Ein Fenster ging plötzlich auf ihrem rechten Bildschirm auf und riss Alexandra aus ihrer Konzentration. Sie war auf der Suche nach Meinungen anderer Zeitungen zu ihrer aktuellen Geschichte und so wühlte sie sich gerade durch eine massive Flut von Twitter-Meldungen, als das kleine Fenster des internen Chatsystems sie ablenkte.
„Was machst du gerade?"
Für einen Moment war sie verwirrt, von wem die Nachricht gekommen war, doch dann entdeckte sie, dass das Chatfenster den Namen „Stefan Winkler" trug. Irritiert, da er sie noch nie auf diese Weise kontaktiert hatte, schrieb sie zurück: „Ich lese Artikel anderer Zeitungen zu meinem aktuellen Thema."
„Sehr gut."
Mehrmals blinzelte Alexandra. Was sollte denn diese kryptische Antwort? Wozu hatte er sie angeschrieben? Sie wollte gerade eine entsprechende Erwiderung verfassen, da kam die nächste Nachricht von ihm.
„Mach heute früher Pause. 12.30 Uhr unten in der Eingangshalle. Ich warte da auf dich."
Alexandras Mund klappte auf. Sie hatte schon oft den Ausdruck in Büchern gelesen, dass jemand mit offenem Mund starrte, doch sie hatte sich nie vorstellen können, warum man das tun sollte. Jetzt jedoch begriff sie. Ihr fehlten jegliche Worte für eine Erwiderung und gleichzeitig wollte sie schreien vor Frustration. Was wollte er von ihr?
Ihr Blick fiel auf die Uhr. Es war bereits fast halb eins und wenn sie nicht jetzt sofort losging, würde sie zu spät kommen. Genervt und verwirrt packte sie ihre Tasche, nahm ihren Mantel und eilte zu den Fahrstühlen. Was konnte Stefan bloß von ihr wollen? Und warum war ihr mit einem Mal so merkwürdig übel?
Ungeduldig starrte sie die Anzeige im Fahrstuhl an, die langsam die Stockwerke hinunter zählte. Mit jeder Sekunde wuchs ihre Nervosität und Übelkeit. Was konnte er nur wollen? Er hatte sie noch nie über den Messenger angeschrieben, warum also jetzt und für so eine merkwürdige Sache?
Als die Türen endlich wieder aufgingen und den Blick auf die Eingangshalle freigaben, sah Alexandra, dass Stefan tatsächlich bereits in der Halle saß und auf sie wartete. Mit schnellen Schritten eilte sie auf ihn zu.
„Du bist spät", begrüßte er sie knapp.
Ungläubig schnappte sie nach Luft: „Du hast mich gerade mal vor einer Minute angeschrieben. Ich kann nicht zaubern."
Statt einer Antwort drehte Stefan sich einfach nur um und ging voraus. Schnaubend folgte Alexandra ihm. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Vorgesetzter sie unter so dubiosen Umständen in der Mittagspause aus dem Gebäude lockte. Sie hoffte, dass es einen angemessenen Grund dafür gab, doch noch hatte Stefan ihr keine großen Hoffnungen gemacht.
Er führte sie zielstrebig zu einem kleinen Lokal um die Ecke, das sich auf heiße Suppen und Salate spezialisiert hatte. Wollte er etwa einfach nur mit ihr jenseits der Cafeteria Essen gehen? Aber warum ausgerechnet mit ihr und nicht mit Katharina oder Philipp oder einem der anderen Kollegen? Und warum musste er sie so brüsk dazu auffordern?
Alexandra Kopf bestand noch immer nur aus einem wirren Karussell, als Stefan sie knapp aufforderte: „Bestell dir, was du willst. Ich zahle."
Sie spürte instinktiv, dass er nicht in der Stimmung war, um mit ihr erneut über das Eingeladenwerden zu streiten, und so hielt Alex ihren Mund, bestellte sich brav eine kräftige Gemüsesuppe und folgte ihm dann an einen Tisch weit am anderen Ende des Lokals.
Nachdem beide mehrere Minuten nur stumm ihre Suppe gelöffelt hatten, wurde es Alexandra schließlich zu viel. Er hatte sie hierher entführt, er hatte sie eingeladen. Also sollte er endlich sagen, warum sie hier waren. Ungeduldig legte sie ihren Löffel weg: „Also?"
Stefans ganzer Körper verspannte sich sichtbar, doch immerhin geruhte er sich, Alex endlich anzusehen: „Also."
Alexandra musste stark gegen das Verlangen ankämpfen, ihm die Suppe ins Gesicht zu schütten. Was sollte denn nun dieses eine Wort? Wollte er absichtlich den geheimnisvollen Mann spielen? Das zog bei ihr nicht.
„Ich bin ein wenig in einer Zwickmühle", rückte er schließlich mit der Sprache raus.
„Erzähl mir davon", forderte Alex ihn so ruhig wie möglich auf, als er erneut verstummte. Sie musste wirklich all ihren Sanftmut aufbringen, um ihre geduldige, verständnisvolle Seite im Vordergrund zu halten.
„Ich befürchte, Kathi stellt unsere Beziehung falsch dar", sagte Stefan endlich.
Gequält stöhnte Alex auf. Warum ging es nur schon wieder um Katharina? Wenn die beiden eine Affäre hatten, war das deren Problem. Sie war die letzte, die davon hören wollte. Doch statt unhöflich zu werden, hakte sie nach: „Inwiefern denn?"
„Es scheint in der Redaktion irgendwie der Eindruck entstanden zu sein, dass tatsächlich mehr als nur ein kollegiales Verhältnis zwischen uns besteht", erklärte er langsam, den Blick auf die Suppe gesenkt.
„Und das ist nicht so?", fragte Alex, mehr und mehr genervt davon, dass sie ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste. Gleichzeitig spürte sie dieses Ziehen in ihrem Magen, diese verfluchte Hoffnung, dass doch nichts dran war an dem, was Katharina erzählt hatte.
„Natürlich nicht", fuhr er sie ruppig an: „Ich schäkere doch bloß ein wenig mit ihr. Das haben wir schon von Anfang an getan. Ich verstehe gar nicht, wieso das jetzt plötzlich so ein Problem ist."
Unwillig, irgendetwas zu beschönigen, erklärte Alex: „Also, eine der ersten Sachen, die ich in der Redaktion zu hören bekommen habe damals, war, dass du immer mit Katharina flirtest und ihr bestimmt schon miteinander geschlafen habt."
„Was?", entfuhr es Stefan entsetzt: „Das wird in der Redaktion gesagt?"
„Du willst mir nicht ernsthaft weiß machen, dass dir das nicht bewusst war?", gab Alex mit hochgezogener Augenbraue zurück: „Ich bitte dich. Genau darauf legst du es doch an."
Das brachte Stefan zum Schweigen. Lange starrte er bloß in seine Suppe, ohne sich zu rühren. Nach einer deutlich zu langen Zeit fragte er schließlich leise: „Denkst du deswegen, dass ich nicht so professionell bin wie Philipp?"
Sie nickte: „Ja, unter anderem. Ganz ehrlich, Stefan, mir ist es egal, ob du mit Katharina im Bett warst oder nicht, ich denke nur, dass du als Chef besser auf deine Privatsphäre achten solltest."
„Es wäre dir egal, wenn ich mit ihr geschlafen hätte?"
Genervt rollte Alexandra mit den Augen. Was sollte denn jetzt diese Frage? Statt eine Antwort zu geben, fuhr sie fort, ihre Suppe zu löffeln. Seine Reaktion zeigte ihr, dass Stefan ganz offensichtlich nicht so betroffen darüber war, dass seine angebliche Affäre mehr und mehr die Runde machte. Er wollte, dass man über ihn redete, und kam nicht damit klar, wenn man das Thema ignorierte oder Desinteresse bekundete. Warum nur war es jemandem wie ihm so wichtig, Gesprächsmaterial für den Arbeitsplatz zu sein? Und warum musste er ausgerechnet sie quälen? Sie war die letzte, die davon wissen wollte.
„Du findest es ehrlich nicht schlimm, sowas über mich zu hören?"
„Oh, jetzt hör mir mal zu", fuhr Alex ihn zornig an: „Ich habe Besseres zu tun, als mich mit Klatschgeschichten in der Redaktion zu beschäftigen. Dann schläfst du eben mit Katharina, na und? Menschen haben halt Bedürfnisse, und wenn du auf Kathi stehst, schön für euch beide. Wenn ihr daraus keine Beziehung machen wollt, auch gut. Das interessiert doch in heutigen Zeiten niemanden mehr. Was also ist genau dein Problem? Wenn du so unbedingt willst, dass man über euren Sex redet, warum sitzt du dann hier mit Grabesmiene und jammerst mich voll?"
Alex wusste genau, dass sie deutlich zorniger reagierte, als normal war, doch sie konnte sich nicht helfen: Der Gedanke, dass Katharina mit Stefan geschlafen hatte, machte sie traurig, und dass er hier saß und mir ihr darüber sprach, war einfach unerträglich. Sie gab sich große Mühe, rational und verständnisvoll zu bleiben, doch es fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer.
„Okay, okay", kam es besänftigend von Stefan: „Das kam vielleicht falsch an, tut mir leid. Ich war nur erstaunt, wie locker du die Sache siehst. Ich habe natürlich nichts mit Kathi, wir sind nur Kollegen, die auf einer Wellenlänge sind. Ich dachte, wenn so ein Gerücht die Runde macht, ist das ein Problem."
Etwas besser gestimmt erklärte Alex: „Ich denke nicht, dass sowas heute wirklich noch ein Problem ist. Ich meine, sicher, ein Arbeitgeber wird vermutlich immer Bauchschmerzen haben, wenn seine Angestellten eine Beziehung haben. Aber es ist nicht verboten, das wäre ja noch schöner. Sowas gibt es nur in schlechten Seifenopern. Ich persönlich denke, dass es besser ist, wenn man sich nicht auf Kollegen einlässt, weil es einem viele Probleme am Arbeitsplatz erspart. Wenn man sich ernsthaft verliebt, okay, sicher, dagegen kann man vielleicht nichts tun. Aber Bettgeschichten sind was anderes, dem kann man wirklich aus dem Weg gehen, wenn man nur will. Aber wenn andere denken, dass ihnen das keine Probleme bereitet, auch fein. Deswegen hätte ich kein Problem damit, wenn an den Gerüchten was dran wäre. Wir sind alle freie Menschen."
Ein nachdenklicher Ausdruck trat in Stefans Gesicht. Beinahe schien es Alex, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen, doch was auch immer seine Miene zu bedeuten hatte, er schüttelte bald den Kopf und sagte mit einem schiefen Grinsen: „Da ist wieder die kühle, rationale Frau Berger. Immer so wortgewandt, immer neutral, die perfekte Antwort, die einem gleichzeitig gar nichts sagt."
„Ich glaube, ich gehe dann wieder", murmelte Alexandra mehr zu sich selbst als zu Stefan: „Wenn ich hier nur bin, um ausgelacht zu werden, ist das wirklich eine Verschwendung meiner Zeit."
„Hey, hey", hielt Stefan sie sofort auf, indem er ihr Hand festhielt: „Nun lauf doch nicht gleich weg. Ich bin nur einfach immer wieder überrascht, wie wenig von dir ich sehe, selbst wenn ich mich mit dir alleine unterhalte."
Alexandras Blick fiel auf seine Hand, die sich so plötzlich und unerwartet auf ihre gelegt hatte. Wie schon einmal zuvor empfand sie seine Berührung als viel zu heiß, beinahe unangenehm. Und trotzdem, anders als zuvor hatte sie keinerlei Interesse daran, ihre Hand wegzuziehen, im Gegenteil, sie wünschte, er würde sie noch länger festhalten. Stattdessen zwang sie sich, ihn anzuschauen und zu erwidern: „Was für eine Reaktion hättest du dir denn stattdessen gewünscht?"
„Ich weiß nicht", gab er zu, ohne seine Hand zu bewegen: „Vielleicht eine emotionalere?"
Alex grinste: „Du wolltest, dass ich mich in eine kreischende Zicke verwandle, die sich darüber aufregt, dass irgendjemand ohne ihre Erlaubnis Sex hat?"
Daraufhin musste Stefan lachen: „Nein, natürlich nicht. Ist auch egal, spielt keine Rolle. Du hast mir eine vernünftige Antwort gegeben, das sollte schon reichen. Man bekommt eben nicht immer das zu hören, was man zu hören bekommen will."
Alexandra war sich noch immer deutlich bewusst, dass Stefans Hand auf ihrer lag. Er schien dem gar nicht weiter Beachtung zu schenken, doch ein Teil ihrer Aufmerksamkeit war unentwegt darauf gerichtet. Galt das schon als Händchenhalten? Saß sie hier mit ihrem Chef alleine in einem Lokal und hielt Händchen? Sie wusste, sie sollte ihre Hand wegnehmen, schon weil sie das Gefühl hatte, langsam aber stetig zu verbrennen, dort, wo seine Haut die ihre berührte. Aber sie konnte nicht. Es würde nur eine unangenehme Situation für beide schaffen, wenn sie jetzt auf diese unangebrachte Geste aufmerksam machte. Sie würde einfach abwarten, bis er seine Hand wegzog, und dann so tun, als wäre nie etwas geschehen.
Sie stützt ihr Kinn auf ihrer anderen Hand auf: „Warum hast du eigentlich ausgerechnet mich dafür entführt?"
Wieder war da dieser Blick von Stefan, als versuche er, in ihrem Innersten zu lesen. Warum hatte sie den Eindruck, dass er unzufrieden mit ihrem Verhalten war? Was hatte er sich erwartet von diesem skurrilen Treffen? Zu ihrer Erleichterung war seine Antwort nicht wie befürchtet bissig und herablassend, sondern ganz im Gegenteil offen und ehrlich: „Wen hätte ich sonst fragen sollen? Philipp? Der ist erstens zu steif und zweitens wäre der am Ende noch zum Personalchef gerannt. Ich schätze ihn wirklich, aber manchmal hat er die falsche Brille auf, um Privatangelegenheiten zu beurteilen. Und so ziemlich alle anderen in der Redaktion sind eng mit Kathi befreundet, da wäre es nur auf Umwegen bei ihr gelandet."
Immerhin hatte Stefan bemerkt, dass Katharina einen sehr guten Stand unter ihren Arbeitskollegen hatte. Das war ein erster Schritt, damit er erkennen würde, wie gefährlich diese Frau war. Zumindest hoffte Alexandra das, denn die andere Alternative – dass er ihr irgendwann doch auch erliegen würde – schmeckte ihr gar nicht. Nachdenklich erwiderte sie: „Eigentlich fast schon traurig, dass du seit Jahren da arbeitest, aber keine Freunde hast, mit denen du über solche Probleme reden kannst."
„Also, Mitleid ist jetzt das letzte, was ich haben will", schnitt Stefan ihr direkt das Wort ab: „Ich bin zufrieden mit meiner Stellung, aber ich begreife eben auch, dass ich als Vorgesetzter nur bis zu einer gewissen Grenze wirklich mit jemandem befreundet sein kann."
Skeptisch hob Alexandra beide Augenbrauen: „Und deswegen hast du dich von Anfang an so doof angestellt mit dem Siezen, mh?"
Darauf rollte er bloß mit den Augen: „Das schon wieder. Wirst du mir auf ewig hinterher tragen, dass ich dich gerne duzen will? Himmel. Madam. Ich glaube ja langsam, dass das nur Schikane von dir ist."
Sie konnte ein schelmisches Grinsen nicht unterdrücken: „Ich habe es durchaus ernst gemeint zu Anfang. Aber inzwischen ..."
„Ich hab's gewusst!", rief Stefan aus und beugte sich weit über den Tisch, um mit seinem Zeigefinger gegen ihre Nasenspitze zu stupsen: „Da redest du immer von Professionalität und in Wirklichkeit willst du mich nur mobben!"
Und plötzlich fing sein Daumen an, über Alexandras Handrücken zu streicheln. Für einen Moment versuchte sie, ihre Überraschung und ihren Schock über diese Geste zu verbergen, doch gegen die Hitze, die ihr in die Wangen kroch, war sie machtlos. Ihr Blick lag wie magnetisch angezogen auf den beiden Händen, und so merkte sie nicht sofort, dass Stefan mit seiner freien Hand nach ihrer griff. Erst, als sie auch ihre andere Hand umfasst fand von heißen, langen Fingern, schaute sie auf.
„Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um eine emotionale Reaktion zu zeigen", flüsterte er ihr zu, ein Glitzern in den Augen, das ihr eh schon rasendes Herz zum Erzittern brachte. Warum auch immer er das tat, eines stand fest: Stefan Winkler flirtete mit ihr.
Wie war nur aus einem Gespräch über Katharina so eine Situation entstanden?
Katharina, die aus harmlosem Schäkern eine Affäre konstruiert hatte.
Als hätte sie sich verbrannt, zog Alexandra beide Hände weg. Wenn das hier die Art von Schäkern war, die Stefan auch mit Katharina betrieb, war es kein Wunder, dass sie da mehr hinein interpretierte als er. Sie würde sich gar nicht erst in diese Gefahrenzone begeben, dafür waren ihre Gefühle für ihn schon viel zu stark.
„Ich glaube, jetzt wäre genau der falsche Zeitpunkt, um eine emotionale Reaktion zu zeigen", sagte sie betont kühl: „Du treibst ein gefährliches Spiel, Stefan. Ich verstehe den Reiz, den der Ruf als begehrenswerter Single hat. Aber wenn du nicht willst, dass die nächste Frau in der Redaktion denkt, dass ernsthaft etwas zwischen euch ist, und wenn du nicht willst, dass das nächste Gerücht über dich die Runde macht, solltest du solche Sache sein lassen. Ich jedenfalls werde dir gewiss kein zweites Mal zuhören, wenn du dich darüber ausheulst, wie schlecht alle von dir denken."
Sie erhob sich von dem Tisch, warf ihm noch einen bedeutungsvollen Blick zu und packte dann Mantel und Tasche, um in die Redaktion zurückzukehren. Diese Mittagspause hatte sowieso schon länger als sonst gedauert, und sie musste es sich nicht gefallen lassen, von einem Kollegen so behandelt zu werden. Sie war gerne für andere Menschen da, das war gar nicht das Problem. Aber für Stefan war es hier offensichtlich nur darum gegangen, sein Ego zu streicheln. Da war er bei ihr leider an der falschen Adresse.
Sie hatte nicht bemerkt, dass er ihr direkt gefolgt war. Erst, als sie in einen wartenden Fahrstuhl stieg und sich umdrehte, um die Knöpfe zu betätigen, fand sie sich von Angesicht zu Angesicht mit ihm.
Und Stefan sah nicht freundlich aus.
Wie in Zeitlupe sah Alexandra, wie die Fahrstuhltüren sich schlossen, dann war sie alleine eingesperrt mit einem offensichtlich sehr wütenden Mann.
„Es macht dir Spaß, mich ständig falsch zu verstehen, oder?", fuhr er sie an, kaum dass der Fahrstuhl sich in Bewegung gesetzt hatte: „Du konstruierst dir irgendwelche Gruselgeschichten über mich und läufst weg, ohne mir die Chance zu geben, mich zu verteidigen. Ich dachte, du bist eine kluge Frau, die rational denkt. Stattdessen sehe ich einen Feigling, der wegrennt, wann immer eine Situation anders verläuft als gedacht."
Mit großen Augen starrte Alexandra ihn an. Sie verstand seine Wut nicht. Sie sah, dass er wütend war, sie hörte, dass er sich von ihr missverstanden fühlte, doch sie verstand es einfach nicht. Sie hatte ihm in jeder Situation eine aufrichtige, vernünftige Antwort gegeben, sie hatte ihm nie etwas vorgespielt oder eine frühere Meinung geändert. Was war sein Problem?
„Wovor renne ich denn angeblich weg?", verlangte sie zu wissen. Sie fand es unfair, was er ihr an den Kopf geworfen hatte.
„Mach deine Augen auf und sieh hin!"
Sie hatte genug von ihm. Natürlich verstand sie, worauf er hinaus wollte. Er hatte sie angeflirtet in der Hoffnung, dass sie zu Butter würde und ihm um den Hals fiel. Nur dass sie das nicht getan hatte, denn das letzte, wonach ihr der Sinn stand, war eine Affäre mit einem Kollegen. Insbesondere mit einem Kollegen, für den sie ernsthaft Gefühle hatte. Da konnte sie nur verlieren. War sein Selbstwertgefühl wirklich so gering, dass er eine deutliche Abfuhr so schlecht vertrug? Sie drückte den Rücken durch und schaute ihm fest in die Augen: „Es mag eine Überraschung für Sie sein, Herr Winkler, aber nicht jedes weibliche Wesen auf diesem Planet verfällt so leicht Ihrem Charme. Wie ich eben schon sagte: Seien Sie vorsichtig mit dem Schäkern. Eine weniger rationale Frau als ich wäre Ihnen gewiss erlegen. Sie sollten mir dankbar sein, dass ich die notwendige Distanz zu Ihnen wahre, anstatt es mir vorzuhalten."
Sie war dankbar, dass in diesem Moment das leise Pingen verkündete, dass sie im zehnten Stock angekommen waren. Stefan sah mörderisch aus.
„Sie sind ein netter Kerl", flüsterte sie ihm im Hinausgehen zu: „Aber Sie sind auch mein Chef."