Lichtflecke hüpften über Baldors Arm und die Tentakelhärchen warfen Schatten. So wie die Palmen am Strand seiner Privatinsel es getan hatten. Doch sehr es ihm auch gefiel, unter der Wärme dieses Sterns zu wandeln, nagten doch bereits wieder kalte Zweifel an ihm.
Diese Welt schien erbarmungslos, auch seinen eigenen Bewohnern gegenüber. Jeder musste für sein eigenes Wohl kämpfen, um überleben zu können. Niemand schien wirklich frei zu sein. Egal, wohin ein Mensch ging, er entkam der Zitadelle nicht.
Er unterhielt sich auf dem Weg mit Sergej. Auf Nethufia hätte er den als Verschwörungstheoretiker schon lange davongejagt, aber er brauchte ihn ja. Nach seiner Begegnung mit Spinnern wie Moritz und den Reportern mit ihren abstrusen Fragen klang das auch nicht mehr so abwegig. Dennoch …
"Ihr besitzt also einen Rat, deren Mitglieder von allen Menschen gewählt werden, der hat nur in Wirklichkeit nichts zu sagen? Warum lehnen sich die Menschen dagegen denn nicht auf?"
"Sie sind zufrieden, faul oder sehen einfach die Probleme nicht. Die Unterweltler, die in den Etagen unter der Erde leben, werden mit Unterhaltung und Drogen ruhig gehalten. Nur wenige schaffen es aus der Stadt, wenn sie überhaupt erkennen, in welcher Lage sie stecken. Und die Zitadelle kann es sich nicht leisten, billige Arbeitskräfte zu verlieren."
"Gibt es niemanden, der sich für sie einsetzt?"
"Ach was. Die meisten Oberweltler sind doch genauso ahnungslos. Die Medien sorgen dafür, dass sie nichts mitbekommen. Bis wir das Tor in die Welt hier draußen geöffnet haben, wusste ein Großteil von ihnen nicht einmal, dass es sie gibt."
"Aber jetzt seid ihr draußen. Warum versuchen nicht mehr Menschen, sich von der Zitadelle zu lösen und hier neu anzufangen?" Das war wenigstens der Schritt, den Baldor mit diesem Wissen versucht hätte.
Sergej lachte bitter. "Anfangs passierte das. Unterweltler flohen aus den Tiefen des Turms und siedelten sich rund um ihn an. Verlangten mehr Privilegien. Der Rat gab nach, aber nur etwas. Sie genießen jetzt mehr Komfort und das hat ausgereicht, um sie glücklich zu machen. Den Oberweltlern wird alles, was hier draußen passiert, als Show präsentiert. Kaum einer glaubt, dass jemand wie 'Die Faust des Calu' wirklich existiert und echte Menschen tötet."
"Und die, die es wissen? Wie können sie tatenlos zusehen?"
"Die wirklich Mächtigen profitieren ja davon. Der Rest will sein bequemes Leben nicht verlieren."
"Wenn man nicht selbst in dieser Welt gelebt hat, ist es schwer zu verstehen", warf Sarah ein. "Ich habe vieles auch erst hier draußen erfahren. Erst nachdem ich durch das Raster gefallen bin und die Zitadelle verlassen musste."
"Hättest du etwas unternommen, wenn du die Wahrheit vorher gekannt hättest?", hakte Baldor nach.
Sarah schwieg und Baldor nutzte die Pause, um sich unter einem mit grünen Stacheln bewehrten Ast hinweg zu ducken. Sie hatten die Ruine verlassen und kämpften sich jetzt wieder durch tiefen Wald. Es gab solch eine Vielfalt unterschiedlicher Bäume, in Grün, Rot und sogar Lila, so viele Sorten, dass sich Baldor fragte, wie es sein konnte, dass auf Nethufia nicht wenigstens einige davon entstanden waren.
"Ich muss ehrlich sein", antwortete Sarah dann doch noch. "Selbst, wenn ich gewusst hätte, wie die Menschen in der Unterwelt leben, oder was hier draußen tatsächlich auf mich wartet, ich hätte die Oberwelt nicht verlassen wollen. Die Angst, meine Karriere zu verlieren, selbst in die Lage der Unterweltler zu geraten, wäre für mich zu groß gewesen."
"Hmm", brummte Baldor. "Ja, das kann ich nachvollziehen. Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich Nethufia nie verlassen. Nachdem ich das alles gehört habe, wundert es mich umso mehr, dass ihr mir helfen wollt, ohne dass sich eure Lage dabei verbessert oder ihr einen Profit daraus schlagt."
"Also ich liebe es hier draußen", rief ihm Klara zu, sprang mit Anlauf auf einen umgestürzten Baumstamm und balancierte leichtfüßig über die Oberfläche, die von rotem Moos bewachsen war. Dann hüpfte sie auch der anderen Seite herunter und lugte hinter seinem Ende wieder hervor. "Für mich wäre es viel schlimmer, wenn man mich wieder dort drinnen einsperren würde. Egal wo. Unterwelt oder Oberwelt, der Unterschied ist nur die Farbe des Käfigs."
Der Wald war für sie das, was die Wellen für ihn waren. Freiheit.
"Wie tiefgründig du heute bist", neckte Sergej sie und musste dafür einem Schauer brauner Objekte ausweichen, die hier überall an den Bäumen hingen. "Klara hat natürlich recht. Die Zitadelle kann uns nichts mehr wegnehmen, indem sie uns rauswirft. Es ist unwahrscheinlich, dass sie uns einsperren würden, nur weil wir dich unterstützen. Wenn sie deine Existenz verbergen wollen, tarnen sie es einfach als neue Unterhaltungsshow."
"Aber was gewinnt ihr dabei?" Baldor sah zwar ein, dass sie nichts verloren. Nur für ihn wäre das keine überzeugende Motivation gewesen. "Ihr habt zwar behauptet, dass ihr den Vetis damit eins auswischen wollt, es sieht aber nicht so aus, als würdet ihr besonders unter ihnen leiden."
"Wenn wir dir helfen und verhindern, dass du hier stirbst, wird allein schon das Veränderungen bringen. Jeden, die wir damit aus ihrer Illusion holen können, ist ein Gewinn." Sergej schien wirklich überzeugt davon zu sein. Mit ernster Stimme fuhr er fort: "Wir haben die Tore in die Außenwelt geöffnet und Hunderten den Weg in die Freiheit ermöglicht. Tausenden geht es besser als zuvor, auch wenn sie immer noch unter der Herrschaft der Zitadelle stehen."
"Und du meinst, meine Existenz verändert noch mehr?"
"Wenn ihnen klar wird, dass es dort draußen noch mehr gibt, wird das weiter Menschen wach rütteln."
"Oder sie dazu bringen, sich noch mehr zu verschanzen?" Oder Schlimmeres. Baldor dachte an den Mann mit dem Gewehr.
"Na deswegen bringen wir ja einen freundlichen Außerirdischen mit und keinen Vetis."
"Und ihr macht das nicht etwa, um als Helden dazustehen?"
Sergej zog die Augenbrauen zusammen und für einen Moment fürchtete Baldor schon, dass er jetzt sein wahres Gesicht zeigen würde. Dann grinste er. So richtig breit in Sarahs Richtung rüber. "Was wäre daran denn so falsch? Immerhin bekomme ich ständig zu hören, was ich für ein Held bi. Dann könnte ich dem Ruf endlich gerecht werden."
Er wurde wieder ernst.
"Ich hatte gedacht, dass man uns nach der Öffnung der Zitadelle als Helden feiert. Aber so verdreht, wie die Medienkonzerne die Toröffnung dargestellt haben, dreht sich noch nicht einmal jemand um, wenn er mich auf der Straße sieht."
Sergej wollte also ein Held sein. Klara folgte ihm, weil sie Freunde waren und vielleicht, weil sie an der Kreatur interessiert war, die ihrer Meinung nach in ihm hauste. "Warum hilfst du mir, Sarah?"
Wieder eine Pause. Ob sie es selber nicht so genau wusste? Oder überlegte sie sich eine Antwort, die ihm gefiel? Sie schien sich aber für die ehrliche Variante zu entscheiden.
"Ich gewinne dabei nichts. Ich bin nur wegen Sergej dabei. Sonst wärst du mir egal." Sergej blickte sie an. Wägte wohl ab, ob sie das ernst meinte.
"Nein, das ist okay", warf Baldor ein, bevor es noch zur Krise zwischen den beiden kam. "Das ist wenigstens eine Antwort, die ich verstehe. Was mich auch zu der nächsten Frage bringt. Warum sollte euer Sicherheitskorps mir helfen wollen?"
"Ach, das Sicherheitskorps würde dich aus Vorsicht einfach in Stücke schießen", erklärte Klara im Plauderton. Na, das war aber beruhigend. "Aber, Captain Lover ist ein ... hmm … Verbündeter?"
Kein Freund? Er konnte nur hoffen, dass Sergej für ihn überzeugendere Argumente parat hatte.
"Nicht euer Einziger, hoffe ich. Ich hab nicht gerade Lust, noch einmal erschossen zu werden. Wenn es ginge, wäre es mir Recht, wenn in meiner Gegenwart überhaupt nicht mehr geschossen wird."
"Glaub mir, das Sicherheitskorps verfügt auch über tödliche Nahkampfwaffen", merkte Sarah trocken an. Nachdem sie sich solche Mühe gegeben hatten, ihn aufzubauen, versuchten sie ihn jetzt wieder in Panik zu versetzen?
"Keine Sorge", Klara war unbemerkt hinter ihm aufgetaucht. "Wir beschützen dich schon." Dann rannte sie davon und lieferte sich ein Wettrennen mit einem kleinen Felltier, das aus dem Unterholz geschossen kam.