ANNA
Die Fahrt mit Nathan verlief in einvernehmlichem Stillschweigen. Und jetzt bin ich wieder hier. An dem Ort, wo mein Herz noch mehr zu schmerzen scheint. Alles in diesem Haus. In Alex's Haus, erinnert mich an ihn. An sein atemberaubendes Lächeln. An seine Berührungen. An seinen Atem, der sanft wie eine Brise über meine Lippen streift. An seine blauen Augen, die auf mich blicken und mir das Gefühl geben, lebendig zu sein. Und es schmerzt noch mehr, zu wissen, dass sich diese ganzen Erinnerungen nie mehr wiederholen werden. Es war ein allerletztes Lächeln. Ein allerletzter Atemzug und ein allerletzter Blick. Alex ist weg und ich kann den Schmerz kaum ertragen, als ich in meinem Bett liege und an die Decke starre. Jetzt, wo alles ruhig ist. Wo ich alleine nur mit mir selbst in diesem Raum bin, ist der Schmerz unterträglich. Keine Ablenkung. Keine anderen Gedanken. Der Einzige Gedanke in meinem Kopf, ist der Gedanke an die wohl erste richtige Liebe in meinem Leben. An Alex.
Nathan, Lexa und die Jungs haben sich, nachdem wir angekommen sind sofort verkrochen um einen Plan auszuhecken. Nathan wird ihnen alle möglichen Fallen, an die er sich noch erinnern kann, nennen. Er wird ihnen helfen in diese Gruft zu kommen. Was er jedoch nicht versprechen konnte, ist, ob wir auch alle wieder lebend aus der Gruft kommen. Und weil ich einfach keine Energie mehr habe und meine Augen brennen, habe ich mich ins Bett verkrochen. Vor allem aber auch deswegen, weil ich einen ruhigen Moment für mich brauchte, um an ihn zu denken, auch wenn es so sehr wehtut.
Wenn ich nur seine Arme um mich spüren könnte. Seine Nähe spüren könnte. Ich wäre beruhigt. Wäre zuversichtlicher. Doch er ist nicht hier und ich liege in diesem Zimmer. In dem Zimmer in dem ich mich alleine und verlassen fühle. In dem Zimmer, dass er mir zur Verfügung gestellt hat und in dem wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Auch wenn es eine schöne Erinnerung ist, lässt der Schmerz nicht lange auf sich warten.
Ich wälze mich hin und her. Denke an Alex und versuche irgendwie ein wenig Schlaf zu bekommen, damit ich morgen die Energie habe, die ich so sehr brauche. Doch ich fühle mich so ausgelaugt. Fühle mich schwach und doch kann ich nicht einschlafen. Immer wieder laufen die Tränen über meine Wangen und am liebsten würde ich jetzt laut schreien um meinem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Doch irgendetwas in mir blockiert mich. Es scheint dasselbe zu sein, wie beim Tod meiner Mutter. Damals konnte ich es auch nicht und hätte es manchesmal so sehr gebraucht.
Meine Sehnsucht nach Alex steigert sich und mein Herz scheint einfach weiter zu zerbrechen. Und bevor ich weiß, was ich tue, stehe ich schon vor der Tür zu seinem Zimmer. Ich weiß nicht wieso ich mir selbst diesen Schmerz antue, aber ich habe das Gefühl ihm hier näher sein zu können. Langsam und mit einem lauten Herzklopfen öffne ich die Tür in sein Zimmer. Es ist dunkel und ich mache das Licht an. Ich lasse meinen Blick über den Schreibtisch und das Bett schweifen. Überall sind die Erinnerungen an ihn und überall ist auch der Schmerz. Hier bin ich in seinen Armen gelegen und habe mich das erste Mal seit langem, wieder einmal sicher gefühlt. Doch jetzt wirkt dieser Raum so leer. Als würde etwas fehlen. ER fehlt.
Ich kann nicht. Ich kann nicht länger in diesem Zimmer bleiben. Es zerreißt mich förmlich. Zuerst dachte ich, dass es mir hilft, mich ihm näher zu fühlen. Doch es ist der Schmerz, der mich wieder zurück treibt. Es ist, als würde ich ersticken. Als würde mir die Kehle zugeschnürt werden. Also versuche ich so schnell wie möglich aus diesem Zimmer zu kommen. Ohne mich nochmals umzusehen, stürze ich davon und zu allem Überfluss laufe ich gegen etwas Hartes. Ich fühle, wie sich zwei Handflächen auf meine Hüfte legen und mich stützen. Bei dieser Berührung durchfährt mich ein elektrisierendes Gefühl. Ich kenne dieses Gefühl und schon bevor ich nach oben blicke, weiß ich, wer es ist und löse mich von dieser Berührung. Ich versuche mich zu beruhigen und meine tränennassen Wangen vor Nathan zu verbergen. Aber ich denke, er hat es längst bemerkt und nach dem Gespräch mit den Jungs weiß er nun auch, dass Alex Tod ist.
Ich versuche meinen Blick gesenkt zu halten und ihm nicht in seine Augen zu blicken. Ich schäme mich für meine Tränen. Ich will stark sein, aber im Moment bin ich so schwach. Ich fühle mich wie der letzte Dreck und ich will nicht, das er meine Schwäche sieht. Er hat mir schon soviel angetan. Er hat mich verletzt und mich noch kaputter gemacht, als ich ohnehin schon war.
Doch als ich an ihm vorbeigehen will, legt sich seine Hand an mein Kinn und hält mich zurück. Er senkt seinen Kopf und ich kann seinen frischen Atem auf meiner Nasenspitze spüren. Langsam hebt er mein Kinn an, sodass ich in seine Augen blicken muss. Genau in dem Moment, in dem meine Augen seine treffen, spüre ich wieder dieses verdammte Kribbeln. Diese Augen sollten mich nicht verwirren. Nicht auf diese Art. Ich fühle mich so schlecht. Ich fühle mich, als würde ich Alex betrügen. Nathan`s Blick ist so mitfühlend. So durchdringend. So fesselnd.
„Anna, es tut mir aufrichtig leid.“
Ich kann mich ihm gegenüber nicht öffnen. Ich kann die Verletzungen, die er mir zugefügt hat, nicht vergessen. Ich kann nicht zulassen, dass er in mein Inneres sieht. Das kann ich nicht und so löse ich mich von seinem Blick und will mich wegdrehen, als er plötzlich meine Haare hinter meinen Nacken streicht und mich mit großen Augen betrachtet.
„Woher hast du das?“
Er zeigt auf das Zeichen, das auf meiner Brust ist. Ich hatte vollkommen vergessen, dass ich nichts außer, einer kurzen Short und einem, zu weit ausgeschnittenem weißen Trägertop trage. Somit ragt das Zeichen noch einige Zentimeter auf meinen Brustbein hervor. Ich sehe ihn an und versuche mein Shirt wieder etwas nach oben zu ziehen, um nicht vollkommen entblößt zu wirken.
„Ich...ich weiß nicht genau. Zuerst war da nur ein Zeichen, nachdem du...mich fast ein drittes Mal umgebracht hast und als Alex gestorben ist, ist dieses andere Zeichen darunter aufgetaucht.“
Ich zucke mit den Schultern und versuche ihm nur die Bruchteile zu erzählen. Doch er wirkt nun noch interessierter als vorhin.
„Zeig es mir.“
„Ich weiß ja nicht, was du willst, aber ich werde mich sicher nicht vor dir ausziehen.“
Ich bin verärgert und sein Befehlston gefällt mir überhaupt nicht.
„Das hatte ich auch nicht vor, aber ich denke, dass ich weiß was es zu bedeuten hat. Ich verspreche dir, dass ich nur das Zeichen sehen will.“
Abwehrend hebt er seine Hände und betrachtet mich erwartungsvoll. Er kennt dieses Zeichen? Endlich jemand der es erkennt. Ich dachte schon, dass dies ein ewiges Geheimnis bleiben würde. Doch will ich es wirklich wissen? Nach kurzem Zögern nicke ich und ziehe mit meinem Zeigefinger das Shirt so tief wie möglich. Ich versuche dabei nicht mehr zu zeigen, als unbedingt notwendig. Sein Kopf kommt näher und er blickt erneut in meine Augen, bevor er seinen Blick auf dieses Zeichen richtet. Ich hebe mein Kinn an, um ihm einen besseren Blick zu ermöglichen. Es ist irgendwie ein komisches Gefühl hier zu stehen, vor dem Mann, den ich geglaubt hatte zu lieben und der mich dann so oft verletzt hat.
Als er seine langen Finger auf meine Haut legt, bekomme ich, ohne es zu wollen am ganzen Körper eine Gänsehaut. Diese Berührung hat so etwas Sanftes, dass ich dabei zusammenzucke. Fast so, als würde mich eine Feder berühren. Langsam und noch immer mit einem sanften Druck, spüre ich, wie seine Finger über die Zeichen gleiten. Zuerst über das erste. Das Zeichen, das aussieht, als würde sich darunter schwarze Tinte befinden. Dann, nach einigen zögerlichen Sekunden berührt er das andere. Das Zeichen, dass aussieht, als würde es in meine Haut gebrannt worden sein. Das laut meinem Schmerzen auch der Wahrheit entsprechen würde. Es hat sich genauso angefühlt und ich kann mich bestens an den Schmerz erinnern.
„Das ist fast unmöglich, aber dennoch ist es auf deiner Haut.“
Seine Stimme ist so leise, dass man sie kaum hört. Er sagt es mit einer Erfurcht in der Stimme, als würde er nun das größte Geheimnis lüften und dahinter den allergrößten Schatz vermuten. Das alles steigert meine Neugier und lässt mich nervös von einem Bein auf das andere treten.
„Was Nathan? Was ist hier?“
Seine Finger lösen sich von meiner Haut und auch, wenn ich nicht sollte, schreit meine Haut nach seiner Berührung. Seine Augen wirken so traurig und dennoch voller Hoffnung.
„Ich dachte, ich würde dieses Zeichen nie sehen. Nicht auf der Haut eines lebenden Menschen. Es ist einige Jahrhunderte alt und ich kann dir den Grund nicht nennen, wieso gerade du es trägst. Es muss ein altes Leben sein, das dich mit ihm verbindet. Es muss eine Verbindung zu irgendeinem deiner früheren Leben geben.“
„Äh, Nathan. Willst du mir jetzt ernsthaft erzählen, dieses Zeichen ist von einem alten Leben? Ja, klar ich würde mir schon wünschen, dass es nach unserem Tod nicht vorbei ist und wir irgendwo weiterleben, aber dass ich dann auch noch etwas aus meinem Leben mitnehmen kann, übertrifft sogar dieses ganze verrückte Zeug, das ich bis jetzt kenne.“
Seine Mundwinkel ziehen sich selbstsicher nach oben und ein leichtes Grinsen spiegelt sich in seinem Gesicht.
„Anna, ich kann dir versichern, dass du vor diesem Leben schon hundert andere Leben gelebt hast. Nur weil wir uns nicht daran erinnern, heißt es nicht, dass es nicht passiert ist. Ihr Menschen scheint nur zu glauben, was ihr mit eigenen Augen sehen könnt und manchmal glaubt ihr nicht einmal das.“
„Sag mir einfach was es ist. Was hat es zu bedeuten?“
Meine Geduld ist am Ende und meine Neugier zu groß um noch länger auf die Antwort warten zu können.
„Es ist das Zeichen der Seelen. Jedes Wesen hat eine Seele. Und Seelen werden wiedergeboren. Sie finden sich in jedem Leben. Wenn sie sich finden sollen. In jedem ihrer Leben stellen sie sich Aufgaben. Und manche Seelen sind aneinander gebunden. Sie werden auch, ohne es zu wollen, wieder zu der anderen Seele geführt. Und dieses Zeichen.“ Er zeigt mit seinem Finger auf meine Brust. „ Bis jetzt habe ich es nur auf Papier gesehen. Aber es ist etwas Besonderes. Es bedeutet Hoffnung. Laut der Legende, ist eine Seele in diesem Zeichen und wird von deiner Seele getragen, bis diese andere wieder zurück zu seiner Hülle kann.“
Ich brauche einige Sekunden bis ich die Worte in meinen Gedanken geordnet habe. Dennoch bin ich verwirrt.
„Was hat das zu bedeuten?“
„Es bedeutet, Anna, das es noch Hoffnung gibt. Hoffnung, Alex wieder zum Leben zu erwecken. Es ist seine Seele und sie ist an deine gebunden. Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, aber ich denke einen Versuch ist es wert.“
Es ist, als würde meine ganze Welt explodieren. Explodieren vor Freude. Voller Hoffnung. Hoffnung Alex wiederzusehen? Ich kann mich kaum noch beherrschen. Ich weiß, Nathan will mir noch nicht zu viel Hoffnung machen, aber ich kann meine Euphorie nicht verstecken. Ich kann meine Freude nicht verbergen.
„Anna, ich bitte dich, bleib am Boden. Versuche dich nicht zu früh zu freuen. Ich sagte, dass es Hoffnung gibt. Doch ich weiß nicht, wie es funktioniert die Seele in den Körper zurückzubringen. Wer weiß ob sein Körper überhaupt noch existiert.“
Wie eine Ohrfeige klatscht er mir diese Worte ins Gesicht und meine Euphorie ist wie weggeblasen. Sein Körper? Sein Körper? Sein Körper? Meine Hände beginnen wieder zu zittern, als diese Frage wieder und wieder, durch meinen Kopf schwirrt. Der Körper war nicht mehr dort und vielleicht weiß Salivana von dem Zeichen? Was hat sie mit seinem Körper vor? Hat sie ihn bereits vernichtet? Hat sie dafür gesorgt, dass er nicht mehr zu mir zurückkommen kann?
„Aber...er ist weg...was wenn...?“
Ich stottere und kann kaum einen Satz sprechen, als meine Trauer mit einem Schlag wieder zurück ist. Die Tränen kullern erneut über meine Wangen und ich weiß nicht was ich machen soll. Soll ich hoffen oder soll ich mich meiner Trauer hingeben? Soll ich kämpfen oder soll ich einfach wieder in diese Dunkelheit flüchten? Doch als Nathan einen Schritt auf mich zukommt und seine Hände auf meine Wangen legt, um meinen Kopf anzuheben, werde ich augenblicklich wieder aus meiner Trauer gerissen.
„Anna, ich weiß, wir kennen uns kaum. Also ich kenne dich kaum. Aber ich kann dir sagen, dass es besser ist zu kämpfen, als sich in seiner Trauer zu vergraben.“
Seine Hände umgreifen sanft meine Wangen und mit seinen Daumen verwischt er meine Tränen. Seine Berührung ist so sanft, so gutmütig und ich verstehe den Grund nicht. Ich kann nicht verstehen, wieso er so plötzlich wieder Gut sein kann. Wieso so plötzlich, seine Sanfte Seite auftaucht? Doch es verfehlt keineswegs den Sinn. Er beruhigt mich auf eine gute Art und Weise.
„Also, du wirst dich jetzt schlafen legen. Ich kann sogar als Mensch erkennen, dass du Müde bist und kaum noch Kraft hast, dich auf den Beinen zu halten. Ich werde im Zimmer neben dir sein. Falls etwas ist, dann rufe nach mir. Ich werde da sein und morgen werden wir mit Lexa sprechen, ob sie etwas über dieses Zeichen herausfinden kann. Ich habe einige Bücher bei mir zu Hause und ich weiß mit Sicherheit, dass ich eines besitze, welches dieses Zeichen näher beschreiben könnte. Ich werde morgen nochmals zu mir fahren und es holen. Aber jetzt geh und leg dich schlafen, bevor du noch umkippst.“
Ich nicke verlegen. Trotz der Tatsache, dass er ein Mensch ist, scheint er noch immer meine Gedanken lesen zu können. Er durchschaut mich, wie kein anderer. Obwohl es nicht schwer zu erkennen ist, dass ich müde bin. Die dunklen Augenringe und meine geröteten Augen lassen keinen Zweifel daran. Ich drehe mich um und kann ein kleines bisschen Hoffnung spüren. Sie drängt sich in meinen Kopf und lässt meine Gedanken an eine Zukunft mit Alex denken. Auch, wenn ich nicht weiß was ich fühlen werde, wenn es nicht funktioniert und ich ihn nie wieder sehen werde. Aber ich kann wenigstens mit diesem Gedanken einschlafen. Mit einem kleinen Funken Hoffnung den ich in meinem Herzen trage und sanft über die Stelle meiner Verletzungen und meiner Trauer lege.