Im Haus gegenüber war es ruhig.
Der alte Richard Mills, der mit seinem mehrfach geklebten und allseits bekannten Fernglas in seinem Garten stand, benutzte am liebsten den Begriff „gespenstisch“ still.
"Sie geben zu Protokoll, dass es in dieser Nacht gespenstisch war und Sie ihre Nachbarn seither nicht mehr gesehen haben?“
Die zwei Polizisten, die vor Mills Haus standen, lächelten leicht süffisant. Die Geschichte kam ihnen doch sehr bekannt vor. Dennoch zog einer von ihnen schließlich seinen Notizblock aus der Innentasche seiner Jacke und begann etwas zu notieren.
Richard, der natürlich auch bei diesem Besuch sein Fernglas mit sich schleppte, nickte aufgeregt und bat die Polizisten in sein Haus.
"Ja, genau, seitdem ist es sehr still dort drüben."
"Seltsam still heißt nicht, dass es was mit Gespenster zu tun hat."
"Nein, ich sagte nicht Gespenster“, unterbrach ihn der alte Richard aufgebracht und schloss hastig die Gartentür.
"Ich sagte gespenstisch. Sie wissen schon, so wie wenn einem plötzlich eine unheimliche Gänsehaut befällt.“ Er beäugte die ihm gegenüberstehenden Polizisten, die wohl nicht mal halb so alt waren wie er.
„Wenn man glaubt zu träumen, auch wenn man weiß, dass man gar nicht ins Bett gegangen ist."
"Und sie haben ihre Nachbarin seitdem nicht mehr gesehen?"
"Nein, hab ich nicht."
Während der Polizist mit dem Notizblock sich Notizen machte, blickte der andere hinaus in den Garten.
"Sie pflanzen ihr eigenes Gemüse an?"
Richard, dem das Gespräch nicht mehr ganz so zu gefallen schien, nickte und zog die Vorhänge zu.
"Hab ich gemacht, ja."
"Haben Sie?"
"Ja, hören Sie, wollen wir über mich reden, oder über das was im Haus meiner Nachbarin passiert ist?"
Richard dachte, dass er sofort von den Männern in Uniform Zustimmung erhalten würde, aber als dies auch nach einiger Zeit des Schweigens nicht geschah, erhoffte er sich wenigstens ein Nicken, egal wie mickrig auch immer.
Aber nichts war so, wie es sich der alte Mann dachte oder erhoffte.
"Wissen Sie ...", sagte plötzlich der schreibende Polizist, nachdem er sich vorher flüsternd mit seinem Kollegen unterhalten hatte. "Das Auto ist weg und die Haustür ist abgesperrt. Ich würde sagen, Ihre Nachbarin ist einfach in den Urlaub gefahren.“
„Nein, ist sie nicht. Die fährt nie in den Urlaub.“
„Sie sagten doch, dass es seitdem ruhig ist. Wenn niemand im Haus ist, ist es nun mal ruhig, oder?“
Richard fühlte sich nicht im Stande diese Frage zu beantworten. Er glaubte nicht daran, dass sie einer Antwort bedarf. Stattdessen fühlte er sich verpflichtet etwas anderes zu sagen. Etwas, das er nur zu gerne sagte. Etwas, das Jedem dem er es sagte, entweder Lachsalven aus dem Mund sprühen ließ oder eine mächtige Gänsehaut bescherte.
"Es ist totenstill im Haus."
Die Polizisten nickten und notierten sich die Aussage des alten Mannes. Sie notierten sie bei Hirngespinsten und verschiedenen Zeitvertreiben der Spinner.
Richard wusste, dass man ihn für einen Spinner hielt. Das ihm niemand glauben wollte, aber das schien ihn nicht davon abzuhalten, selbst daran zu glauben.
Als die Polizisten verschwunden waren, faste der alte Mann einen Entschluss. Er wusste, dass er nicht mehr darauf warten konnte, dass ihm jemand glaubte. So viel Zeit hatte er nicht mehr. Er musste selbst etwas tun.
Während er sich eine Hand auf die Brust legte, griff er mit der anderen nach dem Türknauf der Gartentür und öffnete sie zaghaft.
Es war eine der finstersten Nächte, die Richard glaubte, je erlebt zu haben, hereingebrochen. Heute Nacht würde etwas passieren. Da war er sich ganz sicher. Aber dennoch wusste Richard, dass es kein Zurück mehr gab. Er war noch nie ein Feigling gewesen und wollte schon gar nicht jetzt damit anfangen.
Angriffsbereit setzte er sich auf die Verandatreppe und zog seine Schuhe an. Hier und da wanderten seine graugrünen alten, aber noch immer wachsamen Augen zu dem Nachbaranwesen.
Es war ruhig. Zu ruhig. Da war sich Richard sicher. Da war etwas ganz und gar nicht in Ordnung.
Und der alte, vereinsamte Richard, den man schon lange als Spinner abgestempelt hatte, wollte die Wahrheit suchen und finden. Er wollte sie suchen, weil er vermutete, dass sie hinter den nächsten vier Wänden vergraben lag. Er wollte sie finden, weil er endlich Anerkennung wollte. Er wollte endlich akzeptiert werden.
Schwerfällig, das Fernglas wog fast mehr als der alte Mann selbst, zog sich Richard von einer Straßenseite zur anderen. Mit jedem Schritt, mit jedem weiteren Kratzer, den seine Schuhe auf dem Straßenpflaster verursachten, sah er sich seinem Ziel näher. Jeder schwerfällige Atemzug wurde von einem schmalen Lächeln, das flüchtig über seine Lippen huschte, begleitet. Ein Lächeln, das ihn glücklich machte. Das ihn froh machte am Leben zu sein.
Richards Keuchen wurde stärker und der Weg schien dem Alten wegzulaufen.
Aber Richard gab nicht auf. Bereit zu kämpfen, blickte er den Asphalt, der sich unter seinen schwachen Füßen bog, hasserfüllt an.
„Ich werde dich bezwingen. Ich bezwinge dich.“
Zwar bekam Richard nur ein Keuchen heraus. Ein Keuchen, das sich zum Ende hin in ein Gewirr aus Krächzen und Husten verwandelte, aber das war ihm egal, denn der Weg wurde kürzer.
Und außerdem hatte er sich schon alles genau überlegt. Zuerst würde er die arme Frau und ihre drei armen Kinder würdevoll begraben lassen. Die Frau war zwar nie wirklich nett zu ihm gewesen, hatte ihn nie gegrüßt, aber das konnte er ihr verzeihen.
Weniger konnte er ihren Kindern verzeihen. Die beiden Jungen waren unmögliche Bengel und erst das Mädchen ... lief immer rum wie ein Junge. Wie ihre Brüder. Oft hatte er sie verwechselt. Hatte in seinem Garten seine Zwiebel und Tomaten angepflanzt und nun mal so reagiert, wie man reagiert, wenn man von hinten einen zementharten Ball auf den Kopf bekommt. Das Mädchen zeigte ihm den Stinkfinger und ihre Brüder kletterten in der Nacht in seinen Garten und machten ihm die Ernte zunichte. Nein, die Kinder mochte er nicht. Aber eine Beerdigung hatten sie dennoch verdient. Vor allem, wenn sie einem so schaurigem Verbrechen zum Opfer gefallen waren.
Als Richard, dem schon unzählige Glückstränen über die Wangen flossen, vor dem Nachbarhaus stand, zögerte er für einen Moment. Er hatte noch nie Leichen gesehen. Wie würden die wohl aussehen? Wie würde er reagieren? Im Wirrwarr seiner unzähligen Gedanken, kam plötzlich einer, der es vermochte ihn beinahe in die Knie zu zwingen.
Die Tür war verschlossen!
Wie sollte er in das Haus kommen? Prüfend blickte der alte Mann nach oben und besah sich die Fenster. Er wollte sehen ob eines vielleicht gekippt war, oder gar offen. Aber sie waren alle verschlossen.
Wütend und enttäuscht, den Weg jetzt ganz um sonst gegangen zu sein, packte Richard plötzlich den Türknauf und drückte sich mit seinem Körper mitsamt Fernglas gegen die Tür. Er glaubte nicht wirklich daran, sie aufzubekommen. Wenn sie zugesperrt war, würde er sie mit seinem schwachen drücken nicht aufbekommen. Das war ihm klar.
Umso überraschter blickte er um sich, als er mit einem lauten Knall auf dem Flur des Nachbarhauses zur Landung ansetzte. Sie war offen, aber warum war sie offen?
Etwas perplex rappelte sich Richard auf.
Das Haus war dunkel. Vollkommen von einer düsteren, erdrückenden Schwärze eingehüllt.
Suchend tastete sich der Alte die Wände entlang und suchte den Lichtschalter.
„Wo ist der verdammte Lichtschalter! Wo ist er?“
Richard hoffte, dass er nicht über die Leichen fallen und auch nicht in Blut treten würde.
Schweratmend blickte er auf den Boden, den die Schwärze regelrecht zu verschlingen schien. Er blickte zuerst nur etwas verwundert und starrte dann mit einem Schuss Panik darauf. Was war, wenn dort alles voller Blut war?
Ängstlich und nach langem Zögern, ließ der alte Mann von den Wänden ab und ging über das vermutete Blutmeer.
Es war schmierig und glitschig. Richard konnte es regelrecht unter seinen Schuhsohlen fühlen.
Er glitt dahin. Glitt über das Blut seiner Nachbarin und ihren Kindern.
Und plötzlich ging das Licht an. Richard blinzelte vorsichtig in das unerträglich grelle Licht hinein.
„Wer sind Sie? Was tun Sie hier? Wollten Sie das Haus besichtigen?“
Verwirrt wandte sich Richard vom grellen Lichtschein ab und blickte auf den blitzblanken Fußboden.
„Was?“
„Wollen Sie das Haus besichtigen? Hören Sie, wollen Sie sich das Haus anschauen?“
Der Alte konnte nicht glauben, was er sah. Wo war das viele Blut plötzlich hin? Aber Richard hatte keine Zeit sich diese Frage wahrhaftig zu stellen, denn plötzlich packten ihn zwei Hände. Verwirrt und voller Panik schnappte sich Richard sein Fernglas und warf es auf die ihm unbekannten Hände. Die Hände zogen sich rasch zurück und ihre Besitzerin schien erleichtert zu sein, als Richard das Haus verließ.
Richard schritt über die Schwelle und kehrte dem Haus und der fremden Frau den Rücken zu. Abermals keuchend und schweratmend legte er den Weg zu seinem Anwesen zurück. Er wusste es hatte sich nichts geändert. Es gab keine Leichen und Blut gab es auch keines, aber wo war dann seine Nachbarin geblieben?
Nachdenklich ließ sich Richard auf seiner Verandatreppe nieder. Zunächst konnte er seinen Blick nicht vom Anwesen ihm gegenüber abwenden. Zu seltsam kam ihm alles vor.
Nach einer ganzen Weile hörte er ein Auto in die Straße einbiegen. Es parkte in der Einfahrt des danebenliegenden Anwesens.
Richard wunderte sich kurz darüber. War dieses Haus doch schon seit Jahren unbewohnt.
Die Autotüren schienen sich wie in Zeitlupe zu öffnen und ebenso langsam kam es ihm vor, als seine Nachbarin und ihre Kinder aus dem Auto stiegen. Sie waren putzmunter. Eine leichte Spur von Traurigkeit nistete sich in Richards glasige Augen.