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Unter der warmen Berührung seiner Hände auf meinem Rücken, entspannt sich mein ganzer Körper. Sie halten mich fest. Geben mir ein Gefühl von Geborgenheit, dass ich schon so lange nicht mehr gespürt habe. So sehr habe ich mich nach dieser Geborgenheit gesehnt. Langsam lasse ich meine Hände ebenfalls an seinem Rücken hinab wandern. Spüre wie sich die harten Muskeln unter meiner Berührung bewegen. Als würden sie auf diese Berührung reagieren. Würden sich nur für mich bewegen. Seine Hände schlingen sich noch fester um mich und mein Gesicht schmiegt sich sanft an die weiche Haut seiner Brust. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Diese Kälte, die mich plötzlich überkommt. An der Stelle wo mein Gesicht seine Haut berührt, spüre ich sie. Er ist eiskalt. Mein Gegenüber scheint es nicht zu merken, doch ich werde unsicher. Versuche herauszufinden was mit ihm los ist. Wieso ich so plötzlich diese Kälte spüre. Schweren Herzens löse ich mich von dieser Umarmung, um ihm in die Augen blicken zu können. Aber ich kann diese Augen nicht sehen. Nicht die Augen, die ich erwartet hätte. Denn eines davon ist blau und das andere grün. Nicht Alex hat mich in den Armen gehalten. Es ist Nathan und ich verspüre keine Angst.
Die kleinen Schweißperlen überziehen meinen Körper, als ich aufwache. Meine Atmung ist zu schnell, um es als kleine Nervosität abstempeln zu können. Ich hab mir schon gedacht, dass dieser Abend nicht spurlos an mir vorbeigehen wird und ich es sicherlich mit einem Traum verarbeiten werde, jedoch war dieser Traum mehr als nur verrückt. Verwirrt und vollkommen geschafft lege ich den Kopf in meine Hände. Langsam versuche ich, mich wieder etwas zu beruhigen, mir nochmals klar zu machen, dass diese ganze Werwolf-Geschichte wirklich real ist und es sich nicht so wie eben, in diesem Traum nur in meinem Kopf abgespielt hat.
Da ich jetzt sowieso nicht mehr einschlafen kann, blicke ich auf die Uhr, und stelle fest, dass ich doch nicht, wie schon befürchtet, den ganzen Tag verschlafen habe. Aber es ist trotzdem eine Meisterleistung von mir. Denn bis Mittag schlafe ich wirklich selten.
Trotzdem fühle ich mich noch immer, als könnte ich noch ein wenig weiterschlafen. Aber irgendeine Stimme in mir zwingt mich aufzustehen. Das ist diese schreckliche Stimme, die mit jedem Jahr, in dem ich älter werde, auch lauter wird.
Schläfrig gehe ich ins Badezimmer und vor dem Spiegel stehend, sehe ich eine Anna mit einer absoluten Katastrophe am Kopf. Ich sehe aus, als wäre auf meinem Kopf etwas explodiert.
Gerade als ich nach der Haarbürste greifen will um dieses Chaos zu regeln, rutscht mein Shirt soweit nach oben, dass es einen Blick auf meinem Rücken zulässt. Erst jetzt wird mir wieder so einiges in Erinnerung gerufen. Also stelle ich mich näher an den Spiegel und ziehe mein Shirt soweit nach oben, damit ich meinen Rücken begutachten kann. Doch keine blauen Flecken. Nichts. Als hätte ich niemals eine Verletzung gehabt. Es hat wirklich funktioniert. Alex’s Blut hat mich geheilt. Mein Blick sucht nach irgendwelchen Zeichen von gestern. Doch auch wenn ich meine Augen immer und immer wieder darüber gleiten lasse, kann ich keine Spuren von diesen Verletzungen erkennen.
„Wir wissen alle, dass du einen schönen Rücken hast.“
Mit einem lauten Atemzug und einer schnellen Bewegung, in der ich mein Shirt sofort wieder nach unten ziehe, drehe ich mich vollkommen erschrocken zu der Stimme um, die mich soeben vollkommen überrascht hat und schon blicke in die braunen Augen von Sandra.
„Scheiße, hast du mich erschreckt. Steht auf meiner Stirn so etwas wie – Bitte täglich erschrecken- ?“
„Nimm's mir nicht böse, aber du bist eben leicht zu erschrecken. Mik hat mir die Tür aufgemacht.“
Mir ist ja klar, dass ich manche Dinge nicht sofort realisiere und manches mal Sachen von mir gebe, die kein anderer versteht. Aber wenn ich jetzt noch öfters so erschrocken werde, weiß ich nicht wie lange das mein Herz noch mitmacht. Wahrscheinlich sterbe ich nicht an den Verletzungen eines Vampirbisses, sondern einfach nur an einem Herzinfarkt mit dreiundzwanzig. „Wie ironisch“. Nach einigen Sekunden in denen sich mein Herzschlag wieder etwas beruhigt hat, greife ich nach dem Haargummi und binde meine Haare hinter dem Kopf zusammen während ich dabei noch immer von Sandra beobachtet werde, die am Türrahmen lehnt und mich mit einem argwöhnischen Blick anstarrt.
„Wo bist du gestern hingekommen? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
Ach nichts weiter. Ich wurde nur fast umgebracht und habe Blut von Alex getrunken. Ja verdammt. Das ist echt krank und ja verdammt ich kann es definitiv keinen Menschen erzählen. Ich will gar nicht an gestern denken. Bei dem Gedanken an das was gestern Abend passiert ist, fange ich an, verrückt zu werden. Oder vielleicht bin ich es ja jetzt auch offiziell.
„Also mir war echt so übel und ich musste einfach nach Hause. Was hast du noch so getrieben? Oder sollte ich besser fragen mit wem?“
Ein breites Lächeln legt sich auf ihr Gesicht. Meines hingegen verschwindet in der Sekunde, in der ich daran denke, dass Marius dieser Verrückte sein könnte. Niemals würde ich es mir verzeihen, wenn er ihr etwas antun würde. Obwohl ich sie nur zu gerne vor ihm warnen will, kann ich es nicht. Nicht solange ich mir in dieser Sache vollkommen sicher bin. Vielleicht liege ich falsch und zerstöre es. Vielleicht ist es ihre große Liebe und ich zerstöre damit ihre Hoffnung darauf. Darum muss ich diese ganze Marius Sache im Auge behalten und wenn ich mit Sicherheit weiß, dass er es ist, werde ich etwas sagen und dafür, ein paar Tage Funkstille mit Sandra in Kauf nehmen.
„Hey. Das ist doch wohl klar, mit wem ich es getrieben habe.“
Mit einem breiten Grinsen und leicht geröteten Wangen sieht sie mich an und scheint auf meine Reaktion zu warten. Auch wenn ich noch immer diesen fahlen Geschmack in meinem Mund habe, wenn ich an diesen Marius denke, kann ich ihr Lächeln nicht ignorieren und muss mit einstimmen. Und ich hab schon gedacht, nach gestern Abend würde ich nie wieder richtig lachen können.
„Also ich bin ja nicht rein zufällig hier. Ich hab hier was für dich.“
Erst jetzt fällt mir auf, dass sie einen Umschlag in der Hand hält. Hat sie etwas über diese Frau herausgefunden? Durch dieses ganze Gefühlschaos habe ich das total vergessen. Wie kann man das vergessen? Vielleicht weil mir beinahe selbst dieses Schicksal widerfahren wäre wie dieser Frau.
„Du schuldest mir etwas. Ich musste für diese Infos den Computer meines Vaters knacken. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich das nicht einfach so hinbekommen würde. Alles an Informationen über diese Frau sind in dieser Mappe.“
Voller Ehrfurcht greife ich nach dieser Mappe, die plötzlich so angsteinflößend wirkt. Welche Antworten werden mich hier wohl erwarten und will ich es nach gestern denn auch noch wissen? Bin ich auch für diese Wahrheit bereit? Um mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen, lege ich den Ordner auf dem kleinen Holztisch ab um mich damit später zu beschäftigen. Es sind einfach gerade zu viele Gedanken, die sich in meinem Kopf um die Oberhand streiten. Denn alles in meinen Gedanken schreit nach Alex und um die Tatsache, dass es Etwas gibt, an das ich vor diesem Vorfall niemals geglaubt hätte.
„Danke. Du hast auf jeden Fall etwas gut bei mir. Hast du heute schon etwas vor?“
Durch ihr breites Grinsen kann ich die Antwort schon erahnen. Sie hat definitiv etwas vor und es kann nur etwas mit Marius zu tun haben. Denn ich kenne dieses verliebte Grinsen einfach zu gut.
„Wir gehen Essen und dann sehen wir uns einen Film an. Bitte mach dir keine Sorgen. Ich mag ihn wirklich sehr.“
Mit diesen Worten bestätigt sich, dass ich meine Sorgen nicht verstecken konnte und sie es bemerkt hat.
„Ich weiß. Ich weiß, dass du ihn gerne hast. Ich will einfach nur, dass du auf dich Acht gibst.“
„Ja, Mom! Ich muss sowieso schon los, ich muss mich fertig machen für heute Abend. Ich wollte nur, dass du das heute noch bekommst.“
Ich fühle mich gerade ziemlich alt, als ich meine Worte nochmals in meinen Gedanken wiederhole. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich mache mir Sorgen um sie. Vor allem, da ich bei Marius sehr skeptisch bin und ihm nicht vertrauen kann. Gut. Ich vertraue ja auch sonst niemandem. Also bilde ich es mir vielleicht doch nur ein und er ist nicht dieser Verrückte? Vielleicht ist es einfach nur meine gestörte Persönlichkeit, die mich immer nur das Schlechte in mir fremden Leuten sehen lässt. Auch wenn Alex hier wohl eine Ausnahme darstellt.
„Danke für das hier. Viel Spaß heute Abend.“
Während wir uns mit einer Umarmung verabschieden hoffe ich so sehr, dass ich mich in Bezug auf Marius irre und er nur das Beste für Sandra will. Genauso wie ich.
Als sie die Wohnung verlässt, lasse ich mich rücklings auf die Couch fallen. So viele Gedanken in meinem Kopf. Ich weiß nicht was ich als erstes denken oder tun soll. Ich vermisse Alex. Seine Nähe, seine Wärme. Ich vermisse ihn einfach. Ich weiß, ich kann mich nicht von ihm fernhalten. Meine innere Stimme drängt mich dazu, mit ihm zu sprechen.
Nachdem ich nun gefühlte Stunden damit verbracht habe, mich in Selbstmitleid zu suhlen, fällt mein Blick auf diesen blauen Umschlag, der noch immer neben mir liegt. Für eine Weile starre ich nur darauf und frage mich, ob ich mit der Wahrheit die sich darin befindet, klarkommen werde. Aber der Entschluss den Umschlag zu öffnen wird von meiner Neugier bestärkt. Also bewegen sich meine Hände langsam auf diesen Umschlag zu, fast so als wäre er eine giftige Schlange.
Bevor ich ihn öffne, atme ich noch einmal tief ein, denn wer weiß, was sich darin befindet? Noch mehr Antworten oder auch noch mehr Fragen?
Auf der ersten Seite finde ich einen Bericht von Sandra’s Vater. Darin steht, dass sie zwanzig Jahre alt war, Samantha hieß und aus Paris stammte. Sie war Studentin und wurde nach einer Party vor ungefähr einem Monat als vermisst gemeldet. Endlich einen Namen zu diesem Gesicht zu haben, macht es etwas leichter für mich.
Meine Augen schließen sich unwillkürlich, als ich das Bild auf der nächsten Seite erblicke. Es ist ein grausamer Anblick und ich quäle mich hinzusehen. Versuche mich damit abzufinden. Versuche es nicht so ernst zu nehmen. Was natürlich bei so einem Bild nicht möglich ist. Aber ich habe es bereits in echt gesehen. Habe diesen Anblick in meinen Träumen ertragen. Als ich meine Augen wieder öffne, lässt mich der Anblick trotzdem nicht kalt. Es ist sogar noch schlimmer als das Bild, dass sich noch immer in meinem Kopf befindet. Es ist ein Foto von ihr auf dem Obduktionstisch. Der typische Y-Schnitt auf ihrem Oberkörper ist trotz den massiven Verletzungen, die ich gesehen habe, durchgeführt worden. Ich weiß es mag sich krank und gefühllos anhören. Aber ich dachte wirklich, dass dies bei den Verletzungen die sie hatte, nicht möglich ist. Wie auch in dem Bild in meinen Gedanken fehlen beide Hände und ihr ganzer Körper ist mit Schnitten übersät. Ich habe Mitleid mit ihr. Wie mag sie wohl gewesen sein? Was ist ihr wohl Schlimmes angetan worden. Ich sitze da und starre mit eiserner Miene auf das Foto, bis ich die nächste Seite aufschlage. Dies muss wohl der Bericht des obduzierenden Arztes sein. Es ist, als würde ich etwas auf Russisch lesen, denn ich verstehe kein einziges Wort. Um einen etwas genaueren Überblick zu bekommen, tippe ich die Worte in meinen Mac ein. Nach langer Suche und weiteren Fremdwörtern finde ich etwas, dass auch ich verstehen kann.
Der Tod wurde durch einen Biss in die Halsschlagader verursacht, in dessen Folge sie verblutet ist. Die Hände sind erst nach ihrem Tod abgerissen worden. Als ich mir nochmals die Fotos ansehe, sehe ich an ihrem Hals eine große Wunde. Diese Wunde ist mir vorhin nicht aufgefallen. Aber ich brauche auch nicht lange zu überlegen, durch was dieser Biss entstanden ist. Jetzt erst kann ich eins und eins zusammenzählen. Er muss es gewesen sein. Wer sonst könnte Jemandem einen Biss zufügen. Ja genau, wer sonst? Aber wieso Alex, wieso er? Die Antwort ob er sein Werwolf-Gen im Griff hat, hat sich somit eben selbst beantwortet. Die Gedanken schwirren hin und her und ich versuche mich an die Momente mit ihm zurückzuerinnern. Will nach diesem einen Zeichen suchen, dass er einen Menschen töten könnte. Verzweiflung überkommt mich, da ich zu viele Zeichen dafür finde, dass ich ihm nicht vertrauen kann. Doch auch der Name Nathan schleicht sich in meinen Kopf. Er hat doch auch mich gebissen und hätte auch mich fast umgebracht. Er könnte es gewesen sein. Ich muss mit Alex sprechen. Dieses Mal muss er mir die Wahrheit sagen. Es ist fast so, als würde ich wollen, dass er es war. Es ist krank und selbstzerstörerisch. Das ist mir klar. Aber wenn er es gewesen ist, dann hätte ich ein für alle Mal einen Grund ihn aus meinen Gedanken zu verdrängen. Ich brauche die Wahrheit. Vielleicht war dies die Bedeutung meines Traumes. Ich sollte ihr helfen. Vielleicht sollte ich die Wahrheit ans Licht bringen?
Auf eine Antwort wartend starre ich auf das Display. Schon vor über zwei Stunden habe ich Alex eine Nachricht gesendet, nachdem er nicht ran gegangen ist und noch immer habe ich keine Antwort von ihm. Ja, gut. Was sind schon zwei Stunden? Zwei Stunden ohne Zeitdruck vergehen schneller, als diese Stunden in denen man dringend auf eine Antwort wartet. Ich weiß er hat gesagt, ich soll mich von ihm fernhalten. Vielleicht meldet er sich auch deswegen nicht. Aber ich muss mit ihm sprechen. Und dies so schnell wie möglich. Denn diese Ungewissheit macht mich noch wahnsinnig. Ich muss wissen, ob er es war, oder Nathan. Wie eine kranke Stalkerin wähle ich nochmals seine Nummer. Wieder höre ich die weibliche Stimme der Mail-Box und ich wünschte mir, er würde ein einziges Mal verlässlicher sein. Gerade in diesem Moment wo sich meine Gedanken immer weiter und weiter die absurdesten Sachen zusammenreimen, würde ich ihn so dringend brauchen. Würde ich so dringend die Wahrheit brauchen. Auch wenn sie mir mehr Schmerzen zufügen könnte, als ich bereits habe.