Dieser Text ist das 25. Türchen des Adventskalenders 2021, der von Riley Mcforest ins Leben gerufen und organisiert wurde.
Wer sich für die vorherigen Geschichten interessiert, die findet ihr in dieser Sammlung: https://belletristica.com/de/books/39315-adventskalender-2021/chapter/203330-e
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Jedes Jahr war es dasselbe. Mit dem ersten Dezember hielten nicht nur die Weihnachtszeit, sondern auch die Anspannung und der Stress Einzug in diesem Haushalt. Statt Friede und Besinnlichkeit gab es nur Streit und Zwist in der Familie, die sich den Rest des Jahres über recht gut miteinander verstand.
Obwohl er eigentlich daran gewöhnt sein sollte, reichte es Liam am Morgen vor Heiligabend. Heute war der Höhepunkt dieser wenig besinnlichen Zeit und damit riss auch der Geduldsfaden, der über die Jahre immer dünner geworden war. Der Junge wollte nicht mehr so tun, als wäre alles perfekt, nur weil seine Mutter es von ihm und allen anderen im Haus verlangte. Deshalb wollte er sie heute zur Rede stellen. Er wartete, bis das Oberhaupt der Familie in sein Zimmer kam, um ihm wieder irgendeine dumme Aufgabe zu geben, die am Ende nur für Streit sorgte, wenn das Ergebnis den Ansprüchen der Weihnachtsdiktatorin nicht genügte.
»Warum können wir nicht einmal ein entspanntes Weihnachtsfest haben?«, fragte Liam etwas weniger vorwurfsvoll, als er es eigentlich geplant hatte.
Seine Mutter hielt für einen Moment inne, als müsste sie überlegen, ob sie wirklich die Frage beantworten sollte, anstatt weiter emsig an dem Weihnachtsfest zu arbeiten, das insgeheim allen nur zur Last fiel.
Durch das Schweigen hatte der Junge das Gefühl, noch etwas Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. »Es muss doch nicht immer alles perfekt sein. Vor allem nicht, wenn es allen dadurch nur noch schlechter geht und nichts mehr harmonisch ist. Können wir es heute nicht einmal zur Abwechslung etwas ruhiger angehen lassen? Von uns allen siehst du am meisten erschöpft aus, Mama. Das bringt doch nichts. Es ist nur Weihnachten.«
Damit betrat die dunkelhaarige Frau nun endlich das Zimmer ihres Sohnes, anstatt nur im Türrahmen zu stehen, und setzte sich zu ihm aufs Bett. Sie sah wirklich müde aus – dunkle Augenringe zeugten von schlaflosen Nächten und anstrengenden Tagen, die einfach nicht enden wollten. Nadine wusste, dass sie sich das selbst antat. Doch den Grund dafür hatte sie noch nie jemandem erzählt. Es war wohl längst an der Zeit dafür.
»Es ist eben nicht nur Weihnachten für mich«, begann die Frau und mied dabei aber den Blick ihres Sohnes, dessen Ärger plötzlich verpuffte und reiner Neugier wich.
»Früher, als ich noch klein war, war diese Zeit für mich die schönste des ganzen Jahres«, versuchte Nadine die etwas wirren Gedanken und Gefühlen in Worte zu fassen, die in ihr aufkeimten, wann immer Weihnachten näherrückte.
»Anders als dein Vater und ich haben sich meine Eltern immer gestritten. Es hat sich immer wie das Ende der Welt angefühlt, wenn sie sich anschrien und sich mitunter drohten, den jeweils anderen zu verlassen. Wenn es im Streit dann noch um mich ging, wurde das nur noch schlimmer. Weil ich einfach nur zuhören und Angst haben konnte. Egal, wie sehr ich auch darauf hoffte, das Streiten hörte nicht auf. Meistens ging es um Geld, wovon wir nicht allzu viel hatten. Es hat immer kaum gereicht, um satt und zufrieden über den Monat zu kommen.«
Der Blick der Dunkelhaarigen wurde leer und richtete sich starr ins Nichts, als würde sie nur eine Film beschreiben, der da vor ihrem inneren Auge ablief.
»An Weihnachten war alles anders. Es war so friedlich, niemand stritt sich mehr und ich fühlte mich endlich nicht mehr hilflos. Meine Eltern waren wie ausgewechselt. Ich glaube, sie gaben sich Mühe, sich nicht mehr zu streiten, weil es doch eine besinnliche Zeit sein soll. Es war ein bisschen, als wäre man im Auge des Sturms, in dem alles unglaublich ruhig ist und man glaubt, alles Unheil wäre vorüber. Dass es irgendwann wieder los geht, spielt in dem Augenblick keine Rolle. An Weihnachten hatte ich endlich das Gefühl, eine richtige Familie zu haben, die mich liebte und die nicht immer wieder kurz davor war, auseinanderzubrechen.«
Für einen Moment war alles still, während Nadine ihren Erinnerungen nachhing und Liam sich nicht traute, die Stimmung durch irgendeine Frage zu ruinieren. Ihm wäre nicht einmal eine eingefallen, die gepasst hätte. Immerhin gab es nichts, was es an dieser Geschichte nicht zu verstehen gab.
Höchstens blieb ungeklärt, warum es so lange gedauert hatte, bis die Mutter ehrlich zu ihrem Sohn war, der all die Jahre über wütend auf sie gewesen war. Nur weil er nicht verstand, dass es auch andere Familien als seine gab, in der nicht nur an Weihnachten, sondern das ganze Jahr über Streit und Unruhe herrschten.
»Das alles änderte sich nicht einmal, als mein Vater lange vor deiner Geburt am Weihnachtsabend starb. Dein Opa hatte sich am Nachmittag noch einmal hingelegt, weil es ihm schon eine Weile nicht mehr gut ging. Und als deine Oma ihn kurz vor der Bescherung wecken wollte, war es schon zu spät. Er war einfach eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Deshalb hörten auch die Streitereien über das Jahr hinweg auf. Das Haus war still, doch immer, wenn Weihnachten sich näherte, konnten deine Oma und ich gar nicht anders, als die Tradition zu wahren und fröhlich zu sein. Allein schon, weil es sich die ersten Jahre über anfühlte, als wäre dein Opa immer noch bei uns und würde mitfeiern. Wer will schon sehen, dass alle nur um einen trauern, dachten wir uns. Deshalb blieb der Weihnachtszauber in meinem Leben, auch wenn ich ihn eigentlich gar nicht mehr brauchte.«
»Also ist Weihnachten immer noch besonders«, schloss Liam die Geschichte, als seine Mutter wieder in Schweigen verfiel und nicht den Anschein erweckte, noch etwas sagen zu wollen.
Sie nickte und brachte ein kleines Lächeln zustande, das sie ihrem Sohn schenkte, dafür, dass er ihr so aufmerksam zugehört hatte. »Und darum will ich auch, dass alles perfekt ist. Ich kann noch nicht loslassen. Und ich möchte euch Kindern dasselbe Gefühl geben, das ich immer an Weihnachten habe. Auch wenn das scheinbar nicht wirklich funktioniert, habe ich recht?«
Eigentlich hätte Liam jetzt sagen sollen, dass sie mit diesem ständigen Stress vermutlich eher das Gegenteil bewirkt hat und dass er es eigentlich ziemlich egoistisch fand, dass sie ihm ein Gefühl aufzwingen wollte, von dem sie dachte, dass es weitergegeben werden müsste. Doch der Junge sagte nichts davon.
»Ist schon okay.« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Damit begann der Tag, an dem Liam sich vornahm, sich seiner Mutter zuliebe zusammenzureißen, weil er ihr einfach nicht mehr böse sein konnte. Das hieß aber nicht, dass ihm dieser Zwang zur Harmonie nicht weniger auf die Nerven ging.