Sie waren immer noch unterwegs, als es dämmerte. Baldor, der sonst um diese Zeit erst wieder aufstand, kam es ihm komisch vor, dass die anderen jetzt das Nachtlager aufschlagen wollten. Aber auch er war ausgelaugt und sein Körper verlangte nach Ruhe, egal was sein Verstand dazu meinte.
Klara sah sich um und drückte sich zielstrebig zwischen zwei Bäumen hindurch. "Hier! Kommt her!"
Baldor folgte ihr und schob die piksenden Äste mit ausgestreckten Zeigefingern von sich weg. Eine kleine Lichtung, die genug Raum für jeden von ihnen bot, um sich auszubreiten. Er wusste nicht, was sich die Erdlinge unter einem Nachtlager vorstellten, ließ Sergej vorbei und beobachtete die beiden.
Sergej holte ein kleines schwarzes Plättchen aus einem Teil seiner Rüstung hervor, legte es auf den Boden und drückten auf einen Punkt in seiner Mitte. Das Plättchen wuchs, seine Masse tastete sich behutsam voran, wie die Beine einer ölverschmierten Seespinne. Es verwandelte den ehemals grünen Boden in eine schwarze Fläche. Neugierig ging Baldor heran und als sich niemand panisch auf ihn stürzte, um ihn aufzuhalten, stieß sie mit seinem Zeigefinger an.
Weich. So verdammt weich und viel bequemer, als auf dem harten Boden zu schlafen.
"Das ist eine Synthratze", erklärte Sergej. "Sie ist bequem, wobei das nicht der Hauptgrund ist, warum ich nicht direkt auf dem Boden schlafe. Sie verfügt über Abwehrmechanismen, die mir lästige und tödliche Parasiten vom Leib halten."
Klara schnaubte. "Man sollte wohl eher sie vor dir retten."
Baldor sah zu ihr rüber. Sie lehnte an einem Baum und machte keine Anstalten, ein Bett aufzubauen. Schlief sie im Stehen?
Sergej bemerkte seine Verwirrung. "Klara braucht so etwas nicht. Sie hat ihren ganz eigenen Deal mit den Viechern. Es würde ihnen nicht gut bekommen, wenn sie ungefragt über sie herfallen würden."
Anerkennend zog Baldor die Augenbrauen hoch.
"Fang!", rief Sarah und warf ihm etwas zu. Es prallte an seiner Handfläche ab und fiel. Baldor griff hastig danach, und zwei Handbewegungen später klemmte es zwischen Zeige- und Mittelfinger. Es war ebenfalls ein schwarzes Plättchen.
"Was mache ich damit?"
"Einfach irgendwo hinlegen und draufdrücken", erklärte Sergej. "Es passt sich dem Boden von selbst an."
"Und wie packe ich es wieder ein?"
"Einfach nochmal drücken. Der Knopf wandert in eine Vertiefung, damit du beim Schlafen nicht aus Versehen vom Einpackmechanismus gefressen wirst."
"Ahaha … danke." Es stellte sich lieber nicht vor, wie ihn die schwarze Masse versehentlich für Ungeziefer hielt, packte und in die Tiefen des Plättchens zog. Oh … zu spät.
Nachdem jeder seinen Schlafplatz vorbereitet hatte, holte Sarah aus ihrer Tasche weitere Plättchen heraus und baute mit ihnen in der Mitte der Lichtung Tisch, Hocker und eine Stehlampe auf.
Gemeinsam verspeisten sie die Reste, die sie aus Calus Hauptquartier mitgenommen hatten. Bis auf Ngi, der gedankenverloren in den Himmel starrte. Vielleicht war er auch im Standby-Modus. Baldors Blick hingegen war auf die Tischmitte gerichtet.
"Wofür ist das Loch?" Er hatte so einige Fragen, jetzt da er mit der Kultur der Menschen in Verbindung kam und nicht nur mit ihren Projektilen.
Mit einem Stoß beförderte Klara Teller und Besteck, die der Nahrungssynth zusammen mit dem Essen produziert hatte, in Richtung der Tischmitte. Das Geschirr kippte und verschwand.
Er hatte Klappern erwartet, stattdessen folgte Stille. Klara grinste. "Schau hinein."
Baldor lehnte sich gehorsam über die Tischplatte und schielte in das Loch, das vollkommen leer war. "Ist das … ein Zaubertisch?"
"Magie!" Klara kicherte und wedelte mit ihren Fingern durch die Luft. "Quatsch. Der Tisch zerlegt das Zeug und speichert die Einzelteile oder verteilt sie in der Luft. Geht umgekehrt genauso, wie beim Nahrungssynth vorher. Wenn sie das richtige Rezept oder die richtige Bauanleitung kennen, können die Synths alles bauen. Unsere Rüstungen funktionieren übrigens genauso."
Ah, dann schien es nicht nur so, als sei Klaras Rüstung um ihre Schmuckstücke gewachsen, sie war es tatsächlich?
"Natürlich geht immer etwas dabei verloren", fügte Sergej hinzu. "Das hätte für uns in der Zitadelle irgendwann das Ende bedeutet. Ohne neues Material von außen wäre sie irgendwann über uns zusammengekacht. Es gab Ebenen, die komplett baufällig waren."
"Wow, ihr seid also wirklich Helden und habt alle gerettet, als ihr sie nach draußen geführt habt ... also alle, die nicht von Riesenechsen gefressen oder Spinnern umgenietet wurden."
Klara prustete und Sergej funkelte ihn an. Die Sache mit dem Helden schien Sergej doch etwas zu bekümmern.
Nein, er hatte Freunde dabei verloren und jetzt, als er daran dachte, tat es Baldor leid, dass er sich darüber lustig gemacht hatte.
"Sorry."
Sergej winkte ab. "Sonst tut es auch keinem leid. Okay ... Schlafenszeit, Kinder. "
"Witzig." Klara hüpfte vom Stuhl, gab ihm einen halbherzigen Schlag gegen die Schulter und schlenderte zum Baumstamm. Sie lehnte sich dagegen und fragte bereits im Halbschlaf: "Wer übernimmt die erste Nachtwache?"
"Das kann Ngi machen, der muss sowieso nicht schlafen", bestimmte Baldor.
Der sah von seinen Sternen herab. "Oh, gerne, Chef. Dann fühle ich mich nicht mehr so nutzlos zwischen so vielen heldenhaften Menschen."
Ngi war den größten Teil ihrer Reise stumm gewesen. Worüber er wohl nachgedacht hatte? Und weshalb machte Baldor sich darüber Sorgen? Es war ja nur ein Roboter.
Sie löschten das Licht – Ngi konnte schließlich im Dunkeln sehen –, Sergej und Sarah machten es sich gemeinsam auf einer Synthratze bequem und Baldor auf seiner eigenen. Nachdem er aus ihrer Richtung beunruhigende Geräusche vernahm, drehte er ihnen den Rücken zu und wickelte sich in die Decke, die in seine Schlafgelegenheit integriert war, zog sie über den Kopf, bis die Geräusche nur noch eine ferne Erinnerung waren. Sein Blick fiel auf Klara, die mit zurückgelehntem Kopf vor dem Baum saß. Wie sie mit halbgeöffneten Augen und ausgestreckten Armen vor sich hin döste, war ein merkwürdiger Anblick.
So lag er da, vielleicht ein oder zwei Stunden. Die Geräusche der Tiere, waren verstummt, auch jener Tiere in Menschengestalt, die ein paar Meter neben ihm eng umschlungen dalagen. Alles schlief. Nur Baldor konnte keine Ruhe finden. Er musste sich erst noch damit anfreunden, nachts zu schlafen.
Als sein Körper verstand, dass es nun gar nichts mehr zu sehen gab und seine Augenlider langsam herunterließ, bewegte sich Klara. Sie drehte sich, bis sie mit der Stirn gegen den Baumstamm lehnte. Ihre Arme baumelten schlaff unter ihrem Körper.
Das konnte nie in Leben bequem sein!
Plötzlich schossen die Arme nach oben und sie zog sich erst an der Rinde und dann an den Ästen hinauf, ohne mit den Beinen nachzuhelfen. Baldor hatte ja schon von Schlafwandlern, ja sogar Schlafschwimmern gehört. Schlafkletterer waren ihm neu.
Sie verfehlte einen Ast, ein kalter Schauer durchfuhr ihm und er schlug instinktiv seine Decke zurück. Die Tatsache, dass er sich um jemand anderen Gedanken machte, war genauso beunruhigend, wie Klaras Silhouette, die im Schatten der Blätter verschwand. Er trat einen Schritt aus seiner selbstzentrierten Welt hinaus, erhob sich und rief ihren Namen. "Klara? Klara!"
Sie reagierte nicht. Auch sonst keiner. Selbst Ngi war in den Ruhemodus übergegangen, obwohl er doch Nachtwache halten sollte. Nutzloser Blecheimer! Ehe er sich versah, befand sich Baldor bereits am Fuß des Baumes und kletterte Klara nach. Das war absolut wahnsinnig, immerhin kam er aus einer Welt, in der es keine so hohen Bäume gab.
Er war überrascht, wie einfach es war. Ein paar Griffe und er war bereits zwei Meter über dem Boden. Er sah zurück. Er hatte schon höhere Wellen geritten. Im Gegensatz zum Meer durfte er es sich hier nicht erlauben, abzustürzen. Vielleicht fingen die Äste seinen Sturz ab, wahrscheinlicher war es, dass er sich den Hals brach. Es reichte schon ein gebrochenes Bein, um ihre Reise um ein Vielfaches anstrengender zu machen. Andererseits wollte er sich nicht vorstellen, was geschah, wenn Klara abstürzte und ... starb. Ja, wenn herauskam, dass er es mit angesehen und nichts unternommen hatte, konnte er Sergejs Hilfe vergessen. Das war ein guter Grund, um ihn weiter in die Höhe zu treiben.
Also kletterte er, schürfte sich Hände und Gesicht an hinterhältig scharfen Ästen auf. Die Schnitte verschwammen unter der Müdigkeit seines Körpers und den Schmerzen, die er schon bald in Armen und Beinen spürte. An einer Stelle zitterte sein linker Oberschenkel so stark, dass er glaubte, aufgeben zu müssen. Doch er gab nicht auf. Unter sich sah er nur noch Äste und Blätter anderer Bäume, ihr Lager hatte er schon eine ganze Weile aus den Augen verloren.
Schwankte der Baum so oder war es sein zitternder Körper? Verdammt!
Er sah wieder nach oben. Dort hob sich Klaras Körper vom sternenbedeckten Nachthimmel ab. Sie hatten die Krone des Baumes erreicht und zog sich auf einen der Äste, balancierte auf ihm bis zum Rand.
Baldor musste sich beeilen! Ihr schlafwandlerisches Glück konnte schließlich nicht ewig anhalten.
Als er sich wacklig auf den Ast daneben traute, beschloss er, von nun an nicht mehr in die Tiefe zu blicken. Einen Boden, der ihn abschätzen ließ, wie tot er nach einem Aufprall sein würde, sah er ja sowieso nicht mehr.
Der Ast wand sich hin und her und zum ersten Mal machte sich sein Surftraining auch auf diesem Planeten bezahlt. Er atmete durch und mit absoluter Sicherheit setze er einen Fuß vor den anderen. Ein Windhauch erfasste seinen Oberkörper und auch Klaras. Sie blieb mit einem Fuß am anderen hängen, torkelte und ihm blieb beinahe das Herz stehen.
Immer noch schlafend kämpfte sie um ihr Gleichgewicht, wedelte mit ihren Armen und fing sich wieder. Er dankte der Großen Qualle.
Dann breitete sie die Arme aus.
Sie wollte doch nicht etwa springen, oder?
Klara wippte auf dem Ast und ihre Haare wirbelten im stärker werdenden Wind auf. Baldor ging schneller, so schnell es auf diesem verdammt wackelnden Ast möglich war, und kämpfte gegen den Wind an, der ihm jetzt entgegenschlug, an seiner Kleidung riss und ihn zurückhalten wollte.
Sie sprang und Baldor starrte ihr fassungslos hinterher.
Sein Körper reagierte von allein, ließ sich ebenfalls fallen und seine Hand schloss sich um ihr Bein.
"Was tust du da?", murmelte Klara verschlafen und schielte ihn von unten herauf an.
Baldor stöhnte, während er von Ast und Klara in die Länge gezogen wurde. Hoffentlich bekam er keinen Krampf in den Oberschenkeln, die er um den Ast geschlungen hatte, an dem sie beide kopfüber baumelten.
"Ich rette dir dein Leben! Bist du endlich wach?"
Klara rieb sich die Augen und sah in die Tiefe. "Oh scheiße, jetzt ist es doch passiert." Sie schnappte sich einen der Äste unter ihnen. "Du kannst mich loslassen."
Das tat er und bereute es sogleich. Ohne Klaras Gewicht schoss der Ast wieder nach oben. Nun war es Klara, die ihn rettete. Sie huschte den Stamm hinauf und hielt ihn fest.
Gemeinsam tasteten sie sich zur Mitte der Baumkrone zurück, wo die Äste dick genug waren, damit sie sich nebeneinandersetzen konnten.
"Tut mir leid, ich brauche eine Pause", keuchte Baldor.
Doch Klara lächelte ihn nur an. "Danke."
So saßen sie gemeinsam, hoch über der Welt und sahen sich die Sterne an. Sie kehrten erst wieder nach unten zurück, als sie im Feuer der aufwachenden Sonne verblassten.