Lilly ist zwölf Jahre alt. Sie ist ein kluges Mädchen mit einem großem Herzen. Wenn freitags eine Demo gegen den Klimawandel stattfindet, dann ist das für sie nicht einfach ein willkommener Anlass die Schule zu schwänzen, nein, dann ist sie vielmehr eine der Mitorganisatorinnen, dann hält sie das Banner hoch, dann ruft sie in ihr Megaphon, was die anderen Jugendlichen um sie herum im Sprechchor wiederholen.
Lilly mag die Schule passt immer gut auf, lernt auch selbstständig, informiert sich, liest sogar schon Zeitung und schaut sich kritische Videos im Internet an. Doch was sie da erfährt, ist manchmal mehr als sie ertragen kann. Sie merkt es nicht immer gleich, doch manchmal verfolgt es sie dann bis in ihre Träume.
Aber noch nie war es so schlimm wie in dieser Nacht. Es ist der lebendigste Traum, den sie in ihrem Leben jemals hatte. Den Geruch hat sie sogar noch in der Nase, nachdem sie längst wieder wach ist, diese beißende Mischung aus Kot, Urin, Eiter und Blut. Und auch der Schrecken, der ihr in die Knochen gefahren ist, will einfach nicht weichen. Sie wird die Bilder nicht los und hat die Schreie immer noch im Ohr. Erst waren es nur die vereinzelten Stimmen von Kühen, Ziegen, Schafen, Schweinen, Hühnern, Gänsen, Truthähnen, Wachteln und Kaninchen in Todesangst, die verzweifelt um Hilfe, oder Gnade schrien. Dann schwoll der Klang jedoch immer weiter an und irgendwann vereinen sich all diese Stimmen zu einer erschreckenden, ohrenbetäubenden Dissonanz.
Lilly springt verschwitzt und zitternd aus dem Bett und ruft auf ihrem Tablet den Artikel noch einmal auf, den sie vor dem Schlafengehen gelesen hat. Es KANN nicht sein! Sie muss da etwas falsch verstanden haben, denkt sie noch und überfliegt die Zeilen ein weiteres Mal. Doch da steht sie schwarz auf weiß, jene unfassbar hohe Zahl:
Siebzig Milliarden Landtiere werden jedes Jahr für den menschlichen Verzehr getötet. Fische und andere Meerestiere sind darin noch gar nicht enthalten. Ihre Zahl lässt sich lediglich in Bruttoregistertonnen bemessen.
Siebzig Milliarden, echot es in Lillys Kopf.
Siebzig Milliarden?
Wie viele Tiere sind das überhaupt?
Das ist eine so unfassbar große Zahl!
Lillys Katze Mischa springt zu ihr auf den Schoß, fordert nach Liebe, nach streichelnden Händen und schaut ihre menschliche Freundin mit ihren großen, schönen türkisfarbenen Augen an.
Natürlich hat Mischa eine Seele, Gefühle, eine ganz eigene Persönlichkeit. Und da wird es Lilly schlagartig klar. Genauso ist es für jede Kuh, jede Ziege, jedes Schaf, jedes Schwein, jedes Huhn, jede Gans, jeden Truthahn, jede Wachtel und jedes Kaninchen.
Siebzig Milliarden Seelen.
Jedes Jahr!
Als Lilly an den Esstisch kommt, hat ihre Mutter bereits das Frühstück fertig. Milch, Butter, Wurst und Käse.
Lilly hört wieder die entsetzten Tiere schreien, riecht den Tod durch die Düfte der Lebensmittel hindurch, sieht die leidenden Lebewesen vor sich und ihr wird ganz elend.