Edwig war ein Bote ohne Ansprüche, mit einem groben Plan fürs Leben und einem Ort, an dem er sich zuhause fühlte. Er führte ein bescheidenes Dasein; an manchen Tagen in Einsamkeit, an anderen in Gesellschaft dunkler Nachtmahre, welche ihn unablässig verfolgten. Weder glücklich noch miserabel. Wär es dabei geblieben, hätte ich keinen Grund darüber zu schreiben.
Ich bin nichts als ein Schatten von ihm, habe mich entfremdet von meiner Vergangenheit. Mit einer schwindenden Sehnsucht blicke ich zurück, versuche zu greifen, was für ein Hemnan ich einst war. Ein mitfühlender, ambitionierter junger Mann. Aber töricht und naiv. Meine Neugier habe ich teuer bezahlt, nicht in Gold oder Blut, sondern mit dem Verstand. Die Erinnerung daran schwindet, wie die Flamme an herunterglühenden Kohlen.
Damals, als ich mich Edwig nannte, trug sich das Folgende zu. Ich weiß nicht, ob ich dazu fähig bin, genug klare Gedanken zu fassen, um davon zu erzählen. Selbst wenn es mir gelänge, könnte ich genauso des Wahnsinns sein, weshalb diese Worte mit jenem Wissen im Hinterkopf zu verstehen sind.
Wer auch immer diesen Text findet, den ich mit letzter Geisteskraft ins Pergament banne, so bitte ich dich, dass du dies als Warnung verstehst. Lass mein Schicksal dir eine Lehre sein.
Im Jahr 122 nach der Heiligsprechung, hatte ich ein Talent darin, so schnell zu laufen, wie kaum jemand im gesamten Hinterland der Region. In früher Kindheit vermochte nichts mir mehr Freude zu bereiten, als mit den anderen Kindern, Jäger und Gejagter zu spielen. Ich war so schnell wie der Wind und führte eine kleine Truppe an Jungen und Mädchen an, die mir auf jedem Schritt folgten. Einholen konnten sie mich allerdings nicht. Selbst den Hund der Müllerin überholte ich an manchen Tagen.
Vergangen sind jene spaßige Morgende, an denen wir uns im Schlamm des Herbsts suhlten, Abende an welchen wir um ein Feuer versammelt den Winterwinden widerstanden oder Mittage im Frühling und Sommer, als wir durch die grün-goldenen Hügel tollten. Die von Grashalmen geschnittenen und von Wildkräutern geröteten Beine trugen wir als Heldennarben und Überbleibsel schier endloser Tage der Freude. Nach dem Vorfall am Grausee, waren unsere Wege getrennt verlaufen. Womöglich hatte es damals begonnen, mit den Albträumen.
Ich wurde älter, bekam kräftige Beine und große Füße. Als meine Großmutter an der Mondsiech erkrankte, sollte ich ihre letzten Wünsche an die Hinterbliebenen verteilen. Sie hatte vier Jungen und drei Mädchen, eines davon war meine Mutter sowie zwei Geschwister und einen guten Freund. All jene lebten in einem Umkreis, der sich bis an die Grenzen der Region Grischland, des Fürstentum Grenels, spannte. Die Meisten hätten vom Sonnen Auf- bis Untergang benötigt, um sie zu durchqueren, wohingegen ich zur Dämmersonne bereits das Küstengebiet des nächsten Fürstentums erreichte. Vom einen bis zum anderen Ende war es weit genug, um auf dem Weg in einer Gaststube einzukehren.
Während ich die Briefe auslieferte, war ich mitunter tagelang unterwegs, ohne derartigen Luxus. Ich schlief in den Scheunen von Bauern, unter Bäumen und mitten auf der Wiese, nahe einem Bachlauf. Mir gelang es auf diese Weise, innerhalb von einer Woche, alle zu verteilen. Die meisten Boten nahmen keine Aufträge an, bei denen sie mehrere Schriftstücke an einem Tag ausliefern mussten, zumindest nicht über eine solche Distanz.
Als meine Verwandten eintrafen, befand sich die alte Frau bereits im Endstadium ihres Leidens. Sie waren mir zutiefst dankbar, dass ich so rasch gewesen war. Andernfalls hätten manche ihre letzten Augenblicke verpasst. Einer meiner Onkel wollte dies zurückzahlen, indem er mir ein Angebot unterbreitete. Ich sollte zu einem Handelspartner von ihm reisen und diesem einen streng vertraulichen Brief überreichen. Dabei war es wichtig, dass die Botschaft so früh einging, wie möglich. Nur ein halber Tag Verspätung, würde fatal sein, so sagte er mir.
Bis heute kenne ich den Inhalt dieses Dokuments nicht, doch ich weiß noch immer die Strecke, welche ich zurücklegen musste. An den Weizenfeldern vorbei, dem Bach entlang bis zur dritten Abzweigung, dann in Richtung See und durch den dichten Wald, den man nur als den Henkersforst kannte, da es hieß, dass dort die Körper der Landesverräter begraben lagen. Dann war ich da.
Der Forst jagte mir stets ein unangenehmes Gefühl ein, wie als würde mich jemand beobachten. Nicht ein Wildtier oder Wanderer, sondern etwas Bösartiges. Keine Neugier oder Angst lag in diesen Blicken, die sich mir in den Nacken fraßen, wie Würmer in einen Apfel. Es war, als starrten die abgetrennten Köpfe der Vogelfreien durch ihre Gruben aus Dreck hindurch, über die Sträucher hinweg, mitten in meine Seele.
Was versuchten sie zu erkennen? Welchem Zweck diente es, dass sie ihre vermodernden Augen für mich öffneten? Ob ich ihre Ruhe störte oder sie von einer tief in mir begrabenen Sünde wussten, vermochte ich nicht zu sagen.
Auch schienen sie keine Anstalten zu machen, sich aus ihren Gräbern zu erheben und mir all die Dinge anzutun, welche ich mir einbildete. Es war nur ein Starren, so grundlos wie es hartnäckig war. Erst wenn ich den Wald wieder verließ, mit Schweißperlen auf der Stirn, welche mir in die Augen liefen und meine Sicht trübten, entglitt das ungute Gefühl allmählich.
Der Dorn wurde aus meinem Hinterkopf gezogen und der klammernde Griff um die staubtrockene Kehle lockerte sich. Diese widerwärtige Fantasterei trieb mich an. Und wenn sich meine Brust wieder mit ausreichend Luft füllte, der Angstschweiß zu einer schützenden Tinktur wurde, die den Körper ummantelte und jeder Schritt flammende Wogen unter meine Haut trieb, erwachte etwas in mir. Ein leidenschaftliches Glühen in der Brust, welches sich in den Gliedmaßen ausbreitete.
Dampf kroch aus mir empor. Kochendes Blut schoss durch die Venen. Jede Faser meines Leibs gespannt wie der Stoff eines Webers, die Knochen leichter als eine Feder und der Kopf mit nichts gefüllt als einem einzigen Gedanken; der Furcht vor dem was im Verbogenen lauerte. So trieb er mich voran, der ewige Verfolgungswahn, welcher immer dann einsetzte, wenn ich das Haus verließ. Als wäre ich ein Hochofen, der mit Kohle aus Angst gefüttert wurde. Das machte mich zu mir.
Zwei Regeln etablierten sich ab diesem Zeitpunkt in meinem Geist. Erstens, ich würde mich niemals umdrehen, sondern nur geradeaus schreiten, mit dem Blick in Richtung Ziel gewandt; unabhängig von dem was ich zu sehen, hören oder spüren vermutete. Zweitens, das Verbot anzuhalten. Es war egal, wie langsam ich ging, solange meine Beine in Bewegung waren, kam ich vorwärts. Weg von den Schatten, die im Halbdunkeln lauerten, verborgen vor dem Licht und ausgestattet mit zahlreichen Augen, die nicht blinzelten.
Die erste Regel diente dazu, mich nicht von der Angst überwältigen zu lassen. Hatte man einmal angefangen, über die eigene Schulter zu blicken, hörte man nicht so leicht damit auf. Die Zweite war dem Umstand geschuldet, dass Pausen am Wegesrand eine Verlockung darstellen, welcher ich nicht nachgehen durfte.
Mein Können zeigte seinen Wert, als Nachbarn, Freunde und Bekannte auf mich zukamen, um ihre Mitteilungen zu überbringen. Bald waren es zusehend mehr Fremde. Händler, Gelehrte, Adlige, ja selbst frevelhafte Gesellen mit, fragwürdigem Broterwerb. Ich stellte keine Fragen, bis auf den Zielort und die Wegbeschreibung. Der Inhalt, dessen Empfänger oder die Tätigkeit der Auftraggeber, waren für mich nicht von Belang.
Dies lag mitunter daran, dass die Panik größer wurde. Zu Anfang traf ich meine Kunden an einem Dorfplatz der Siedlungen, welche ich durchquerte. Dort war man von allen Seiten ungeschützt und ich spürte jeden einzelnen Blick, der aus Fenstern, Seitenstraßen, hinter Marktständen und dem Anschlagbrett, hervordrang und mir wie eine Wespe in das weiche Fleisch stach. Ich wies darauf hin, dass ich ebenso Aufträge auf der Türschwelle meines Hauses annahm und schon bald, musste ich dieses lediglich verlassen, um Einkäufe zu tätigen, wenn es nicht ein Botengang erforderte.
An einem wolkenverhangenen Sommertag, in der Abenddämmerung, als ich meinen Nachttopf lehrte, schlug es viermal auffordernd an die Türe. Ich nahm erst an, dass ich mich verhört hatte, doch dem war nicht so. Zwei Gardisten des Fürsten lehnten an der steinernen Mauer meines Domizils. Einzig diesen war es gestattet, ein viertes Mal zu klopfen.