Ich war heute Salsa tanzen, zum ersten mal in meinem Leben.
Der Tanz, die Musik und alles, was darumherum geschieht, ist etwas wunderschönes.
Den Grundschritt kann man an einem Abend meistern, aber ich glaube man kann ein Leben lang Salsa tanzen ohne aufhören zu müssen neue Erfahrungen zu machen und dazu zu lernen.
Tanzen an sich ist eine Allegorie auf das Leben, aber wenige Tänze sind in Bezug auf das Leben so allegorisch wie Salsa. Aus einigen halbwegs simplen Schritten ergeben sich zwischen wildfremden Menschen die bisweilen extremsten Momente.
Man fordert einen unbekannten Menschen zum Tanz auf,man weiss um die eindeutige Rollenverteilung, man weiss um sein eigenes Können, man weiss dass die Schritte dem Anderen wahrscheinlich bekannt sind, sie sind sozusagen das gemeinsame Alphabet oder die gemeinsame Sprache für die kommenden Stunden, aber da hört's dann auch schon auf mit der Gewissheit.
Alles was danach folgt ist ein Sprung in die abenteuerlichen Fluten des Ungewissen, mit jemand anderem zusammen, aneinander gepresst durch den Schwimmreifen der oben genannten Gemeinsamkeiten.
Und so finden sich die unwirklichsten Paarungen zusammen: Der schildkrötenartige ältere Herr mit der wunderschönen, jungen Studentin. Die große, schlanke Blondine und der untersetzte Glatzkopf. der blutige Anfänger und die langjährige, leidenschaftliche Tänzerin.
Natürlich läuft es nicht bei allen auf Anhieb perfekt, bisweilen findet ein Paar auch mal garnicht in einen gemeinsamen Fluss, aber eigentlich ist ein glatter Misserfolg eher die Ausnahme.
"Nett lächeln und den Grundschritt tanzen klappt Notfalls eigentlich immer" hab ich mir an der Theke sagen lassen, und von dem, was ich erleben und beobachten durfte, kann ich dem nur zustimmen.
Vor - vor - zurück, zurück - zurück - vor. Ein Kinderspiel dieser ominöse Grundschritt, auch für absolute Tanzjungfrauen wie mich.
Man taucht also für Minuten oder Stunden mit einem mitunter völlig fremden Menschen in diese Blase ein, in der Platz für genau zwei ist. Und in dieser Blase herrscht auch nur eine Sprache -Salsa- welche man ohne Worte spricht.
Ich glaube am meisten fasziniert mich die Innigkeit, die viel mit Erotik zu tun hat, aber sehr oft auf nur eben diese reduziert wird, obwohl sie so viel umfassender ist.
Es ist der glorreiche Triumph über seinen eigenen Schatten und das Unbekannte, wobei Letzteres sich dann manchmal auch noch durch den Tanzpartner manifestiert.
Ob Du arm bist oder reich, ob Du die Sprache des Landes sprichst in dem Du gerade tanzt oder nicht, ob Du jung und knackig bist oder alt und -naja, schildkrötig: Es macht alles keinen Unterschied solange du offen bist und dich traust, dich für einen kurzen Augenblick auf einen anderen Menschen einzulassen. Dabei ist es im Grunde sogar egal ob du der Mann oder die Frau bist. Das entscheidet dann einfach nur ob Du entweder die Verantwortung übernimmst dafür, dass dein Partner sich sicher geführt fühlt, oder eben ob Du Dich fallen lässt und die Kontrolle abgibst damit Dein Partner sich sicher sein kann, Dich führen zu dürfen. So oder so, es geht um eine Art halbwegs blindes Vertrauen.
Vor - vor - zurück, zurück - zurück - vor. Kinderspiel.
Unter gewissen Umständen können Menschen sich also blind vertrauen und dabei sogar noch Spass haben.
Warum kann man sich ausserhalb dieser Nebenwelt, bestehend aus Zweierblasen und lebensbejahender Musik, nicht auch nur annähernd so vertrauen und sich etwas trauen?
Was hält uns zurück den Menschen vor uns einfach als Menschen zu akzeptieren, ohne dass er sich uns zuerst offenlegt wie ein langweiliges Sachbuch? Wieso wagen so viele Menschen an einem Mittwochabend in einer deutschen Stadt quietschvergnügt den Schritt ins Ungewisse- im Minutentakt aufs Neue wohlgemerkt- und wieso sind wir alle den Rest der Woche, ein Leben lang, in jeder noch so banalen Situation des Zusammenlebens so verdammt feige?
Vielleicht habe ich mich heute verliebt.
Wahrscheinlich sogar - und das obwohl ich mich dem so fern gefühlt habe in den letzten Monaten wie niemals vorher in meinem Leben.
Sie hat mich angeschaut, sie hat mich so fest angeschaut wie ich ihr auf die Füße gelatscht bin- immer wieder.
Und sie hat gelächelt, und heimlich mich geführt als ich den Takt gesucht habe so wie man den Lichtschalter in einem stockfinsteren Raum sucht. Sie hat mich nicht ausgelacht, sie hat mich angelächelt, zumindest in jeder Sekunde in der ich nicht auf unsere Füße schauen musste.
Hab mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
Und danach? Danach war ich wieder feige. Ich war feige als sie mir von der Stadt erzählt hat in der wie beide mal gelebt haben für eine Zeit.
Ich war feige als der Anblick ,wie sie ihr Fahrrad durch die Nacht schiebt, mich so sprachlos gemacht hat dass ich ihr kurz nicht mehr zuhören konnte.
Feige als sie meine gerissene Fahrradkette vom Boden aufgehoben hat als wäre sie der sauberste Gegenstand der Welt, und feige als die kleinen Mädchen sich nach uns umgedreht haben weil ich so schlimm geflucht habe.
Sie hat irgendwie einen Freund, in Shanghai oder so.
Ich hab irgendwie eine Freundin, irgendwie.
Es Bedarf durchaus Mut, den Spatz in deiner Hand fliegen zu lassen damit du Richtung Taube klettern kannst, aber ein vor - vor - zurück, zurück - vor - vor funktioniert hier nicht.
Ist dir was aufgefallen mittlerweile?
Vor - vor - zurück, zurück - vor - vor...das bringt dich eben nicht aufs Dach, es bringt dich exakt wieder dorthin zurück wo du losgetanzt bist.
Und genau darin ist die Antwort verborgen. Leute auf Salsaparties sind eben nur irgendwie mutig. Sie springen lachend in den Strudel des unbekannten wie tanzende Piraten, aber nur weil sie vorher schon wissen wo sie am Ende wieder stehen. So verliert das Unbekannte sehr viel von seinem Schrecken, durch Regeln, Zahlen und einstudierte Schritte.
Und doch bleibt dazwischen Raum für so viele kleine Unbekannten, für Abenteuer -und das ist das was den Reiz ausmacht an diesem Tanz. Das Ungewisse ist es was dem Leben die Würze gibt.
Würze auf spanisch heisst glaub ich Salsa.
Aufs Leben übertragen läuft es im Endeffekt doch auch häufig so wie beim Tanzen: Vieles traut man sich nur, weil man vorbereitet ist und das Ende bereits am Anfang antizipieren kann. Bei den all den anderen Sachen ist man eben viel zu oft feige.
Man ist feige und verpasst vielleicht den heissesten Tanz seines Lebens.
Vor - vor - zurück, zurück - vor - vor.
Es ist 2:43 an einem Donnerstagmorgen, ich liege wach, allein -genau dort wo ich losgetanzt bin, der Grundschritt sitzt also mittlerweile.