Nun fiel auch noch nasser, schwerer Schneeregen auf die Dachterrasse und die dort gelagerten Materialien.
Resigniert starrte er nach draußen auf das Chaos. Immerhin gab es ein „Draußen“, immerhin waren die Fenster schon eingebaut worden und das Dach dicht. Aber hier drin, in dem seit Jahren erträumten Anbau, sah es immer noch aus wie auf einer Baustelle. Drei Wochen vor Heiligabend.
In seinen Träumen hatte er am 23. Dezember mit seiner Frau in der neuen Küche gestanden, Plätzchen für die Kinder und Enkel gebacken. Der Duft der Kekse war leicht mit dem Geruch der noch frischen Farbe vermischt, die neue Tapete fleckenlos, der geflieste Boden herrlich ebenmäßig.
Aber als er sich umsah, war der Anblick ernüchternd. Roher Estrichboden, Wände, die noch nicht einmal vollständig mit Rigipsplatten bedeckt waren, hervorstehende Kabel, wo Steckdosen sein sollten, und eine offene Decke, die den Rohbau erkennen ließ.
Es tat weh, den Traum zerbrechen zu sehen. Obwohl er all seine freie Zeit hier oben verbrachte, die Elektrik verlegte, Wände verkleidete und die Verkabelung vorbereitete, kam er alleine viel zu langsam voran. Natürlich erhielt er ab und an Hilfe von seinen Kindern, doch er wollte sie nach einem langen Arbeitstag nicht auch noch um Mithilfe am Bau bitten. Er dachte immer, er würde das schon schaffen. Aber wie es aussah, hatte er sich getäuscht.
Müde legte er den Spannungsmesser aus der Hand und verließ die Wohnung, um den nötigen Wochenendeinkauf zu erledigen.
Als die Einkäufe aufgeräumt waren, aß er ein belegtes Brot und ging zurück zur Baustelle. Es half ja alles nichts – er musste weitermachen. Vielleicht würde die eigene Küche dann wenigstens im Januar fertig werden.
Die Stimmen, die ihn beim Öffnen der Tür erreichten, irritierten ihn. Zwei Männer schienen zu streiten – wer konnte das sein?
Ein Blick um die Ecke ließ ihn verblüfft innehalten. Eine seiner Töchter stand vor der hinteren Wand, verteilte Spachtelmasse in den Spalten zwischen den Rigipsplatten und hörte ein Hörbuch.
Als sie ihn sah, schaltete sie den Lautsprecher aus. „Ich konnte dich nicht finden, dachte aber, ich mach schon mal weiter.“ Sie lächelte, als er sie weiterhin nur erstaunt anstarrte. „Oder hast du anderes vor?“
„Nein“, beeilte er sich zu versichern. „Absolut nicht. Das ist großartig!“ Die schlichte Tatsache, dass er nicht alleine war, steigerte seine Motivation sofort. „Ich mach dann mal mit den Steckdosen weiter“, informierte er. „Du kannst dein Hörbuch ruhig weiterhören.“
Doch sie schüttelte den Kopf. „Ne, lass uns Musik hören. Ist doch zusammen viel schöner.“ Sie zog das Telefon aus der Tasche und tippte darauf herum, während er sich mit neuem Elan über die Verkabelung hermachte.
Der Schneeregen vor dem Fenster war durch kleine weiße Flöckchen ersetzt worden, die wild vom Wind herumgewirbelt wurden.
Auch am Folgetag arbeiteten sie gemeinsam auf der Baustelle. Dass sie die Sonntagsruhe durch gelegentliches Bohren und Schrauben durchbrachen, störte weder seine Frau noch seinen Schwiegersohn, die immer mal wieder im neuen Anbau vorbeischauten, um kurz mit Hand anzulegen oder die beiden Handwerkenden mit Leckereien und Getränken zu versorgen.
Fast alle Steckdosen waren inzwischen eingesetzt. Auch die Spalten der Rigipswände waren größtenteils schon von einer ebenmäßigen Schicht Spachtelmasse verborgen. Wenn es doch nur jedes Wochenende so gut vorangehen würde!
„Aha.“ Der zufriedene Tonfall seiner Tochter machte ihn neugierig. Mit breitem Grinsen sah sie ihn an. „In 15 Minuten bekommen wir Unterstützung. Einer meiner Feuerwehrkameraden hat gerade nichts zu tun und kommt vorbei.“
Was für eine großartige Nachricht! Er kannte den Kameraden nicht, aber wenn seine Tochter ihn für fähig hielt, hatte sie sicherlich recht. „Wir kriegen sogar weitere Hilfe“, ergänzte er. Das hatte er noch gar nicht berichtet. „Ein Bekannter von mir, Niko, ist Elektriker und wird sich nachher mal angucken, ob er uns die Kabel an den Sicherungskasten anschließen kann.“
Ein wenig fürchtete er sich vor dessen Urteil. Noch ragten so viele lose Kabelenden aus den Wänden, sah alles so chaotisch aus, dass Niko das Projekt für nicht fortgeschritten genug halten könnte. Oder für unprofessionell verlegt.
Fieberhaft arbeitete er weiter an der Elektrik, bis es zum ersten Mal an der Tür klingelte.
Sorgfältig wischte Niko sich die Schuhe auf dem Fußabtreter trocken. Eine dünne, pudrige Schneeschicht bedeckte die Straße und ein wenig davon haftete an seinen Sohlen. „Na, dann zeig mal her, was du gemacht hast!“, wendete er sich an seinen Gastgeber.
Der führte ihn zum Anbau, immer noch nervös.
„Sieht prima aus! Das schließe ich dir nächste Woche an den Sicherungskasten an, kein Problem. Fliest du den Boden noch?“
Ihm fiel ein Stein vom Herzen. „Nächste Woche schon? Das ist ja großartig! Und ja, der Boden wird gefliest. Der Estrich soll ja nicht so nackt bleiben.“ Die Vorstellung rief ein leises Lachen hervor.
„Und wer macht das? Marek?“
Überrascht sah er Niko an. „Ist Marek denn noch im Geschäft? Ich dachte, der ist längst im Ruhestand.“
„Ja, schon, aber er hilft doch gerne, grade dir! Du weißt, dass er das gut kann – frag ihn doch einfach mal!“
Auf den Gedanken war er noch gar nicht gekommen. Marek hatte damals, als das Haus renoviert worden war, für eine Firma gearbeitet, die das gesamte Erdgeschoss gefliest hatte. Schnell und professionell war er gewesen und sie hatten sich gut verstanden.
„Das ist eine gute Idee. Danke!“
Er bekam noch Mareks aktuelle Telefonnummer, bevor er Niko zur Tür brachte.
Die vielen kleinen Flöckchen waren deutlich gewachsen und begannen, auf der Straße und dem Gehweg eine Schicht zu bilden. Er sollte wohl doch besser noch den Schneeschieber suchen.
„Vielen lieben Dank für deine Hilfe!“ Seine Tochter verabschiedete ihren Kameraden, der in den letzten Stunden geholfen hatte, die nackte Decke mit den verfügbaren Rigipsplatten zu verkleiden. Zu viert war das so leicht und einfach gewesen, dass der Mann sich entschuldigt hatte, nicht wirklich viel getan zu haben – wenn er wüsste, wie viel länger das Ganze mit nur einem Paar Hände weniger gedauert hätte!
„Ich gehe mal runter, damit ich die Klingel höre“, verabschiedete sich nun auch sein Schwiegersohn. Er hatte bei einem Lieferdienst Abendessen für alle bestellt. „Morgen früh gehen wir Tapete kaufen“, sagte er noch, dann ließ er seine Frau und den Schwiegervater alleine zurück. Bei den kommenden Detailaufgaben stand er seiner Ansicht nach mehr im Weg.
Zufrieden betrachtete seine Tochter die Decke. „Das verspachtle ich jetzt gleich – dann können wir morgen vielleicht schon mit dem Tapezieren anfangen!“
Er vermutete zwar, dass sich das noch ein, zwei Tage länger hinziehen würde, sagte aber nichts, als sie loszog, um einen Becher Spachtelmasse anzurühren. Leise drehte er sich zum Fenster und sah hinaus. So weit, wie sie heute gekommen waren, schien die neue Küche zu Heiligabend doch wieder möglich zu sein. Mit Strom, den Niko bald anschließen würde. Und Fliesen, die Marek schon übermorgen verlegen würde. Dass seine Fähigkeiten immer noch so gut in Erinnerung war und der Kontakt nun wieder hergestellt wurde, hatte ihn sehr gefreut.
Eine dichte, im Licht der inzwischen aufgehängten Lichterketten glitzernde Schneedecke bedeckte die Dachterrasse und den dahinter sichtbaren Garten. Die mit Planen abgedeckten Eimer, Tröge und Hölzer waren unter einer strahlenden Decke verschwunden, die durch die Weihnachtsbeleuchtung hier und in der Nachbarschaft wie verzaubert wirkte. So ganz anders als noch vor wenigen Tagen geworden. Verwandelt wie in einem Märchen. Einem Wintermärchen.
Nun hatte er wieder Hoffnung, dass auch sein privates Weihnachtswunder Realität werden könnte. Er würde dranbleiben! Entschlossen straffte er sich, griff nach dem bereitliegenden Werkzeug und schloss sich seiner Tochter bei den Spachtelarbeiten an.