Krach war ich im Haus meiner Eltern gewöhnt. Wir alle wohnten hier unter einem Dach, weil meine Mutter uns nach dem Tod meines Vaters bei sich haben wollte. Meine Schwester Bea mit ihren zwei zauberhaften, furchtbar lauten Kindern war eingezogen, nachdem sie ihren Nichtsnutz von Ehemann in die Wüste geschickt hatte. Das war vor zwei Jahren gewesen. Seitdem hatte man keine Ruhe mehr in dem Haus.
Ich war überhaupt nie ausgezogen, sondern nach der Uni einfach geblieben. Mein Vater war krank geworden, meine Mutter stand an der Klippe und dann starb mein Großvater. Zu gehen und sie mit all dem allein zu lassen, kam mir nicht richtig vor. Und Ausziehen war auch nie nötig gewesen, immerhin hatte ich meine eigene Bude unter dem Dach und machte meinen Job von zuhause aus. Aber selbst da oben konnte man das Geschrei der Zwillinge hören, zwei unglaublich niedliche und fröhliche Quälgeister, denen man nur entkommen konnte, wenn man entweder die Tür abschloss oder sich in der Werkstatt meines Opas verkroch.
Was meine Zuflucht war. Ich wühlte mich gern durch seine Sachen und hing den Erinnerungen meiner Kindheit nach. Den Geschichten, die er erzählte, während er handgezimmerte Puppenhäuser bemalte oder Vogelhäuschen zu wahren Palästen umbaute. Noch heute stand sein Meisterwerk hinten im Garten und wurde jedes Frühjahr und im Herbst von unzähligen Vögeln bestürmt. Es war inzwischen meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es nicht kaputt ging. Doch sein Herzensstück hatte er vor seinem Tode nicht fertig bekommen.
Als ich an diesem Morgen die Treppe herunterstieg, dachte ich noch, der Krach würde von den Kindern kommen, doch die waren nirgends zu sehen. Auch meine Schwester Bea schien noch nicht auf den Beinen zu sein. Mit einem Lächeln ließ ich meine Finger im Vorbeigehen über die Nadeln des bunten Baumes streichen und verließ das Haus durch einen Seitengang, der in die Garage und Opas Werkstatt führte. Ich stutzte, denn das Rumpeln kam von dort. Hektisch zog ich den Schlüssel hervor und musste feststellen, dass die Tür wie immer verschlossen war. Seit wir kleine Kinder im Haus hatten, schloss ich immer ab, damit sie sich nicht verletzen oder etwas kaputtmachen konnten.
Die Werkstatt war jedoch leer, als ich eintrat. Es sah aus wie immer. Könnte man meinen. Doch ich hielt mich, wenn ich nicht arbeitete, zu jeder freien Stunde hier drin auf und ich wusste, wenn etwas nicht an seinem Platz war. Ich sah, dass ein Vorhang schief hing und ein paar Werkzeuge an der Wand schwangen noch.
»Nicht schon wieder ...«, murmelte ich und öffnete das Fenster. Ich konnte es rascheln hören im Gebüsch darunter. Mein Großvater hatte mir Geschichten erzählt als Kind, von Dingen, die mich damals fasziniert hatten, doch die immer weiter in die Ferne wichen, je älter ich wurde. Er hatte mir erzählt, dass wir Wesen in unserem Haus beherbergen würden, die sich niemandem zeigten, der nicht an sie glaubte. Mein Elternhaus war seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert im Besitz meiner Familie und immer soll es eine Person gegeben haben, die glaubte und so dafür sorgte, dass die kleinen Untermieter niemals verschwanden. Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und betrachtete die letzte Arbeit, die mein Großvater nie hatte beenden können. Es war ein Puppenhaus. Größer als die, die man in Spielzeugläden kaufen konnte, eine exakte Kopie unseres Hauses, fast so groß wie ich. Ich fragte mich, aus welchem Grund er dieses Mammutprojekt begonnen hatte, an dem er schon arbeitete, als ich noch ein Kind war. Damals konnte ich im größten Raum des Hauses, der unserem Wohnzimmer nachempfunden war, sitzen, wenn ich mich klein machte.
Sie bringen Glück, die kleinen Wesen. Man muss sie nur gut behandeln. Das hatte mein Opa immer gesagt, wenn er mal wieder von etwas zu viel Whiskey im Tee ein bisschen angeheitert war. Ich erinnerte mich, dass ich einmal gefragt hatte, wie sie denn aussähen, doch er legte sich nur den Finger auf die Lippen und zischte leise.
»Glauben musst du.«
»Also sind sie gar nicht echt?«
Mein Großvater hatte nach Luft geschnappt und den Kopf geschüttelt. Vielleicht hatte er geglaubt, ich würde es nie verstehen. Doch ich war ein Kind und ich war neugierig. Ich bekam jedoch nie eine Antwort von ihm. Und nun, wo ich in seinem Reich stand, inmitten all der Dinge, die er in seinem langen Leben mit seinen Händen gebaut hatte, empfand ich es als Schande, dass sein wahres Lebenswerk, dieses Haus, niemals fertig werden würde, wenn es nicht einer für ihn tat.
Ich ließ meine Finger darüber streichen. Es war fast fertig. Es fehlten nur noch einige Lackierungen, Teile mussten verschraubt werden und Möbel bemalt. Staubig war es außerdem und ein paar Spinnweben hatten sich in den Ecken der Räume gebildet, ganz so, wie es bei einem echten Haus wäre, das niemand mehr bewohnte.
Niemand mehr bewohnte ... ich stutzte. Großvater hatte für jedes Haus, das er gebaut hatte, auch Puppen gemacht. Sie alle saßen fein säuberlich in einem Regal, doch dieses Haus hatte keine. Nicht eine, nicht mal eine, um den Maßstab einzuhalten.
Ich schob meine Verwunderung beiseite, schaltete das Radio ein und machte mich auf die Suche nach den Plänen für das Puppenhaus. Als Architekt hatte mein Opa jede Miniatur genauso geplant wie ein echtes Gebäude. Ich fand sie im Schrank zusammen mit einer Kiste, die die unfertigen Möbel enthielt. Betten. Es waren hauptsächlich Betten. Ein paar Stühle noch, ein Esstisch und Sofateile. Die waren sogar bereits mit Stoff und Polsterung bezogen und mussten nur noch zusammengesetzt werden. Verzaubert vom Talent und der Hingabe zum Detail, die diese Möbel hatten, studierte ich am Tisch die Baupläne und hatte nach zwei Stunden ein ganzes Arsenal an Einrichtungsgegenständen.
Es bekümmerte mich, dass Opa eigentlich alles hatte, um das Puppenhaus fertigzustellen, doch nie die Gelegenheit gehabt hatte, es vollständig zu sehen.
»Wozu die vielen Betten, Opa?«, murmelte ich zu mir, als ich die kleinen Räume zu putzen begann. Die Weberknechte waren nicht begeistert, dass ich ihre Netze zerstörte, doch für wen auch immer mein Großvater das Haus gedacht hatte, es waren nicht sie gewesen. Kichernd richtete ich anschließend alles wieder ein, drapierte die kleinen Teppiche und spielte mit dem winzigen Porzellangeschirr, das in einem Schrank im Esszimmer aufbewahrt wurde. Genau wie das Geschirr meiner Urgroßmutter, das niemand anfassen durfte. In jedem der vielen Schlafzimmer landete eines der Betten, mein Opa hatte jedes einzelne Zimmer genau geplant und ich bemühte mich, mich genau an diese Pläne zu halten. Das dauerte so lange, dass ich gar nicht merkte, wie der Tag verstrich. Es wurde bereits wieder dunkel, als ich das Haus, das man in der Mitte aufklappen konnte, schloss und einen unter einer Klappe versteckten Schalter umlegte. In jedem Zimmer flammten die Lampen auf und das Licht warf winzige Rechtecke auf den Holzfußboden der Werkstatt. Ein heftiges Gefühl erfasste mich und ich presste mir die Hand auf den Mund. Es war noch nicht ganz fertig, aber so hatte sich mein Opa das vorgestellt? Es war atemberaubend und plötzlich verstand ich es. Mein Großvater hatte sein Leben lang an die Existenz der kleinen Wesen unter unserem Haus geglaubt. Er hatte für sie gesorgt, gutes Essen stehen lassen, das am Morgen verschwunden war. Ich hatte immer gedacht, meine Oma oder meine Mutter hätten es weggeräumt, aber was, wenn das gar nicht so war? Was, wenn es sie waren, für die er dieses Haus gebaut hatte? Damit sie einen Platz in ihrer Größe hatten.
Konnte es möglich sein, dass es wirklich etwas gab und ich dreißig Jahre alt werden musste, um zu verstehen, was mein Opa mir hatte sagen wollen? Er hatte sich sein Leben lang um die kleinen Wesen gekümmert und jetzt war das meine Aufgabe? War es an der Zeit, zu glauben?
Ich sah mich in der Werkstatt um, der Vorhang hing noch immer schief. Ich erinnerte mich an die vielen Momente, in denen ich etwas komisch fand. In denen Dinge passiert waren, für die keiner eine Erklärung hatte oder die Verantwortung trug. Gegenstände verschwanden und tauchten plötzlich andernorts wieder auf, Obst war angeknabbert worden, doch egal, wie viele Mausefallen meine Mutter aufstellte, sie hatte nie Glück, auch nur eine zu fangen. Es waren keine Mäuse, oder? Überhaupt war unser Haus mehr als zweihundert Jahre alt und trotzdem völlig frei von Ungeziefer. Hatte Großvater Recht und die kleinen Wesen brachten uns Glück im Austausch für Wärme und etwas Essen?
Ich atmete tief durch und schnupperte, als ein feiner Duft zu mir zog. Perplex sah ich auf die Uhr und fluchte. Es war schon ziemlich spät und ich hatte versprochen, bei den Vorbereitungen für das Weihnachtsessen zu helfen! Einer musste die Kinder ruhig halten, während meine Schwester Kekse verzierte.
Schmunzelnd öffnete ich die Haustür des Puppenhauses und schaltete das Licht aus, bevor ich die Werkstatt verließ.
Es war bereits spät in der Nacht, als ich wieder ein Rumpeln hörte. Rumoren in einem alten Haus war normal, doch irgendwas hatte sich verändert über den Tag. Ich dachte nun anders über die Worte meines Opas und ich glaube, das Geräusch winziger Füße zu hören, die nicht Mäusen gehörten. Mit einem Gänsehautschauer stieg ich leise und ohne Licht zu machen, die Treppe hinunter und schlich mich durch das Haus, auf der Suche nach der Quelle des Geräuschs. Vor der Werkstatt stoppte ich. Ich hatte sie nicht abgeschlossen und die Tür stand einen Spalt offen, ein feiner Lichtschimmer, sicher von der kleinen Lampe auf dem Tisch, fiel hindurch. Für einen kurzen Moment dachte ich ‘Hoffentlich sind es nicht die Zwillinge’, doch ich schob den Gedanken beiseite, denn die beiden machten eine andere, eine zerstörerische Art von Krach.
Langsam schob ich meinen Kopf durch den Türspalt und da sah ich sie. Ich sah sie wirklich.
Die kleinen Wesen.
Vielleicht so groß wie drei Mäuse, die auf einander standen, ein bisschen verschoben in ihren Körperproportionen, kugelrund wirkend mit kleinen Füßen und knubbligen Gesichtern. Sie quiekten und kicherten leise wie Blättergeraschel und ich hörte ein Klappern und Klingen auf Porzellan, denn sie hatten sich um einen Teller versammelt, den ich am Abend in die Werkstatt gestellt hatte. Darauf lagen ein paar der Kekse meiner Schwester, geschälte Mandarinen, Nüsse und Schokolade.
Ich musste vernehmlich nach Luft geschnappt haben, denn sie zuckten plötzlich zusammen und stoben auseinander, alle in unterschiedliche Richtungen. Nur einer war sitzen geblieben, es war schwer zu sagen ob aus Schreck oder weil er keine Angst hatte. Er hielt ein Stück Mandarine in seinen winzigen Händen und sah mich geradeheraus an. Was ich für verschobene Körperproportionen gehalten hatte, war ein dickes, kegelförmiges Mäntelchen und auf seinem Kopf trug er eine Mütze aus so feinem Stoff, dass sie wie eine Wichtelmütze über seine Schultern fiel.
Wir starrten einander an und ich war mir nicht sicher, wer sich merkwürdiger fühlte.
»Danke für die Speisen«, piepste die kleine Person auf einmal. »Die werden helfen, wenn wir in den Winterschlaf gehen.«
»W-Winterschlaf?« Ich musste mich räuspern, ich kam mir vor, als würde ich den Verstand verlieren.
Doch das Persönchen erhob sich und nickte. Er zeigte auf das Haus, wobei er sich das Mandarinenstück unter den Arm klemmte.
»Der alte Mann versprach, wir würden irgendwann unser eigenes Winterquartier haben. Wir waren sehr traurig, als er verschied. Er war immer gut zu uns.«
Perplex fragte ich mich, wie alt das kleine Wesen vor mir war, doch ein anderer Gedanke war schneller.
»Wo schlaft ihr jetzt?«
»In unseren Wohnhöhlen unter dem Haus.«
»Also ... im Keller?«
»Ja. Da ist es warm im Winter.«
Ich rieb mir die Hände und betrachtete das Haus. Großvater hatte es also wirklich zu diesem Zweck gebaut und sein ganzes Leben damit verbracht.
»Wann geht ihr in den Winterschlaf?«
Das Kerlchen lächelte mich verschmitzt an, als es den Kopf schief legte.
»Nach Weihnachten. Die Menschen haben dann so viel Essen.«
»Gut, hör’ zu. Ich verspreche, das Haus ist fertig bis dahin. Ich weiß noch nicht, wie ich es in den Keller bekomme, damit ihr eure Ruhe habt, aber ich finde schon einen Weg.«
»Du bist dem alten Mann sehr ähnlich«, entgegnete mein winziges Gegenüber, schob sich noch eine Nuss in die Manteltasche und sprang dann vom Tisch. Es verneigte sich, bevor es in einem Spalt in der Wand verschwand und erst da bemerkte ich, dass ich nicht nach dem Namen gefragt habe.
Anstatt wieder ins Bett zu gehen, begann ich mit den letzten Feinarbeiten an Großvaters Puppenhaus, mit dem sonderbaren Gefühl im Bauch, in ein uraltes Geheimnis dieses Anwesens eingeweiht worden zu sein, das es um jeden Preis zu beschützen galt.
»Warum willst du dieses Ding unbedingt in den Keller schaffen?« Bea, meine Schwester, ächzte, als sie mir dabei half, das fertige Puppenhaus in den Lastenaufzug zu tragen.
»Weil ich es aus der Werkstatt haben will. Es nimmt zu viel Platz weg. Willst du es auf den Dachboden tragen? Die Treppen hoch?«
Bea schnaufte ablehnend. »Die Kinder könnten damit spielen.«
»Nein! Sorry, B, aber nein. Ich will es zwar nicht in der Werkstatt haben, aber Opa hat sein Leben lang daran gearbeitet. Nicht, damit die Jungs es in einer Woche kaputt gemacht haben. Bitte nicht.«
Glücklicherweise war meine Schwester keine dieser Übermamas, die nicht wussten, dass ihre Kinder kleine Monster sein konnten, also nickte sie nur. Sie hatte nie so einen Drang gehabt, Opa beim Basteln zuzusehen, aber das Puppenhaus, dass er ihr zu einem ihrer Geburtstage gebaut hatte, besaß sie schließlich auch immer noch und hegte es.
»Gut, danke. Den Rest schaff’ ich allein«, schnaufte ich, als wir in einem der ungenutzten Kellerräume waren. Alles war trocken und staubig, also würde Opas Lebenswerk und das Quartier der kleinen Wesen nicht durch Feuchtigkeit und Moder kaputt gehen.
»Du wirst immer mehr wie Opa, echt. Bald fängst du auch an, Miniaturmöbel zu bauen oder mit Rosshaarpinseln winzige Gemälde zu malen.« Bea, die ein paar Jahre älter war als ich, schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf.
»Jeder Mensch braucht ein Hobby.«
»Solange du nur nicht auch anfängst, von irgendwelchen Elfen unter dem Haus zu fantasieren ...«
Ich sah Bea perplex ins Gesicht. Opa hatte es also zuerst bei ihr versucht und seine Worte waren nicht auf fruchtbaren Boden gefallen?
»Ich mochte die Geschichten immer, die waren doch niedlich«, beeilte ich mich zu sagen, was meine Schwester nur mit einem Brummen kommentierte und wieder nach oben ging.
Ich schob schließlich das Haus in eine der Ecken und positionierte es, damit die kleinen Kerlchen genug Platz hatten, sowohl die Vorder- als auch die Hintertür zu benutzen. Im Esszimmer des Puppenhauses hatte ich eine kleine Schüssel mit Cornflakes, Trockenobst und Nüssen hinterlassen.
»Okay ... Willkommen zuhause«, murmelte ich und sah mich um. Der Raum hatte einige schmale Spalten zwischen den Scheuerleisten und Holzverkleidungen. Hinter den Wänden und unter den Böden musste ein ganzes Verkehrsnetz für die kleinen Wesen sein. Ich glaubte, irgendwo eine rote Mütze aufblitzen zu sehen, doch sicher wusste ich es nicht.
Ich verließ den Keller und verbrachte Weihnachten mit meiner Familie. Erst danach schlich ich mich einmal hinunter und linste in den dunklen Raum. Und tatsächlich sah ich, dass in dem Puppenhaus eine Lampe leuchtete. Die kleinen Wesen hatten das Geschenk meines Großvaters angenommen und meine Gaben akzeptiert.
Ich störte sie nicht und sie störten mich nicht, doch oft, viel öfter als vorher, hatte ich das Gefühl, ihre Anwesenheit zu spüren.
Kleine Augen, die über mich und die Menschen in diesem Haus wachten, wie sie es schon immer getan hatten ...
~ ENDE ~