Bolivar der kleine, dicke Junge hatte weiche Knie. Heute, ja heute wollte er endlich den Mut aufbringen, Charlotte anzusprechen - das Mädchen, in das er schon so lange verliebt war. Die ganze Nacht hatte er schlecht geschlafen vor Aufregung. Schüchtern saß er auf der alten Bank im Schulhof und starrte nervös auf seine schlecht gebundenen Schnürsenkel.
Seine kleinen, verschwitzten Fingerchen griffen nach einer zarten Blume, um sie zu pflücken und sie dem Mädchen seiner Träume zu überreichen. Er atmete ein paar mal tief durch - das Herz pochte ihm bis zum Hals - stellte sich auf die Beine und zog sich ein letztes Mal den schiefgerutschten Hosenbund zurecht.
Hoffnungsvoll näherte er sich Charlotte, die er nicht etwa deshalb so gerne hatte, weil sie so hübsch oder gar beliebt gewesen wäre - im Gegenteil, sie gehörte ja selbst zu den unbeliebteren Kindern und war eines der weniger attraktiven Mädchen. Nein, Bolivar hielt deshalb so große Stücke auf sie, weil sie so stets freundlich und klug war, immer ein Buch im Arm hielt und immer ein fröhliches Lächeln für jeden übrig hatte. Charlotte, das wusste er, würde selbst ihn lieben können - ihn, den alle anderen hassten.
Dabei konnte Bolivar sich gar nicht so recht erklären, weshalb ihn eigentlich keiner mochte. Er bemühte sich doch immer nett und zuvorkommend zu jedem sein, und obwohl er ziemlich intelligent war, nie den Klugscheißer raushängen zu lassen. Aber Bolivar hatte eine große, entscheidende Schwäche: nämlich dass er fett war. Er war ein fettleibiger, verschwitzter, schweinsgesichtiger Junge, der noch dazu mit einem Sprachfehler zu kämpfen hatte.
Obwohl er große Angst hatte und seine Magensäure schon vor Aufregung blubberte, näherte er sich seiner Angebeteten und reichte ihr schüchtern die verletzliche keine Blume, in der seine ganze Hoffnung lag. Charlotte, die gerade noch fröhlich gelächelt hatte, verzog nun das Gesicht zu einer von Ekel zerfressenen Fratze. "Igitt! Boliver glaubt, dass ich mit ihm gehen will!", rief sie so laut, dass alle auf dem Schulhof es hören konnten, und schlug ihm die kleine Blume aus der Hand.
Bolivar konnte gar nichts mehr darauf antworten. Sofort begann er zu stottern und Tränen stiegen in seine Augen. Die anderen Kinder - ja selbst jene, die normalerweise gemein zu Charlotte waren - stümten herbei und sie alle lachten ihn gemeinsam aus. Er war am Boden zerstört. Wenn noch nicht einmal Charlotte ihn ausstehen konnte - Charlotte, die sonst zu allen andern Menschen freundlich war, dann konnte das doch nur bedeuten, dass Bolivar ein schlechter Mensch war. Eine andere Erklärung wollte nicht in seinen Schädel.
An diesem Tag veränderte sich etwas in dem kleinen, fetten Jungen. Schluchzend wischte er sich mit dem Ärmel seines Pullovers den Rotz von den dicken Backen. Er schwor sich selbst, sein Leben von Grund auf umzukrempeln - denn wenn aus ihm ein besserer Mensch würde, dann könnte ihn auch ganz bestimmt jemand liebhaben.
Jeden Tag arbeitete Bolivar hart an sich selbst. Er rackerte sich trotz seiner angeborenen Veranlagung zur Fettleibigkeit jedes überschüssige Pfund ab, und selbst wenn ihn das ein oder andere Mal der blanke Hunger überfiel, so beschritt er stets diszipliniert den Weg zur Kloschüssel, um die so unrechtmäßig erworbenen Kalorien durch Mund und Nase wieder auszuspeien. Die Jahre zogen ins Land und Bolivar gelang es schließlich nicht nur eine schlanke Figur zu erringen, er bekam sogar einen leicht muskulösen, athletischen Körperbau.
Wer nun aber denkt, aus Bolivar wäre ein oberflächlicher Narzisst geworden, der irrt gewaltig. Trotz der vielen Mühen, und der täglichen Schikanen unter denen er tagtäglich zu leiden hatte, war es Bolivar gelungen, zu einem anständigen Menschen heranzuwachsen. Er lernte pausenlos um gute Noten nach Hause zu bringen, machte eine harte Therapie um seine Sprachfehler loszuwerden und erlernte sogar mehrere Fremdsprachen.
Obwohl Bolivar letztendlich unglaublich stolz auf sich war, blieb er dennoch stets bescheiden und zuvorkommend. Für jeden hatte er ein freundliches Lächeln auf den Lippen, er spendete für wohltätige Zwecke und er half seinen Mitmenschen, wo er nur konnte. Sogar seinen Kleidungsstil hatte er einem radikalen Wandel unterzogen, denn seinen schulischen Erfolgen, dem harte Studium und dem gut bezahlten Job zum Dank, konnte er sich die adrettesten Anzüge leisten. Er war - ja wirklich - er war ein junger Gentleman allererster Klasse geworden. Gebildet. Gutaussehend. Wohlhabend. Noch dazu fuhr er ein äußerst schickes Auto.
Als Bolivar schließlich mit sich selbst als Mensch zufrieden war, schluckte er all seine Ängste und Sorgen hinunter und wagte endlich wieder den Versuch, hinauszugehen um Liebe zu finden. Und als er so des Nachts durch die Kneipen und Nachtclubs wanderte, auf der Suche nach der Richtigen, da sah er plötzlich Charlotte, die mit einigen ihrer Freundinnen an einer Bar saß. Bolivar hatte sich so verändert, dass sie ihn nicht mal wiedererkannte.
Obwohl sie einst so gemein zu ihm gewesen war, hatte Bolivar sie nie aus seinem Kopf kriegen können. Er ging selbstbewusst zu ihr rüber, stellte sich galant vor und bot ihr höflichst an, sie auf ein Getränk einzuladen, so sie denn Lust auf eines hätte. Für einen Moment lang starrte sie ihm in die Augen als wüsste sie nicht genau, was sie überhaupt sagen sollte. Dann brachen sie und ihre Freundinnen in schallendes Gelächter aus, so laut, dass alle in der Bar es hören konnten und alle anfingen, ihn ebenfalls auszulachen. "Du glaubst doch nicht wirklich, dass mit DIR jemals irgendjemand ausgehen würde?!", riefen sie amüsiert.
Bolivar wusste nicht mehr weiter. Todtraurig verließ er die Bar, setzte sich auf die alte Bank an der Bushaltestelle und senkte den Blick auf seine perfekten, glänzenden Anzugschuhe.
Eine hübsche junge Frau mit dicken Brillengläsern die ihm aus der Bar gefolgt zu sein schien, kam zu ihm und nahm neben ihm Platz.
"Lassen Sie mich raten", begann sie. "Sie waren mal ein dickes Kind und haben geglaubt, dass die Menschen sie deshalb nicht mögen, richtig? Sie dachten, wenn sie nur fleißig im Leben wären, und brav abnehmen würden, dass man Sie dann plötzlich lieben könnte, oder?"
Der junge Mann wischte sich mit den Ärmeln seines sündhaft teuren Anzugs die Tränen aus dem Gesicht und nickte. Die junge Fremde fasste ihm verständnisvoll an die Schulter, kam nah an ihn ran und meinte dann:
"Manchmal, ja manchmal... da bist du es als Mensch ganz einfach nicht wert geliebt zu werden. Und wenn das bei einem so ist, dann kann man da auch gar nichts dagegen machen. Da ist es dann auch vollkommen egal wie freundlich, intelligent, attraktiv und sogar wie finanziell erfolgreich du bist. Manche Menschen, weißt du, die sind es halt ganz einfach nicht wert."