Kritisch beäugte Alexandra die Auswahl an Fotos, die ihr zur Verfügung standen. Seit sie ihr Volontariat angefangen hatte, war in ihr der Wunsch gewachsen, an ihrem alten Blog weiterzuschreiben, und jetzt hatte sie sich endlich hingesetzt, um genau das zu tun. Schon früher hatte sie über Mode und Models geschrieben, etwas, das sie nun mit Fokus auf die fünfziger Jahre und Vintage-Mode im Allgemeinen fortsetzen wollte. Für ihren ersten Blog-Eintrag wollte sie ihr eigenes Lieblingsoutfit vorstellen, doch all die Fotos, die sie mühsam vor dem Spiegel zu Hause von sich selbst gemacht hatte, gefielen ihr nicht.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, mit ihrem Laptop in ein Café zu gehen, um den Beitrag zu schreiben, denn jetzt hatte sie keine Möglichkeit mehr, noch schnell neue Fotos zu machen. Sie musste mit dem Leben, was sie auf der Festplatte gespeichert hatte.
Sie beschloss, das Problem auf später zu verschieben, und sich stattdessen dem Text zu widmen. Bedächtig löffelte sie den Milchschaum von ihrem Cappuccino, während sie über einen Anfangssatz nachdachte. Sie hatte dieses kleine Café vor zwei Wochen entdeckt und sich sofort verliebt, da alle Mitarbeiter einen nahezu perfekten Milchschaum produzieren konnten. Auch der Espresso gelang ihnen stets ordentlich.
Vor allem aber schätzte sie die Atmosphäre in diesem kleinen, alternativ eingerichteten Café. Es gab ausschließlich Zweiertische, die meisten belegt, häufig von Menschen wie ihr selbst, die mit Laptop, Buch oder Notizblock bewaffnet alleine da saßen und an irgendwelchen Projekten arbeiteten. Es war eine betriebsame, aber trotzdem ruhige und freundliche Atmosphäre hier.
Der schwere Vorhang, der in einem Halbkreis vor der Eingangstür hing, um die kalte Luft draußen zu halten, teilte sich, und ein Mann mit tief ins Gesicht gezogenem Hut trat ein. Normalerweise schenkte Alexandra neuen Gästen kaum Aufmerksamkeit, zu sehr galt all ihre Konzentration ihrem eigenen Projekt. Doch an diesem Mann war irgendetwas vertraut, die Art, wie er sich bewegte, die Schulterpartie, sie war sich sicher, ihn zu kennen.
Und tatsächlich, als wollte ihr das Leben einen üblen Streich spielen, kam unter dem Hut ausgerechnet Stefan zum Vorschein. Augenblicklich duckte Alexandra sich hinter ihrem aufgeklappten Laptop. Sie wollte ihm nicht wirklich aus dem Weg gehen, aber genauso wenig hatte sie Interesse daran, hier in ihrer Freizeit mit ihm höfliche Konversation betreiben zu müssen. Zusätzlich war sie noch immer verstimmt darüber, wie wenig er auf den Scherz von Matthias reagiert hatte.
Leider war ihr Bemühen vergebens. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht kam Stefan direkt auf ihren Tisch zu geschlendert, nachdem er Jacke und Hut am Eingang aufgehängt hatte.
„Alexandra", sagte er fröhlich, aber mit gesenkter Stimme, um die restlichen Gäste nicht zu belästigen: „Wer hätte gedacht, dass du dich an deinem freien Tag unters gemeine Volk mischst?"
Ergeben klappte sie ihren Laptop zu. Stefan hatte sich ohne Nachfrage auf dem Stuhl ihr gegenüber niedergelassen und schien kein Interesse daran zu haben, bald wieder aufzustehen. Also würde sie sich dem unvermeidlichen stellen. Emotionslos gab sie zurück: „Ich glaube, gemeines Volk ist nicht ganz der Begriff, den du suchst."
Er winkte der Bedienung zu, um sich einen Kaffee zu bestellen, und legte ein Buch vor sich auf dem Tisch ab, das er anscheinend hier hatte lesen wollen. Dann erst ließ er sich zu einer Antwort herab: „Aus deiner Perspektive ist doch jeder ein Angehöriger des gemeinen Volkes, Prinzessin."
Sie rümpfte die Nase: „Erstens bin ich gar nicht so überheblich, wie du mich gerade darstellst, vielen Dank, und zweitens kann ich mich nicht daran erinnern, dir die Erlaubnis gegeben zu haben, mich Prinzessin zu nennen."
„Ach, du bist keine Prinzessin?", gab er lächelnd zurück: „Dabei hast du doch einen Ritter an deiner Seite, der dir stets den Rücken freihält."
Kurz runzelte Alex verwirrt die Stirn, dann verstand sie: „Matthias? Ach, das war doch nur ein kleiner Spaß. Bist du etwa beleidigt, dass ich ihn dazu angestiftet habe?"
„Nö, nur überrascht, dass du andere deine Schlachten schlagen lässt."
Sie rollte mit den Augen: „Klar, als emanzipierte Frau darf ich mich nie auf andere verlassen oder Hilfe suchen, schon gar nicht bei einem Mann. Damit würde ich ja althergebrachte Muster erfüllen und mein Recht verlieren, eine selbstbestimmte, unabhängige Frau zu sein."
Zu ihrer Überraschung brachte das Stefan zum Lachen: „Genau so ist es, gut erkannt!"
„Haha", machte sie schmollend. Statt weiter darauf einzugehen, beugte sie sich über den Tisch und griff nach dem Buch, das er abgelegt hatte. Interessiert las sie den Titel und Autor – und riss im nächsten Augenblick entsetzt die Augen auf: „Das ist schon draußen? Was? Ich warte seit Monaten auf dieses Buch! Wie konnte ich das verpassen?"
„Du bist auch Fan von dem Autor?"
„Fan?", erwiderte sie indigniert: „Ich verschlinge alles, was er schreibt, seit Jahren. Ich bin viel mehr als ein Fan. Und ich fand ihn schon toll, da war er noch nicht berühmt!"
Schmunzelnd eroberte Stefan sein Buch zurück: „Ja, ja, du Hipster. Zufällig kenne ich den Autor auch schon ewig und da ich zufällig auch einen Blog habe, auf dem ich manchmal Rezensionen schreibe, habe ich zufällig von seinem Verlag ein Vorab-Exemplar bekommen."
Vollkommen erschlagen sank Alexandra in ihrem Stuhl zusammen. Das war so ungerecht. Sie kannte von früher viele Buch-Blogger, die regelmäßig Rezensionsexemplare bekamen, aber dafür mussten sie auch gut sein und anständige Arbeit abliefern. Wie konnte Stefan neben seiner Arbeit als Ressortleiter einer großen Zeitung nur die Zeit finden, auch noch einen erfolgreichen Blog zu führen? Und wieso hatte er das Glück, ausgerechnet dieses Buch als Rezensionsexemplar zu bekommen?
„Ich kann dir förmlich ansehen, wie es dich innerlich zerfrisst, dass ich einen Blog habe, der gut genug besucht wird, um Rezensionsexemplare von großen Verlagen zu kriegen", grinste er: „Neidisch?"
Ohne rot zu werden nickte Alex: „Und wie! Ich habe kein Problem damit, das zuzugeben. Wie machst du das? Ich dachte, Ressortleiter haben kein Leben außerhalb der Redaktion?"
Mit einem gemurmelten Danke nahm Stefan seinen Kaffee von der Bedienung entgegen. Er rührte aufreizend langsam den Zucker hinein, schlürfte genüsslich den ersten Schluck und stellte dann die Tasse unendlich langsam auf dem Tisch vor sich ab. Dann faltete er mit einem überlegenen Grinsen die Hände im Schoß und richtete sich ein wenig auf: „Das stimmt wohl. Ohne herausragendes Zeitmanagement wäre mir das nicht möglich. Nicht jeder ist zu solch außergewöhnlichen Leistungen fähig."
Schnaubend beugte Alex sich vor: „Mit anderen Worten, du hast keine Hobbies und keine Freunde."
Belehrend hob er einen Zeigefinger: „Begib dich nicht in diese niederen Gefilde. Ich habe mir von Kathi sagen lassen, dass es in Videospielen, die man online mit anderen spielt, üblich ist, alle, die besser sind, als hobbylose Nerds mit zu viel Freizeit und ohne Freunde zu bezeichnen."
„Und alle, die schlechter sind als man selbst, sind Noobs, die das Spiel deinstallieren sollten", fiel Alexandra ihm ins Wort: „Ich weiß, ich weiß. Und?"
Stefan schaute sie streng an, als wollte er sie für die Unterbrechung tadeln, und fuhr mit demselben belehrenden Tonfall fort: „Was ich damit sagen will, ist, dass einem manchmal Dinge unerreichbar erscheinen, die andere durch Kontrolle und Überlegung erreichen, und der gewöhnliche Mensch neigt dann dazu, die eigene Unfähigkeit und den Neid umzudeuten in Verachtung, die sich darin ausdrückt, dass man den Lebensstil des anderen schlecht redet. Er ist besser als ich? Natürlich geht das nur, weil er kein so aktives Sozialleben hat wie ich!"
„Danke für diese Lehrstunde in Psychologie", sagte Alexandra mit gespieltem Respekt. Sie würde es nicht zugeben, aber er hatte mit seinen Ausführungen schon den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie hatte bisher gedacht, ihr Leben gut im Griff zu haben, und trotzdem war es ihr seit Beginn des Volontariats nicht gelungen, sich ein regelmäßiges Hobby wie das Bloggen anzugewöhnen. Sie war einfach zu geschafft, wenn sie abends heim kam, und die Wochenenden waren reserviert für Freunde und alles, was in der Wohnung gemacht werden musste. Die Vorstellung, dass irgendjemand da noch Zeit für anspruchsvolle Hobbies hatte, erschien ihr unmöglich.
Seufzend fuhr sie sich durchs Haar: „Schön, also, nehmen wir mal an, du hast Freunde und Hobbies, sag mir, wie machst du es?"
Stefan tat ihr tatsächlich den Gefallen, ernst zu werden und eine ehrliche Antwort zu geben: „Deine Aussage war gar nicht so weit weg von der Wahrheit. Ich treffe mich nicht sonderlich oft mit den wenigen, guten Freunden, die ich habe, also fällt das schon als Zeitfresser weg. Und naja, was soll ich sagen? Ich lese wirklich gerne und viel und eigentlich auch alles. Als Journalist steckt es in mir, nicht nur passiv Sachen aufnehmen zu wollen, sondern sie auch zu verarbeiten und meinen eigenen Blickwinkel darauf allen mitzuteilen, die es hören wollen. Da wird aus dem Hobby Lesen eben sehr schnell auch das Hobby Bloggen, ohne dass es ein allzu großer Aufwand wäre."
Nachdenklich nippte Alex an ihrem Cappuccino. Sie wusste von Gesprächen mit anderen Buch-Bloggern, dass ihr Leseverhalten sich geändert hatte, nachdem sie angefangen hatten, Rezensionen zu schreiben. Ebenso wie sie wusste, dass viele deutlich trennten, was sie zur Unterhaltung und was zur Präsentation auf dem Blog lasen. Interessiert hakte sie nach: „Rezensierst du alles, was du liest?"
Sofort schüttelte er den Kopf: „Nein. Das ist aber wohl eher meiner Eitelkeit geschuldet. Ich schreibe nur über Bücher, die in ein gewisses Schema passen. Man muss ja seine Online-Persona pflegen."
„Mit anderen Worten, die ganzen Romanzen, die du in deiner Freizeit liest, bleiben dein kleines Geheimnis, aber die anspruchsvollen Wirtschaftsthriller wie diese hier", sie deutete auf das Buch, das noch immer zwischen ihnen auf dem Tisch lag, „die präsentierst du gerne?"
Ertappt kratzte Stefan sich am Hinterkopf: „Naja, was soll ich sagen? Ich bin eben bekannt dafür, intellektuelle Literatur und Bücher mit einem gewissen Anspruch zu lesen. Da würde es nicht reinpassen, wenn ich gestehe, gerne auch die amerikanischen Romantik-Größen zu lesen."
„Ich finde ja nicht, dass das schlimm ist. Ich lese das auch. Kommt eben immer auf meine Stimmung an. Abends im Bett oder in der Badewanne bevorzuge ich die leichte Lektüre, die einfach was für mein Herz ist", erklärte sie und stützte ihr Kinn auf ihren Händen ab: „Aber wenn ich Zeit habe, einen Becher Tee oder Kaffee, meine kuschelige Wolldecke, dann mache ich es mir auch gerne in einem Sessel gemütlich und lese Bücher, die zum Nachdenken anregen und ein gewisses Maß an Bildung voraussetzen."
Jetzt war es Stefan, der nachdenklich aussah: „Ich hätte dich nicht für jemanden gehalten, der Romanzen liest."
„Was?", entgegnete Alexandra mit gespielter Empörung: „Soll das wieder ein Angriff sein, weil ich dir zu rational und steif bin?"
Abwehrend hob er beide Hände: „So war es nun auch nicht gemeint. Aber die meisten Frauen, die solche Bücher lesen, sind eben auch ... naja, offensichtlich romantisch veranlagt. Sabine zum Beispiel, die schleppt immer irgendeine Schnulze mit sich rum."
„Hast du nicht selbst gerade eben quasi zugegeben, solche Bücher auch zu lesen?", konterte Alexandra: „Und würdest du selbst in deine Beschreibung der typischen Liebesroman-Leser passen?"
„Nein, das nicht."
Sie lächelte wissend: „Eben. Ich meine, klar, ich verstehe, was du meinst. Liebesromane sprechen unser Herz an, sie entführen uns in eine andere Realität und zeigen uns all die schönen Seiten des Lebens. Da denkt man sich, eine rationale Realistin wie ich könnte damit gar nichts anfangen. Aber eigentlich ist das Gegenteil der Fall."
Interessiert beugte er sich vor: „Also sehnst du dich heimlich auch nach der großen Romanze? Nach unsterblicher Liebe und einem Mann, der alles tut, um dein Herz zu erobern?"
Sie nickte, ohne sich bewusst zu sein, wie viel Interesse in seinem Tonfall mitgeschwungen war: „Natürlich. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und obwohl ich schon einige kurze Affären hatte, habe ich nie wirklich dieses Gefühl verspürt, dass in Liebesromanen beschrieben wird. Das würde ich aber gerne. Aber ich frage mich eben, ob ich nicht bald zu alt bin, um noch einen Mann zu finden für sowas. Und ... du hast ja auch durchaus recht, wenn du mich als rational und steif bezeichnest. Wenn der Mann nicht mindestens ebenso intelligent ist wie ich, bin ich direkt nicht interessiert. Das macht die Sache nicht leichter."
„Unsere Eiskönigin will also erobert werden, mh?"
Naserümpfend lehnte sie sich wieder im Stuhl zurück: „Es geht mir gar nicht so sehr darum, dass er Mann mich erobert. Meinetwegen erobere ich auch ihn. Ich will einfach nur, dass er mir das Gefühl gibt, dass er es wert ist, dass ich um ihn kämpfe. Und dass ich ihm genug wert bin, dass er auch um mich kämpft. Ich will nicht diese larifari Gefühle, die nicht einmal ausreichen, damit man sie ausspricht. Wenn der Mann direkt beim ersten Stolpern aufgibt, ist mir das nicht genug."
Abrupt brach sie ab. Sie wollte nicht so offen über ihr Gefühlsleben reden, schon gar nicht mit ihrem Chef, und schon gar nicht mit einem Chef wie Stefan, der schon einmal versucht hatte, ihr näher zu kommen als sie gut heißen konnte. Sie gab ihm nur Munition in die Hand, die er gegen sie verwenden konnte.
Doch zu ihrer Erleichterung schien er das gar nicht vorzuhaben. Stattdessen erwiderte er mit einer ungewohnten Aufrichtigkeit: „Ich denke, tief in unserem Innersten wollen wir alle genau das, egal, ob wir Männer oder Frauen sind, und egal, ob wir an Männern oder Frauen interessiert sind. Ernst genommen werden und genug Wertschätzung erfahren, dass man um uns kämpft."
Damit hatte sie nicht gerechnet. Er hatte sie nicht nur nicht ausgelacht, nein, er hatte ihr zugestimmt und gezeigt, dass er ebenso fühlte wie sie. Dass er sie verstand und dass er irgendwo tief in sich ebenso verletzlich war wie sie, weil er auch hoffte, dass irgendwann einmal jemand um ihn kämpfen würde. Wieder einmal sah sie sich damit konfrontiert, dass Stefan ein ziemlich normaler, ziemlich netter Mann sein konnte, und wieder einmal stellte sie fest, dass sie davon überrascht war.
„Dein Blick sagt mir, dass du nicht glauben kannst, dass ich genauso denke wie du", beschwerte sich Stefan, nachdem sie für eine deutlich zu lange Zeit geschwiegen hatte.
Ertappt errötete sie: „Schon, ja. Es überrascht mich eben immer wieder, wie nett du sein kannst."
Skeptisch sah er sie an: „Nett ist der kleine Bruder von Arschloch."
Aufgebracht beugte Alex sich vor und wedelte mit einem Finger vor seiner Nase: „Der Spruch ist so alt, der hat schon nen Bart! Und ich meinte das ehrlich. Wenn du deine Alpha-Tier-Masche stecken lässt, bist du ein angenehmer Zeitgenosse."
„Na, das ist ja mal ein Kompliment", murmelte er: „Das höre ich als Mann doch gerne."
Lachend trank Alexandra den letzten Schluck ihres Kaffees aus. Vielleicht sollte sie sich ein für alle Mal eingestehen, dass sie Stefan tatsächlich mochte. Es war kein Beinbruch, einen gutaussehenden, charmanten und gebildeten Mann zu mögen, selbst wenn er ihr Chef war.
„Also", wechselte sie das Gesprächsthema: „Hast du das Buch schon angefangen?"
„Ja", antwortete er und plötzlich trat ein hinterhältiges Grinsen auf sein Gesicht: „Aber ich werde dir nichts verraten!"
„Oh, komm schon!", empörte Alex sich: „Das kannst du mir nicht antun. Sag mir wenigstens, ob der Hype, der vorher drum gemacht wurde, richtig ist."
Er zuckte mit den Schultern: „Das kann ich dir nicht beantworten. Ich habe gerade zehn Seiten gelesen. Aber es ist sein elftes Buch jetzt und im Gegensatz zu sonst hat er sich zwei Jahre Zeit gelassen, also kann es ja eigentlich nur gut werden, oder?"
„Ich bin halt diesmal ein wenig skeptisch", erklärte sie langsam: „Es scheint eher ein Krimi als ein Thriller zu sein. Immerhin haben wir es diesmal nicht mit einem Insider zu tun, der Informationen verkaufen will oder weiß, dass andere Informationen verkaufen wollen, sondern mit einem Zollbeamten. Das klingt nicht so spannend wie sonst."
„Ich glaube, genau das könnte interessant werden", widersprach Stefan: „Irgendwann ist ja das Thema Insider-Handel auch mal ausgelutscht. Und wenn einer ein staubtrockenes Thema wie Zollkriminalität zum Leben erwecken kann, dann doch er!"
Kurzentschlossen gab Alexandra der Bedienung einen Wink, um sich noch einen Cappuccino zu bestellen. Stefan hatte offensichtlich viel Zeit mitgebracht und sie musste zugeben, dass sie es genoss, mit ihm über ihren Lieblingsautor zu sprechen. Obwohl unter ihren Freunden viele Leseratten waren, bevorzugten die doch meistens Fantasy oder Historische Romane, so dass sie selten über ihre geliebten Thriller sprechen konnte. Außerdem hatte er sich bisher geschickt davor gedrückt, ihr eine klare Antwort auf die Frage zu geben, wie er es zeitlich schaffte, einen erfolgreichen Blog zu führen. Sie würde das schon noch aus ihm rauskitzeln.
***
Er hatte darauf bestanden, sie auf dem Heimweg zu begleiten. Alexandras Alarmglocken waren direkt angegangen, denn das Verhalten klang zu sehr nach jenem Stefan, der alle Grenzen ignorierend in ihr Privatleben eindringen wollte. Doch sie hatte sich über zwei Stunden gut mit ihm unterhalten, ohne dass er auch nur ein einziges Mal aufdringlich geworden war, und so wollte sie ihm zumindest die Chance geben, ihre Zweifel zu zerstreuen.
Da sie nicht allzu weit von dem Café entfernt wohnte, war sie zu Fuß hingelaufen, und so gingen sie nun auch zu Fuß nebeneinander her. Sie hatte sein Auto auf dem Parkplatz auf der anderen Straßenseite gesehen, aber er hatte ihr nicht einmal angeboten, sie mit dem Auto zu fahren. Offensichtlich war ihm instinktiv klar geworden, dass eine Fahrt in seinem Auto die falschen Signale senden würde.
„Was meinst du", sagte er plötzlich und ohne Vorwarnung: „Sobald du das Buch gelesen hast, willst du da einen Gastbeitrag auf meinem Blog schreiben? Du hast ja vorhin erwähnt, dass du selbst einen Blog hast."
Mit großen Augen schaute sie ihn an: „Einen Gastbeitrag? Aber ich schreibe doch gar keinen Buch-Blog."
Er machte eine wegwerfende Handbewegung: „Das spielt gar keine Rolle. Ich habe da ein kleines Format für Kooperationen mit verschiedenen Bloggern. Sie schreiben keine richtige Rezension, sondern wir führen eher eine Art Gespräch über das Buch. So kannst du deine Gedanken zum Buch loswerden, ohne völlig ungeübt eine Rezension schreiben zu müssen."
Alexandra war unsicher. Auf der einen Seite klang das verlockend, zumal es helfen könnte, Aufmerksamkeit auf ihren Blog zu lenken. Andererseits jedoch wusste sie nicht, ob er nicht irgendwelche Hintergedanken bei diesem Vorschlag hatte. Vorsichtig fragte sie nach: „Wie würde das mit dem Gespräch denn ablaufen?"
Als wäre es das Natürlichste der Welt schlug Stefan vor: „Du könntest einfach mal bei mir vorbeikommen, sobald du das Buch fertig hast. Wir reden dann ganz locker drüber, ich nehme es mit einem Rekorder auf und transkribiere später die interessanten, gehaltvollen Aussagen. Das ist ein bisschen Aufwand, kam aber bei meinen Lesern immer gut an."
Unentschlossen kaute Alexandra auf ihrer Unterlippe. Das klang schon ziemlich professionell und vor allem auch nach etwas, was ihr Spaß machen könnte. Aber es war immerhin Stefan, der ihr das anbot. Stefan, der schon oft genug versucht hatte, mit ihr zu flirten. Konnte sie so einfach eine Einladung in seine Wohnung akzeptieren, naiv und blauäugig, ohne dass er es als Aufforderung verstand, einen weiteren Versuch zu riskieren?
Offensichtlich konnte er ihre Gedanken lesen, denn er unterbrach den Strudel in ihrem Kopf mit einem leicht beleidigten: „Ich werde dich schon nicht auffressen!"
Mit einem entschuldigenden Lächeln erklärte Alex: „Sorry, aber du hast schon oft genug Grenzen überschritten, da bin ich halt vorsichtig. Gebranntes Kind scheut das Wasser oder so."
Er blieb stehen und vergrub beide Hände tief in seinen Jackentaschen: „Du hast eine viel zu hohe Meinung von dir, Madam. Nur, weil ich einmal versucht habe, bei dir zu landen, heißt es nicht, dass ich dir auf ewig nachlaufen werde."
Das hatte gesessen. Irgendwie fühlte sie sich verletzt, als habe er ihr einen Korb gegeben. Doch natürlich hatte er recht, es war anmaßend von ihr, so zu denken. Sie gab sich geschlagen: „Na schön, okay, du hast gewonnen. Das Buch erscheint nächste Woche für die Allgemeinheit, sobald ich durch bin, sag ich dir Bescheid!"
„So ist es brav", erwiderte er lachend.
Mit einem Kopfschütteln setzte Alexandra den Weg fort. Stefan eilte ihr nach, doch für den Rest des Weges bis zu ihrer Haustür schwiegen sie. Es war Alexandra noch immer unbegreiflich, wieso ausgerechnet der Ressortleiter für Politik plötzlich so etwas wie eine Konstante in ihrem Leben geworden war, doch sie beschwerte sich nicht. Vielleicht war es einfach an der Zeit, ihrem Chef zuzugestehen, dass er auch ein Freund sein konnte, selbst wenn er ein Vorgesetzter war. Natürlich hieß das nicht, dass sie aufhören würde, ihn zu siezen. Das würde sie schon aus Prinzip niemals einstellen, weil es zu lustig war, seine schmollende Reaktion darauf zu sehen.
Aber der heutige Tag hatte ihr doch deutlich gezeigt, dass Stefan Winkler als Privatperson ein angenehmer Zeitgenosse war. So sehr sie Matthias auch schätzte, mit ihm konnte sie keine Gespräche führen wie mit Stefan. Und die meisten ihrer Freunde hatten nach der Uni das Weite gesucht, waren in andere Städte oder gar andere Länder gezogen, so dass Kontakt meistens nur über das Internet stattfand. Sie brauchte dringend wieder ein festes, ausgewogenes Netz von Freunden hier vor Ort. Es war an der Zeit, dass sie zuließ, dass andere Menschen wieder in ihr Leben traten.