Marie
Ein unerwarteter Besuch
„Marie! Marie?“, es klopfte heftig an der Türe.
Jacques? Jacques, bist du es?
Marie öffnete die Türe, sie hatte Jacques seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen und sie fiel ihm sofort um den Hals, so freute sie sich über diesen Besuch. Jacques war selbst überwältigt und es platzte aus ihm heraus: „Weißt du, wie lange ich gebraucht habe um herauszufinden, wo du wohnst? Wie geht es dir denn? Wie ist es dir ergangen?“. Marie freute sich sehr, Jacques war ihr in den letzten Jahren ein wichtiger Kamerad und vertrauter Freund geworden und so bat sie den überraschenden Besuch in die Wohnung. „Tante Louise, schau mal, das ist Jacques, er ist von der Einheit, bei der ich die letzten Jahre verbracht habe! Erinnerst du dich, ich habe dir schon so viel von ihm erzählt!“ So setzten sie sich an den Tisch in der Küche und die gegenseitige Neugier aufeinander löste die Zungen und sie redeten und redeten, von den alten Zeiten, die erst drei Jahre zurücklagen, von den Erlebnissen, die sie teilten und schließlich von den letzten Monaten. Standen am frühen Nachmittag noch Kaffee und Gebäck auf dem Tisch, so übernahm bald der Wein überhand, die Gespräche wurden spontaner und die Gedanken weniger kontrolliert. Schließlich fragte Jacques breit grinsend: „Na, Marie, wie stehts denn mit den Männern?“. Marie zuckte innerlich zusammen, Jacques kannte sie ja und ihre Geschichte, aber er ahnte wahrscheinlich nichts von dem, was es von ihr verlangt hatte, über die Jahre hinweg, die unnahbare, tapfere, harte Frau, der Kumpel und Kamerad zu sein – oder auch nur zu spielen - als die er sie kannte. Er selbst war verheiratet, hatte drei kleine Kinder und Marie wusste, dass er sie immer als so etwas wie eine kleine Schwester betrachtete, die er eigentlich im Glück sehen wollte. Sie nahm seine Frage also nicht als Provokation, biss innerlich die Zähne zusammen, lächelte und sagte: „Jacques, du kennst mich, das ist nicht so einfach für mich. Was meinst du denn, wie ich die letzten Jahre erlebt hatte? Ich weiß, ihr mochtet mich alle, aber ich wollte euren Respekt. Dazu musste ich so sein wie ihr. Ich musste mit euch saufen, rauchen, kämpfen, hart sein. Ich war Soldat, wie ihr, wie konnte ich da gleichzeitig eine Frau sein?“. Sie - und wohl auch Jacques wusste, dass sie in vielem nicht dem entsprach, was sich Männer von einer Frau erwarteten und auch, dass sie nicht mehr bereit war, ihr Leben künftig dem eines Mannes unterzuordnen und sie ahnte, dass es auch ihr Ich war, welches viele Männer nicht mehr akzeptieren wollte, weil sie sich diesen überlegen fühlte.
Weil Jacques Marie mochte, ermunterte er sie mehr zu erzählen und er hörte er ihr aufmerksam zu. Und so erzählte sie ihm noch einmal ihre Geschichte und weil sie vieles, was Jacques schon wusste nicht erwähnte, sei es hier auch noch ergänzt. Er hörte, auch wenn er vieles schon kannte, von einem jungen Mädchen, welches mit seinem Vater eine Flugschau besuchte. Das war damals etwas Unerhörtes, etwas Spektakuläres, etwas, was die Menschen noch nie gesehen hatten. Sie war von diesen Fluggeräten begeistert, fasziniert, ja, infiziert und sie träumte davon, in einer dieser Maschinen zu sitzen und den Himmel zu streifen. Weil der Vater selber von den rasanten technischen Entwicklungen seines Zeit angetan war und weil er seine einzige Tochter sehr liebte, wollte er ihr diesen Traum erfüllen. Er war ein gut situierter Beamter, hatte seine Tochter erst recht spät bekommen und so unterstützte er sie wo er nur konnte mit Zuspruch und Geld und mit seiner Autorität als höherer Beamter, wenn es wieder mal hieß, dass so etwas wie das Fliegen nichts für Mädchen sei. Ihr Vater fragte viel herum und so erfuhr er von einer Gruppe von Ingenieuren die außerhalb der Stadt, in der sie wohnten eine Firma gegründet hatten, in der sie genau solche Flugmaschinen entwickelten, bauten und erprobten. Und so fand der Vater eine Möglichkeit seine Tochter ganz nah an ihren Traum zu bringen. Marie war begeistert und kam, so oft es ihr möglich war. Die Strecke war mit ihrem Fahrrad gut in einer Stunde zu bewältigen. Da die Ingenieure die junge Dame mochten ließen sie sie immer wieder einmal mitfliegen. Schließlich ließen sie sie selbst an das Steuer einer dieser Maschinen und so lernte Marie zu fliegen. Ihr Vater traute sich einmal mit ihr zu fliegen und er platzte vor Stolz auf seine Tochter, das erste Mädchen in der Stadt, im Land, ja, auf der Welt, die so etwas konnte.
Marie wurde Älter und ging in eine größere Stadt. Dort sollte sie eine weiterführende Schule besuchen, schließlich sollte sie eine Lehrerin werden. Auch das war ungewöhnlich zu dieser Zeit, aber ihr Vater wollte seiner Tochter unbedingt die Möglichkeit geben einen eigenen Beruf zu erlernen. Und er war stolz auf seine Tochter. Zugegeben, Lehrerin war nicht ihr Traumberuf, aber es war für eine Frau in ihrer Stellung akzeptabel – und darauf musste schließlich auch Rücksicht genommen werden. Das was sie eigentlich interessierte – die modernen Wissenschaften, die sich so rasant entwickelten, das Ingenieurwesen blieben ihr als Frau verschlossen.