Das Haus am Ende der Strasse war schon alt. So alt, dass die hellblaue Farbe der Fensterläden bereits abzublättern begann und dass die Blumen vor dem Haus längst nicht mehr wussten, dass sie eigentlich in Töpfen zu wachsen hatten.
Es war so alt, dass die Zeit hinter den heruntergekommenen Gartenmauern schon längst aufgehört hatte zu existieren.
Ebendiese Strasse ging soeben ein junges Mädchen entlang. Ein junges Mädchen, das sein ganzes Leben eigentlich noch vor sich hatte. Und doch lastete auf ihren Schultern unendlich schwer die Zeit.
Sie war in einer Welt aufgewachsen, in der Zeit die Währung war. Und nichts war ihr bewusster als die Tatsache, dass sie jede Sekunde – einmal ausgegeben – nie wieder zurückbekommen würde.
So war es also wundersam, dass sie überhaupt schon einfach diese Strasse entlang ging, an dessen Ende ein uraltes Haus stand, aber noch hatte die Zeit sie nicht so grau gemacht, wie all die anderen Menschen, die sie kannte.
Nicht aschgrau wie ihren Vater oder nebelgrau wie ihre Mutter.
Nein, noch zierte ein gesunder Ton ihre Wangen. Auch wenn ihr Kleid schon die Farbe von Gewitter hatte.
Unter ihren Schritten knirschte leise der Kies, als sie immer näher an das alte Haus kam. Es war von einer hohen Mauer umgeben. So hoch, dass das Mädchen das Haus nicht mehr zu sehen vermochte, als sie direkt davor stand.
Doch da entdeckte sie ein kleines, schmiedeeisernes Tor, das in die Mauer eingelassen war. Es war von spitzigen Ranken umflochten, die das Mädchen piksten, als sie einen Blick auf die andere Seite der Mauer warf.
Dort stand das Haus, umgeben von einem verwilderten Garten, der in voller Blüte Stand. Überall zwitscherten Vögel und mitten in diesem Paradies sass ein kleines Mädchen in einem dunkelgrünen Kleid auf einer Wiese und flocht einen Kranz aus blauen und violetten Blumen.
Eine Weile stand das Mädchen draussen vor dem Tor einfach nur da und beobachtete die andere, die so gleich und doch so anders zu sein schien.
«Hey, du da! Wieso hast du so viel Zeit?», rief sie schliesslich durch das schmiedeeiserne Tor hindurch.
Das andere Mädchen hob irritiert den Kopf. Als sie die Fremde draussen stehen sass, sprang sie leichtfüssig auf und rannte über die Wiese zur Mauer hin.
«Wer bist du?», wollte sie neugierig wissen.
«Niemand», kam es leise zurück.
«Niemand? Wie kann so etwas denn sein?»
Das Mädchen im grauen Kleid zuckte mit den Schultern. «Ich will dir deine Zeit nicht stehlen, aber sag mir, wie kann es sein, dass die Welt hier drinnen nicht grau ist? Woher nehmt ihr bloss die Zeit?»
«Zeit? Was ist das, Zeit?» Das Mädchen im Garten runzelte die Stirn.
«Zeit ist das wertvollste, das du besitzt. Und man hat nur wenig davon. Jedes Bisschen Zeit, das man weg gibt, kommt nie mehr zurück. Man soll sie klug nutzen, sagt meine Mama. Plötzlich hat man sie nämlich einfach aufgebraucht.»
«Oh, das ist sehr schade.» Das Mädchen in dem grünen Kleid blickte traurig zu Boden.
«Ich möchte dir etwas meiner Zeit schenken. Vielleicht können wir dann zusammen spielen.»
Doch das Mädchen auf der anderen Seite schüttelte bloss den Kopf. «Du hast mir schon zu viel von deiner Zeit geschenkt.»
Mit diesen Worten drehte sie sich um, und ging die Strasse wieder zurück.
Und während ihre Wangen sich langsam grau färbten, so blühte in ihrer Brust eine kleine Blume mit violetten Blütenblättern.