopf. Seine Beine zitterten, was jetzt viel besser zu seinem Alter passte. "Was –" Er wollte etwas sagen, wurde aber Ngi unterbrochen, der sich plötzlich aus dem Nichts auf ihn stürzte.
"Keiner stiehlt mir meine Erinnerungen!", brüllte der, die Stimme zu einem Kreischen gesteigert, und es war das erste Mal, dass Baldor Angst vor ihm bekam. "Das ist gegen die Roboterwürde!"
Ngi riss den Alten zu Boden und das Leben kehrte in die anderen zurück. Sie sahen mit verblüfftem Blick auf die Szene, die sich ihnen bot. Warum halfen sie nicht? Mussten sie sich etwa erst wieder daran erinnern, wo und wer sie waren?
Der Alte rappelte sich auf, Ngis Angriff war doch nicht so energisch gewesen, wie er schien. Waren seine Kampfroutinen wirklich so lausig? Nil nutzte die allgemeine Verwirrung und stürzte aus dem Raum. Baldor sprang ihm hinterher. Er musste ihn aufhalten!
Dann stolperte er. Eine dieser Ratten war ihm zwischen die Beine gerannt! Baldor fiel und schlug der Nase nach auf dem harten, grauen Boden auf.