Laut dröhnten die Bässe der Musik in seinen Ohren und Kai hoffte, seine Arbeit wäre bald erledigt, damit er schnellstmöglich von hier verschwinden konnte.
Es war eine Schnapsidee gewesen, der jungen Frau am Telefon zuzusagen, die vergangene Woche bei seinem Cateringservice angerufen hatte. Eine Geburtstagsfeier mit rund sechzig Gästen, hatte sie gesagt. Jedoch war Kai nicht davon ausgegangen, eine Horde Halbstarke bewirten zu müssen.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als ein junger Mann ihn ansprach, der ihn an seinen eigenen Sohn Nikolas erinnerte.
»Hey! Mach mir bitte fünf Absinth!« Der Typ bewegte sich rhythmisch zur Musik und schien schon einiges an alkoholischen Getränken zu sich genommen zu haben. Seine Aussprache hatte verwaschen geklungen und sein Gesicht trug einen rötlichen Schimmer, während Schweißperlen von seiner Stirn liefen.
Kai stellte Gläser auf ein Tablett, befüllte sie zu einem Drittel mit dem grünen Teufelszeug, mit dem er selbst schon einmal Bekanntschaft gemacht hatte.
Was genau an dem Abend damals geschehen war, wusste er nicht mehr.
Seine Erinnerungen reichten gerade noch so weit zurück, um zu wissen, dass er auf der Einweihungsfeier seines einzigen Sohnes gewesen war. Der Abend war wirklich gut gewesen, sie hatten sich alle sehr amüsiert und entsprechend viel getrunken, was Nikolas später zum Verhängnis geworden war.
Stefan, der einstmalig beste Freund seines Sohnes, hatte damals ausgesagt, dass Nikolas nach der Fete mit ein paar Freunden zur Diskothek im Nachbarort gefahren sei. Betrunken, wie sich später herausgestellt hatte.
Ein unangenehmes Ziehen breitete sich augenblicklich in Kais Magen aus, als er an das Gespräch mit den beiden Polizisten zurückdachte, die ihn am frühen Morgen aus dem Bett geholt und die Nachricht über den Tod seines Sohnes überbracht hatten.
Das war der Moment gewesen, als seine heile Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen war.
Mein Sohn …
Nachdem Kai zwei Drittel Wasser in die Gläser gefüllt und sich daraufhin die Flüssigkeit getrübt hatte, reichte er dem jungen Gast mit einem unguten Gefühl die Getränke und sagte: »Wenn ich dir einen Tipp geben darf, dann trink nicht so viel von dem Zeug. Das vernebelt dir nur alle Sinne. Und nimm dir bitte ein Taxi, wenn du und deine Kumpel nach Hause fahrt.«
Sein gut gemeinter Ratschlag schien auf taube Ohren zu stoßen, glaubte er dem verständnislosen Blick, mit dem der Typ ihn gerade bedachte, als hätte Kai ihm zuvor mitgeteilt, er würde nur noch alkoholfreie Getränke ausschenken. Er kannte diesen Blick.
Zu oft hatte er diesen bei seinem Sohn gesehen, wenn er ihm die Leviten lesen musste, weil der sturzbetrunken nach Hause gekommen war, oder weil er ihm genau wie dem jungen Mann einen Rat erteilt hatte.
»Ich weiß schon, was ich tue«, meinte der Gast lapidar und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, zu einer Gruppe zurück, die ihn freudig empfing.
Das hat Nikolas damals vermutlich auch gedacht, danach war er tot.
Kai schüttelte den Kopf, um die aufkommenden, negativen Gedanken zu vertreiben. Dafür war jetzt kein guter Zeitpunkt, denn er musste sich schließlich auf die Arbeit konzentrieren.
»Hallo«, sprach ihn kaum einen Atemzug später eine junge Dame in einem paillettenbesetzten Kleid an, das bei jeder ihrer Bewegung im Licht der Scheinwerfer wie Abertausende Diamanten funkelte. »Wir brauchen für kurz vor zwölf Sekt und ‘ne Runde Kurze für alle. Kriegste das hin?«
»Klar!«, erwiderte Kai nickend und sah erst gar nicht zur Uhr. Er wusste ganz genau, wie viel Zeit ihm noch bis Mitternacht bliebe.
»Supi«, fand sein Gegenüber und schnappte sich im Weggehen eines der Biere, die Kai fortlaufend zapfte, damit keiner der Gäste lang warten musste. Ein Dauerläufer, wie er von unzähligen Veranstaltungen wusste.
Mit jeder weiteren Stunde wurde die Geräuschkulisse deutlich lauter.
Eine Gruppe von sechs jungen Frauen grölte schief zum gespielten Schlager. Entgegen dem Titel Atemlos schien ihnen die Puste dabei nicht ausgehen zu wollen. Auch bei den nachfolgenden Liedern stellten sie Kais Trommelfelle auf eine sehr harte Probe. Bis zu jenem Moment, als die Musik abrupt verstummte und eine deutlich angetrunkene junge Frau mit einem Mikrofon hantierte, auf das sie ein paarmal klopfte.
»Hey Leute! Ich bin Melli und nehme jetzt anstelle von Mona, die leider nicht mehr sprechen kann, das Zepter in die Hand«, rief sie und kicherte anschließend wie ein kleines Kind, dem gerade ein Witz erzählt worden war. »Wo ist unser baldiges Geburtstagskind Linus?«
Derselbe Kerl von vorhin mit auffallend gegelten Haaren, die akkurat in einem Seitenscheitel lagen sowie an einen Turban erinnerten, hob die rechte Hand, während er mit der linken auf den Fingern pfiff.
»Komm her zu mir, mein Bester«, forderte Melli. Dabei vollführte sie eine winkende Geste. »Jetzt mach schon, es sind noch«, sie schaute auf ihre Smartwatch, die nach einem kurzen Fingertippen aufleuchtete, »sechs Minuten. Trödeln kannst du wann anders, aber nicht jetzt!«
Besagter Linus lief mit nach oben gestreckten Armen nach vorne, als wollte er die anderen Partygäste zum Anfeuern ermutigen. Nachdem er bei Melli angekommen war, drehte er sich einmal um die eigene Achse und winkte in die Menschenmenge. Er schien die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit sehr zu genießen.
»So mein Lieber, schön, dass du es doch noch einrichten konntest«, flachste Melli und legte dem jungen Mann, nachdem er vor ihr salutiert hatte, die Hand auf die Schulter. »Wie du weißt, ist in wenigen Minuten dein fünfundzwanzigster Geburtstag. Was heißt, dass wir uns was ganz Besonderes für dich ausgedacht haben.«
»Das will ich für jeden von euch auch hoffen«, rief Linus lachend dazwischen. »Immerhin bezahle ich hier die ganze Party!« Er schwenkte seinen Arm von links nach rechts durch den Raum.
»Jaja, und wir danken dir auch sehr dafür«, sagte Melli und gab Linus einen Kuss auf die Wange, was mit anzüglichen Sprüchen seitens der anderen kommentiert wurde.
»Schon gut, schon gut, Leute! Kein Grund, gleich unanständige Sachen zu rufen! Ich hab’s bei ihm längst aufgegeben.«
Währenddessen stellte Kai mehrere Tabletts mit gefüllten Sektflöten sowie Schnapsgläsern vor sich auf die Theke, die sogleich von zwei Personen direkt entgegengenommen und weitergegeben wurden, bis sie geleert wieder bei ihm ankamen.
»Hat jetzt jeder was zu trinken?«, wollte Melli wissen.
Allgemeine Zustimmung schallte durch den Raum. Sichtlich zufrieden nickte Melli und wandte sich an Linus. Demonstrativ sah sie erneut auf ihre Uhr und zeigte für jeden ersichtlich mit dem Zeigefinger darauf.
»Leute! Hebt die Gläser! Noch zehn, neun, acht …«
Innerlich stellte Kai sich darauf ein, dass ihm gleich die Trommelfelle zerplatzten, sobald Melli ihren Countdown beendet hatte und die Meute im Anschluss wie eine Herde wild gewordener Affen losbrüllen würde.
»Eins … yeah! Happy Birthday, Linus!«
Die Geräuschkulisse war nicht annähernd so laut, wie Kai sie sich eben noch ausgemalt hatte. Im Gegenteil, die Stimmung überstieg bei Weitem das, was er bisher erlebt hatte. Ohrenbetäubend kreischten alle durcheinander, johlten irgendwelche Glückwünsche, die Kai kaum verstehen konnte, bis plötzlich jemand anfing zu singen, woraufhin eine plötzliche Ruhe einkehrte. Die tiefe, sanfte Männerstimme, die Happy Birthday in einer wohlklingenden A-Capella-Version interpretierte, weckte Kais Aufmerksamkeit. Eine Wohltat für seine geschundenen Ohren.
Linus schien wie ausgewechselt, was Kai nach einem kurzen Blick festgestellt hatte. Andächtig stand der junge Mann da und blickte in eine Richtung, wohin nach und nach auch die anderen ihre Blicke wendeten. Es schien, als hätte Linus mit dieser Gesangseinlage nicht gerechnet.
Zwischenzeitlich bildete sich eine Gasse inmitten der Gäste, woraufhin ein Scheinwerfer auf diese Stelle gerichtet wurde. In dessen Lichtschein trat nun ein kräftig wirkender Mann, der vor seinem Mund ein Mikrofon hielt und offenbar der Sänger war. Auf dem Kopf trug er einen kleinen, bunten Partyhut und hielt mit der anderen Hand, wie Kai jetzt erkennen konnte, einen schokoladenglasierten Kuchen, auf dem zahlreiche Kerzen flackerten.
»Happy Birthday to youuuuu«, beendete der Gesangskünstler das Lied und erntete dafür tosenden Beifall, in den Kai mit einstieg.
»Tom, du bist und bleibst der beste Sänger für mich«, lobte Melli.
Derweil positionierte Tom sich direkt vor Linus und sah verunsichert zu diesem auf. Umständlich drückte er Melli das Mikrofon in die Hand, hob den Kuchen nun mit beiden Händen an und präsentierte ihn unübersehbar stolz.
»Und jetzt darfst, nein, musst du dir etwas wünschen, mein Lieber«, erklärte Melli mit einem Augenzwinkern.
Einen Moment lang hielt Linus inne, dann blies er in einem Rutsch alle Kerzen auf der Torte aus.
Tom übergab einem anderen Gast den Kuchen und nahm das Mikrofon erneut an sich.
»Mein lieber Linus«, sagte er und hielt in seiner Rede inne. Sein plötzlicher Stimmungswechsel war ihm deutlich anzusehen. War es Unsicherheit, die Kai in seinem Gesicht zu erkennen glaubte?
Mehrmals räusperte sich Tom, bervor er fortfuhr: »Heute ist dein großer Tag, Schatz. Und was wäre ich für ein schlechter Freund, wenn ich nichts Besonderes für dich geplant hätte? Lange habe ich hin und her überlegt, was ich dir zu deinem Geburtstag schenken könnte. Immer wieder ist mir nur eine Sache in den Sinn gekommen, von der ich glaube, sie könnte dir gefallen. Aber lass mich zunächst eine kleine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die dir vielleicht bekannt vorkommt.«
Er holte aus der Hosentasche ein Stück Papier heraus, faltete dieses auseinander und nahm es anschließend in seine linke Hand, die auffällig zitterte, bevor er weitersprach.
»Meine Geschichte beginnt mit den Worten: Es war einmal. Es war einmal ein Junge mit feuerrotem Haar, der keine Familie besaß und somit einsam durch das Leben schritt. Er fühlte sich oft traurig und allein, weil niemand ihn mochte. Er glaubte, sein gesamtes Leben in Einsamkeit verbringen zu müssen. Bis zu dem Tag, als er auf einen anderen Jungen traf. Die beiden freundeten sich daraufhin an, lernten sich besser kennen und unternahmen unglaublich viel in ihrer gemeinsamen Freizeit. Für die anderen galten sie von nun an als unzertrennlich, wie siamesische Zwillinge es waren. Doch dann folgte irgendwann der Tag, der alles verändern sollte. Der Rothaarige hatte sich nämlich unsterblich in den anderen verliebt, und mutig wie er war, gestand er ihm eines Tages seine Gefühle. Es folgten grausame Wochen, in denen der andere wie vom Erdboden verschwunden war. Schmerzlich lange Wochen des Schweigens und des nicht Sehens zogen wie unendliche Jahre ins Land, und der Rothaarige bereute zutiefst, seinen Gefühlen nachgegeben zu haben. Er verurteilte sich selbst dafür und fiel in einen Strudel aus Emotionen, der ihn immer weiter in die Tiefe zog. Dann kam eine überraschende Wendung: Der andere tauchte urplötzlich wieder auf. Zwischen Tränen und Schluchzen sagte er, wie leid ihm sein Handeln tue und er viel Zeit gebraucht habe, um seine Gefühle neu zu sortieren. Gefühle, die der Rothaarige im nächsten Augenblick in Form eines Kusses zu spüren bekam. All die Sorgen und schlechten Gedanken gehörten von diesem Moment der Vergangenheit an. Aber eine wichtige Frage, die den Rothaarigen in der vergangenen Zeit beschäftigt hatte und unnachgiebig auf der Zunge brannte, musste er stellen. Also fragte er den anderen, ob der ihn genauso liebe, wie er es tue. Als Antwort bekam er einen weiteren Kuss. Von diesem Tag an waren sie unzertrennlich und überaus glücklich.«
Nachdem Tom seine Erzählung beendet hatte, herrschte eine ungewöhnliche Stille im Saal, als wäre niemand mehr anwesend. Kai glaubte, die emotionale Stimmung mit den Händen greifen zu können, so sehr stand sie im Raum. Von irgendwoher hörte er leises Schluchzen und ein Schnäuzen.
»Mein lieber Linus«, durchbrach Tom die Stille und sank langsam auf die Knie, während er mit der freien Hand zu seiner Hosentasche fasste und etwas Kleines hervorholte.
»Derselbe rothaarige Junge wurde älter, nein, beide wurden älter. Sie verbrachten viele schöne Jahre miteinander, durchlebten Höhen und Tiefen und meisterten Situationen, auch wenn manche davon ausweglos erschienen.«
Tom stockte und holte tief Luft.
»Linus, die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Ich bin mir sicher, dass die beiden jungen Männer noch viele schöne Kapitel füllen werden.«
Erneut machte er eine Sprechpause und hantierte zeitgleich mit dem Gegenstand in seinen Händen.
Ein Raunen durchbrach die Stille und Kai sog scharf die Luft ein, als er den funkelnden Ring erkannte, der aus einer rotfarbenen Schmuckschatulle herausragte. Kai kämpfte mit seinen Emotionen, die in diesem Moment aufkamen und kräftig an seiner Fassade rüttelten.
»Wie ich bereits erwähnte, ist die Geschichte der beiden Männer noch lange nicht erzählt«, sagte Tom. Anschliesend sah er sich einmal zu den anderen um und nickte.
Wie aufs Stichwort flammten plötzlich Wunderkerzen auf, die alle Gäste in die Höhe streckten.
Merklich zufrieden wandte Tom sich zurück an Linus.
»Derselbe rothaarige Mann hatte nämlich eine tolle Idee für ein neues Kapitel. Eins, das er unheimlich gerne mit dem anderen gemeinsam schreiben möchte. Nehmen wir mal an, dass der Rothaarige den Rest seines Lebens mit dem Mann verbringen möchte, der ihm gezeigt hat, wie schön das Leben sein kann und wie unsagbar toll sich wahre Liebe anfühlt. Linus … ich bin der rothaarige Mann in der Geschichte, und du der andere. Daher möchte ich dich jetzt fragen, ob du dir vorstellen kannst, mit mir zusammen ein neues, großartiges Kapitel für unsere Geschichte zu schreiben. Ich habe bereits damit begonnen und bin nun an der Stelle angelangt, an der ich dich frage: Willst du mich heiraten?«
Laut quietsche Melli ins Mikrofon, sodass die Lautsprecher kurzzeitig übersteuerten. Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.
Linus, der zunächst schwer ergriffen dastand, wischte sich Tränen aus dem Gesicht und riss im nächsten Augenblick das Mikrofon an sich. »Oh mein Gott! Ja, natürlich will ich dich heiraten!«
Als Kai an diesem Morgen am Küchentisch saß und regungslos sowie schockiert auf die Anzeige in der Zeitung blickte, glaubte er, die Jubelschreie der vergangenen Veranstaltung wie ein immerwährendes Echo in seinen Ohren zu hören. Es kam ihm so vor, als wäre die Party erst gestern gewesen, dabei lag sie schon über eine Woche zurück.
Genauso wie der Artikel, der am darauffolgenden Tag der Feier im Stadtblatt erschienen war. Kai erinnerte sich an die Unfallmeldung, in dem von einer stark alkoholisierte Frau berichtet wurde, die in den frühen Morgenstunden die Kontrolle über ihren Wagen verloren hatte und von der Straße abgekommen war. Hierbei war ein junger Mann erfasst und schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht worden. Der Vorfall hatte in unmittelbarer Nähe der Partyhütten im Tannengrund stattgefunden.
Schon bei diesem Bericht hatte Kai eine böse Vorahnung gehabt. Und nun hielt er die Bestätigung, die ihm gnadenlos ins Auge stach, direkt in seinen Händen.
Die Liebe ist die stärkste Kraft im Universum und durch das Band der Liebe werde ich mit Euch verbunden bleiben, solange bis wir uns wiedersehen und wieder in die Arme nehmen, irgendwann, irgendwo über dem Regenbogen.
Linus Weber
*21. Mai 1999 - †21. Mai 2024
In tiefer Trauer:
Deine Eltern
Dein Tom
Deine Freunde
Im Namen aller Angehörigen
Dortmund,
den 28. Mai 2021
Kai versuchte den dicken Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, herunterzuschlucken. Je länger er auf die Anzeige starrte, desto mehr fühlte er sich in die Zeit vor sechs Jahren zurückversetzt, in der er wiederkehrend den Namen seines Sohnes gelesen hatte. Wieder und wieder.
Warum waren die jungen Leute nur so leichtsinnig und verantwortungslos.
Dieselbe Frage hatte Kai sich schon damals mehrfach gestellt. Und er wusste, er würde auch dieses Mal keine Antwort darauf finden.