Als der Wald abrupt endete, um einer grauen Ebene Platz zu machen, wusste Baldor, dass sie sich der Stadt der Menschen näherten. Im Gegensatz zu den Straßen in der Ruine hatte hier jemand penibel darauf geachtet, dass sich kein einziges Loch darin befand. Den Horizont bildete eine weiße Linie und jenseits davon ragte ein weißer Speer gen Himmel. Im Angesicht der Mauern und des Turms fühlte er sich plötzlich winzig und unbedeutend.
"Das ist eure Stadt?"
Sergej trat neben ihn. "Was dort hinten unheilvoll in den Himmel ragt, ist die Zitadelle. Dort hat alles begonnen."
"Und der Ort, an dem die Menschheit beinahe ihr Ende gefunden hätte", raunte Sarah und imitierte Sergejs Ernsthaftigkeit.
Sergej brummte. "Okay ... danke, dass du mir meinen dramatischen Moment versaut hast."
"Ach Süßer, lass den Kopf nicht hängen. Willst du noch einmal von vorne anfangen?"
"Ha ha. Nein, ich fasse mich kurz. Ja, das ist die Zitadellenstadt. In der Mitte befindet sich die namensgebende Zitadelle. Sie bildet das Zentrum von fast allem. Produktion, Informationen, Nahrung. Die Ringe, die sie umgeben, sind hauptsächlich Wohnquartiere ehemaliger Unterweltler. Dazwischen einzelne Freizeitanlagen, die lange nicht für alle ausreichen. Der Rat hat es hier perfekt hinbekommen, die Unterweltler in sich selbst zu spalten, indem sie dafür ein Privilegiensystem ..."
"Stopp!", unterbrach in Sarah. "Hey, wolltest du dich nicht kurzfassen?"
"Tut mir leid, wenn ich dein Klischee des schweigsamen Muskelmanns nicht erfülle." Genervt fasste er sich nun wirklich kurz. "Ganz außen: illegale Vergnügungsviertel. Fast ganz außen: Baracken und Verteidigungsstellungen des Sicherheitskorps. Fertig."
Eine Bewegung erregte Baldors Aufmerksamkeit. Ein Stück entfernt beschnüffelten Klaras Ratten scheu den grauen Boden.
"Wozu dient diese gewaltige graue Fläche um die Stadt?", wollte er wissen.
"Verschiedenem", antwortete Sarah, ohne wirklich etwas dabei zu erklären.
Gut, dass Sergej hier war, so erfuhr er wenigstens ein paar Kleinigkeiten über diesen Ort. "Es ist zum einen die Grundfläche, auf der neue Stadtringe hochgezogen werden. Es vereinfacht die Bewegung der Abbaumaschinen, die die Wälder fällen und neue Ressourcen hereinbringen. Und es ist eine Abwehrmaßnahme."
"Wie das?"
"Die Tiere hassen den Boden." Klara verzog ihr Gesicht. "Er ist unnatürlich. Schlimmer als der Teer in den Ruinen. Sie spüren, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmt. Genau, wie mit der ganzen Stadt."
Sergej zuckte mit den Schultern. "Alles wird hier mit den Baustoffsynths hergestellt. Genau wie ihre Gegenstücke für die Nahrung, können die aus einem beliebigen Material ein ganz anderes erzeugen. Vielleicht erwarten sie einfach etwas anderes als sie sehen."
"Klar. So ein Quatsch." Sarah warf einen flüchtigen Blick zu den Ratten und schnaubte. "Das sind doch nur Tiere. Die denken gar nichts. Eher ..."
Noch bevor sie den Satz beendet hatte, änderte Klara ihre Körperhaltung. Sie senkte den Kopf ein Stück und spannte die Muskeln an. Wie ein wildes Tier, das sich auf einen Kampf vorbereitet. Nur auf zwei statt vier Beinen. Baldor hielt den Atem an und sein Blick sprang zwischen den beiden hin und her.
Der Satz, der unausgesprochen in der Luft hing, wurde von einem Rauschen davongetragen und nur das verhinderte ein Blutbad. Es war wie das plötzliche Aufbrausen des Windes, mit dem ein Objekt über die Baumgrenze schoss, direkt auf Zitadelle und Stadt zu. Ein Gleiter, auf dessen Dach etwas befestigt war, das wie ein zusammengerolltes Segel aussah.
"Können eure Gleiter auch schwimmen?"
"Wie meinst du das?" Sergej sah verwirrt aus. Offenbar hatte er irgendetwas Dummes gefragt.
"Wegen dem Segel. Das kenne ich aus unserem Geschichtsunterricht. Bevor wir es schafften, die Riesen der Meere zu zähmen, fuhren wir auf Flößen aus Korallen und Segeln aus Algen."
"Nein, die Gleiter sind nicht seetauglich. Die Segel werden bei der Fortbewegung über Land benutzt, wenn sie mit den Schwebemodulen über die Baumwipfel gleiten. Dann werden die Schubdüsen deaktiviert."
"Interessant." Die Menschen verstanden es also auch, sparsame Verfahren einzusetzen ... selbst wenn ihre Stadt die Natur fraß.
Der Gleiter wurde kleiner, bis er in der Ferne nur noch als Punkt zu erkennen war. Er wurde sofort von einem neuen Punkt abgelöst, der ihnen entgegenkam. Nein, es waren sogar mehrere. Dieser Anblick weckte Hoffnung, dass es doch nicht so schwer sein sollte, auch Ersatzteile für ein Raumschiff zu bekommen.
Die Punkte wurden größer und es sah beinahe so aus, als steuerten sie auf ihre Position zu. War diese Stelle besonders gut geeignet für den Überflug?
"Verdammt!", fluchte Sergej. Okay, das war wohl kaum der Grund.
"Was ist los?", sprach Klara die Frage aus, die auch ihm auf der Zunge lag.
"Die fliegen nicht zufällig in unsere Richtung!"
"Das Sicherheitskorps?" Sarah schirmte ihre Augen ab, um die Objekte besser erkennen zu können, die vor dem klaren Himmel weiß flimmerten.
"Nein." Sergej ließ die Schultern kreisen. "Die hätten uns schon längst auf dem ComNet kontaktiert, wenn ihnen unsere Nasen nicht gefallen hätten."
"Warte mal." Klara kniff die Augen zusammen. "Auf dem Ersten kann Ich ein Logo erkennen."
Baldor kniff ebenfalls die Augen zusammen. Wie hatte sie das geschafft? Die Schweber waren noch so weit entfernt. Ein Vogelschwarm kreuzte die Bahn der Schweber und er verstand. "Die sind von der Kanter-Gruppe."
"Ist das gut oder schlecht?"
"Eher schlecht."
Ja, was hatte er auch erwartet?
"Waffenentwicklung, Bionik, Experimente mit allem, das nicht bei drei auf den Bäumen ist", erklärte Sergej."Vom Rat verbotene Experimente."
"Und was könnten die von uns wollen?" Baldor ahnte die Antwort bereits.
"Dich?"
Sie kamen näher. Vier Schweber, die zum Sinkflug ansetzten. Baldor sah sich nervös um und verstand jetzt auch, warum dieser Bereich eine Abwehrmaßnahme war. Jeder, der sich unerlaubt an die Stadt traute, saß hier wie auf dem Präsentierteller. Der Wald war zu weit weg, um in seinen Schutz zu fliehen.
An der Seite einer der Schweber war eine Plattform angebracht, auf die etwas Längliches aufgepflanzt war. Als sich die Seitentür öffnete und sich ein Mann dahinter setzte, wusste er, dass gleich schon wieder auf ihn geschossen wurde.
"Sie werden doch nicht in Reichweite der Zitadellensensoren das Feuer auf uns eröffnen?" Sergej war schockiert. "Scheiße ..." Dann fasste er sich. "Sarah, Rauchgranaten! Wir brauchen Deckung!"
"Schon dabei." Noch bevor sie zwei Dosen aus ihrer Tasche gekramt hatte, war Ngi bereits wieder in den Tarnmodus gewechselt. Baldor beneidete ihn um diese Fähigkeit. Ihm hätte auch etwas weniger Spektakuläres gereicht. Etwa im Boden zu versinken.
Die Dosen schlugen klappernd auf dem Asphalt auf, rollten zischend in verschiedene Richtungen und zogen eine Rauchspur hinter sich her.
"Hast du keinen Flugsaurier für sowas parat, Klara?"
Klara lachte trocken. "Lass mich mal unter meinen Klamotten nachsehen ... nein!"
"Okay, dann hat Sarah unsere einzige Schusswaffe ..."
"Sergej, hast du auch einen 'richtigen' Plan? Was soll ich denn mit einer Pistole gegen vier bewaffnete Schweber ausrichten?"
"Stimmt irgendwie." Sergej holte tief Luft, nachdem die ersten beiden Pläne nicht gut angekommen waren, arbeitete er schon am nächsten. War wohl wirklich ein Held, konnte jederzeit, auch in den aussichtslosesten Situationen neue Pläne schmieden. Hoffentlich starben sie nicht davor. "Okay, ihr rennt, ich halte sie auf."
Baldor nahm seine Meinung wieder zurück. "Das wäre ja eine tolle Idee ... wenn die anderen nicht in superschnellen Fliegern sitzen würden. Oder sie mit Keulen statt Gewehren bewaffnet wären. Ich mein ja nur." Außerdem durfte Sergej sich nicht opfern. Wer half ihm dann?
"So machen wir es!", rief Sarah. "Wir laufen zum Wald, ich lege dabei einen Rauchteppich."
Baldor blinzelte. Spinner ... Nun, dann sollte es wohl so sein. Er machte kehrt und rannte dorthin, wo er im Dunst den Wald vermutete.
Nach ein paar Schritten traf ihn etwas in der Seite. Der Stoß ließ ihn durch den Nebel taumeln. Plötzlich stand er wieder im Freien. Nein, das durfte nicht wahr sein!
Er wollte wieder in die Sicherheit springen, doch eine Salve prasselte über den Boden und riss graue Brocken heraus. Ja, keine Chance, dass er da hindurchrannte. Nein, es blieb ihm nichts anderes übrig, als in die andere Richtung zu flüchten. Er hob die Hände über den Kopf, rannte im Zickzack los und hoffte, dass ihn die nächste Salve ebenfalls verfehlte. Sie kam nicht.
Warum nicht?
Dann dämmerte es ihm: Sie wollten ihn lebend fangen.
Ein weiterer Schweber landete vor ihm, die Tür schwang auf und zwei Gestalten sprangen heraus. In weiten, weißen Anzügen, die sie von Kopf bis Fuß einhüllten und nur durch ein kleines Fenster am Kopf den Blick auf ihre Augen zuließen.
Die sollten ihn erst einmal einholen, dachte er sich und drehte sich um. Da sah er einen Dritten, der etwas auf ihn richtete.
Baldor wurde wohlig warm, als der Blitz in seinen Körper einschlug. Seine Beine gaben nach, Arme und Kopf wurden schwer. In der Ferne hörte er noch Sergej brüllen, dann wurde es still.
Irgendwie schien er auf diesem Planeten kein Glück mit seinem Bewusstsein zu haben.