Flieger
Ein überraschender Besuch
April, es muss im April 1919 gewesen sein, als Carl die Nachricht erhielt. Der Krieg war fast ein halbes Jahr vorbei, das Frühjahr breitete sich aus, doch das Land war ein anderes. Die alte Ordnung zerstört, eine Republik gegründet, die Menschen ohne Vorstellung davon – dazwischen, die Fundamente ihres Denkens und Fühlens aus den Angeln gehoben. Ein Engländer, wollte ihn sehen, in einem der besten Hotels der Stadt. Ungewöhnlich, ein Brite, ein Feind? Schon aus Neugier machte er sich auf den Weg und war doch überrascht, einen jungen Mann in seinem Alter zu treffen. Feine Gesichtszüge, ein feiner Anzug, gutes Auftreten, gutes Deutsch. Er stellte sich vor und erklärte, trotz der Zeiten geschäftlich in Deutschland zu tun zu haben. Fragte ihn, ob er jener Carl „von“ … war, der in den letzten beiden Jahren als Flieger in Belgien stationiert war, unweit vom Standort seines Geschwaders, den weiteren Namen kenne er nicht. Und er begann zu erzählen, wie er diese Jahre verbracht habe, die Einsätze jeden Tag, die ständigen Beobachtungsflüge, ja, und die Luftkämpfe. Die Lust am Fliegen – und die Trauer, die Trauer um so viele seiner Kameraden, seiner Freunde, die Angst, der Alkohol. Und er berichtete von einem der Gegner, vor dem sie alle Respekt hatten, der einen nach dem anderen von ihnen vom Himmel holte. Carl war berührt, er kannte diese Erlebnisse und Erzählungen nur zu gut, ja, er hatte viele Gegner vom Himmel geholt, wahrscheinlich diese Kameraden. Und wie viele Freunde musste er selbst betrauern? Carl fragte, ob er dieses Gerücht kannte, dass auf französischer Seite eine Pilotin geflogen sei, die ihrerseits so viele deutsche Flieger abschoss. Der Brite erwiderte, dass er diese Fliegerin gekannt hätte, ihre Einheit wäre nicht weit von seiner stationiert gewesen und fragte ob Carl an mehr Informationen interessiert wäre. Doch Carl schwieg, sagte nichts. Nicht nur die Niederlage lag auf seiner Seele, die es ihm verbot etwa selbst nach Frankreich zu fahren, nun auch noch die gefühlte Schande von einer Frau mitbesiegt worden zu sein.
Und so saßen sie lange da, der Sieger und der Besiegte, dessen Welt, dessen Werte in Trümmern lag. Beide Gewinner, denn sie waren am Leben, beide Verlierer, denn ihnen hatte der Krieg zu viel genommen, zu viel von ihrer Kraft gekostet. Beide mit Narben in ihrer Seele und Steinen auf ihrer Brust und beide mit einem erstaunten Lachen als sie sich gegenseitig in ihrem Erlebten wiederfanden. Als sie sich verabschiedeten, der Feind kaum mehr ein Feind war, da sprach der Brite ihn auf nochmal die Pilotin an. Er meinte, als Offizier mit guten Verbindungen auf britisch-französischer Seite, wäre es kein Problem Papiere zu besorgen um Carl nach Frankreich reisen zu lassen – und schließlich spräche dieser ja ein ausgezeichnetes Französisch und Englisch.