Pieps, die Maus, schnupperte vorsichtig. Ihre Öhrchen zuckten und ihre kleinen Schnurrhaare zitterten.
Der Duft in dem Raum war berückend, beinahe unwiderstehlich. So süß und appetitlich. Nach all den guten, köstlichen Sachen, die die Menschen ihren Kindern schenkten, wenn sie diese kleinen Bäume in ihre Häuser holten und sie mit Kerzen und bunten, glitzernden Dingen schmückten.
So überaus fein und delikat.
Pieps, die Maus, seufzte. Na ja, sie piepste, aber es war ein seufzendes Piepsen.
Sie saß auf ihren kleinen Hinterpfoten und dachte nach.
Sollte sie losflitzen, um sich ein winziges Stück Schokolade zu holen? Oder, nun gut, vielleicht auch ein nicht ganz so winziges?
Vielleicht auch einen dieser würzigen Kekse, wie hießen die doch, Spekulatius?
Oder so einen Lebkuchen?
Es war nicht ungefährlich. Immerhin gab es da Kläffke, den Hund, und der passte echt gut auf. Er war schlank und schmal wie ein Hot Dog, hatte kurze, krumme Beinchen und Schlappohren. Und einen ausgeprägten Jagdinstinkt.
Aber Pieps hatte Hunger. Es war ein sauberer, aufgeräumter Haushalt und es gab nicht viele Brocken oder Krümel, die liegen blieben, und so war das kleine Bäuchlein leer und der Magen knurrte ihr.
Pieps hatte bereits darüber nachgedacht, auszuziehen. Nun, vielleicht, aber ... draußen war es bitter kalt und schneite, und das würde bis zum Frühjahr warten müssen.
In diesem Augenblick allerdings gab es eine viel dringlichere Frage, und die war: sollte sie oder sollte sie nicht?
Gerade hatte sie sich entschieden, es bleiben zu lassen, da knurrte der Magen erneut und sie lief kurz entschlossen los.
Trippel, trippel machten winzig kleine Pfoten, während Pieps sich zwischen all den leckeren Sachen hindurch manövrierte, um schließlich an den Teller mit dem besten von allem zu kommen: den kleinen, runden Marzipankartoffeln.
Sichernd schaute sie sich noch einmal um, und dann, oh, dann... Die kleine Nase zitterte und schnupperte, die kleine Zunge schleckte, hhhhhnmmmm, und dann, ja dann biß Pieps herzhaft zu. Nun, herzhaftes zubeißen mit winzigen Mäusezähnchen, nun, eigentlich, begann sie eben zu knabbern.
Und diese wunderbare Süße, der köstliche Geschmack, Zucker, Kakao..., es war ein Vergnügen, es war gerade zu himmlisch.
Doch gerade, als Pieps sich aus tiefstem Herzen diesem Vergnügen hingab, waren auf einmal aus dem Flur Geräusche zu hören. Ein Rappeln, ein Klicken, das nur... Oh. Das war das Klicken von Krallen auf tönernen Fliesen.
Und das konnte nur eines bedeuten. Kläffke war unterwegs hierher. Der Dackel hatte vermutlich Pieps' leise Geräusche gehört, und mit seiner feinen Hundenase erschnüffelt, was gerade im Wohnzimmer geschah.
Pieps verharrte schreckstarr. Und sie verfluchte sich selber, dass sie vor ihrem Ausflug auf den herrlichen Süßigkeitentisch nicht geprüft hatte, ob die Tür zum Flur geschlossen war.
Wenn sie an ein himmlisches Wesen geglaubt hätte, hätte sie jetzt vermutlich die kleinen Pfoten gefaltet und gebetet. Doch so etwas wie ein göttliches Wesen gab es für Mäuse nicht, nur ganz handfeste Dinge wie ein warmes Nest zum Schlafen und genug Futter für einen vollen Magen.
Also betete sie nicht, sondern sah sich einfach nur um, um zu ihrem größten Entsetzen festzustellen, dass die Tür nicht angelehnt war.
Und schon schubste sich Kläffkes Schnauze hindurch, die Tür öffnete sich weiter, der Hund kam herein und rannte, nun vernehmlich knurrend, genau auf den Wohnzimmertisch zu.
Pieps zitterte.
Kläffkes Knurren wurde lauter, ging in ein erstes Wuff über, und dann begann der Hund, mit lautem wütendem Gebell um den Tisch herum zu springen.
Natürlich versuchte er, auf den Tisch zu springen. Doch obwohl der Wohnzimmertisch eher niedrig war, schaffte er es nicht. Dackel sind in ihrer Körperform und in ihrem Geiste sicherlich für vieles geeignet, doch athletische Sprünge gehören nun einmal nicht dazu. Und so musste Kläffke erkennen, dass die Chancen, auf diesen Tisch zu gelangen, wo diese dumme kleine Maus saß und Herrchens und Frauchens und deren Kinder Süßigkeiten anknabberte, eher schlecht standen. Und das machte den Dackel noch wütender.
Sein Bellen war inzwischen ohrenbetäubend, und seine Sprungversuche, die er tapfer beibehielt, brachten ihn nicht auf den Tisch, aber er warf sich immer wieder dagegen, und das hatte zur Folge, dass die Vase, die in der Mitte dieses prachtvollen Tisches stand und in der einige grüne Fichtenzweige steckten, die mit zierlichen Strohsternen behangen waren, mächtig ins Schwanken geriet.
In einer solchen Situation der Gefahr gerät ein Gehirn durchaus schon einmal in Panik. Und so war es auch bei Pieps' Gehirn der Fall. Es versuchte, zu entscheiden, was jetzt am besten zu tun sei.
"Du musst dich verstecken!", rief ein Teil, nämlich der, der ruhig und bedacht handelte und der, wenn man ehrlich sein sollte, in Pieps' Gehirn oftmals zu kurz kam.
"Oh nein, laufen, weglaufen, renn!", rief ein anderer Teil, der nämlich, der für blinde Panik zuständig war, und der oftmals die Oberhand behielt. Sie konnten sich nicht einigen, und keiner der beiden gewann. Und daher tat Pieps etwas, das in Anbetracht der Lage eigentlich völlig unlogisch war: sie stemmte sich mit aller Kraft gegen die Vase, um sie am Fallen zu hindern.
"Wenn diese Vase fällt", dachte ein anderer Teil ihres Gehirns, der für Freundlichkeit und Hilfe zuständig war und der darüber manchmal die Welt um sich herum vergaß, "dann werden nicht nur die köstlichen Marzipankugeln und Lebkuchen und alles andere nass, sondern auch die Weihnachtskarten, die dort liegen. Und das kann ich nicht zulassen!"
Ja, diese Weihnachtskarten. Noch am Vormittag des gleichen Tages hatten der Herr und die Dame des Hauses alle Karten, die Sie bis dahin erhalten hatten, genommen, und eine nach dem anderen noch einmal gelesen. Vorgelesen hatten sie sie, da das jüngste der Kinder noch nicht lesen konnte und ebenfalls noch einmal hören wollte, wer alles geschrieben hatte und was.
Und nun lagen diese Karten ordentlich zu einem Muster arrangiert auf einem Viertel des Tisches ausgebreitet, und teilweise aufgestellt direkt neben der Blumenvase. Und wenn diese nun kippte, und alles nass machen würde, ach je, was wäre die Dame des Hauses dann traurig. Und auch der Herr des Hauses, denn auch wenn der manchmal nervig und anstrengend war, wie Pieps fand, er liebte sein Frauchen sehr, und wäre traurig wenn sie traurig wäre.
Also stemmte sich Pieps, wie gesagt, mit aller Macht gegen die Blumenvase, um sie am Kippeln zu hindern. Irgendwie war sie sich selber bewusst, wie dumm das eigentlich war. Denn wenn es Kläffke doch schaffen würde, auf den Tisch zu kommen, dann wäre es um Pieps geschehen.
Und dennoch. Pieps konnte nicht anders. Aus irgendeinem Grund schien ihr das, was sie hier tat, das einzig Richtige zu sein .
Nun, wie sich herausstellte, war das Ganze gar nicht falsch. Der Lärm, den der Dackel veranstaltete, das Kläffen, das Rumpeln des Tisches, der wilde Radau, das alles hatte die Herrschaften geweckt.
Klapp, klapp, so hörte man Pantoffeln die Treppen hinunter und durch den Flur schlappen. Sekunden später stand der Herr des Hauses in der Tür zum Wohnzimmer.
Er zog panisch die Luft ein, schnaufte, und schrie dann: „Oh mein Gott, oh mein Gott, eine Maus!“
Augenblicke später stand auch die Dame in der Tür. Und als sie ihren völlig panischen Mann sah, blitzten ihre Augen.
Nun ja, eine Maus zwischen all den Süßigkeiten fand auch sie jetzt nicht wirklich prima. Aber eine solche Panik vor so einem winzigen Tier zu haben - irgendwie war das schon lustig.
"Keine Angst", sagte sie, " ich sorge dafür, dass sie dich nicht frisst."
Dann sah sie genauer hin.
" Oje, die Vase, die Karten..."
Und sie rannte auf den Tisch zu.
Jetzt ist es um mich geschehen, dachte Pieps. Oh du mein je, oh du mein je...
Tipp tipp tipp, so trippelten die zierlichen Hausschühchen der Dame des Hauses über das wohlgepflegte und eichenschwere Parkett. Erreichten den weichen Teppich, auf dem der Tisch stand. Und dann kamen ihre Hände immer näher.
Pieps war völlig verängstigt.
Doch zum größten Erstaunen schien die Dame ihr nichts antun zu wollen.
Im Gegenteil. Samtweiche Hände umfassten den winzigen Leib vorsichtig, beinahe liebevoll, und strichen Pieps mit dem Daumen sanft über das Rückenfell.
„Na du kleine“, sagte die Dame, während sie mit der anderen Hand die Vase festhielt und Kläffke, der immer noch wütend bellte, ein scharfes „Aus!“ entgegen rief.
Der Dackel, der damit nicht gerechnet hatte, der jedoch auf Gehorchen konditioniert war, setzte sich erschrocken und augenblicklich auf seinen Hundepo, blieb dort wie festgenagelt sitzen, stellte sein Gebell ein und schaute sein Frauchen verletzt an. Er hatte sie doch immerhin beschützen wollen, vor diesem gefährlichen wilden Tier, das mit Sicherheit nicht nur süße Lebkuchen und Marzipankartoffeln, sondern auch zutiefst geliebte Frauchen anknabbern würde, wenn man es ließe.
Aber nun, Frauchen musste selber wissen was sie tat. Er, Kläffke, würde für ein eventuelles Blutbad keine Verantwortung übernehmen.
„Schau nur“, sagte Frauchen und ging mit der winzigen Maus in der Hand auf ihren Gatten zu.
„Igitt“, quiekste der, sein Quietschgeräusch war dem einer Maus gar nicht so unähnlich. Es war nur wesentlich lauter.
„Igitt, eine Maus, tu sie weg!“
Doch die Dame lachte.
„Nun stell dich nicht so an mein Lieber, das ist doch nur ein winziges Tier, und die tut dir nichts. Das könnte sie gar nicht, so klein wie sie ist, selbst wenn sie wollte!“
Nun, Pieps wollte nichts dergleichen. Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, sie wollte nicht einmal mehr Marzipankartoffeln.
„Du wirst es nicht glauben“, sagte die Dame zu ihrem Gatten.
„Aber diese winzige Maus hat gerade unseren Weihnachtstisch und unsere ganzen Weihnachtskarten vor einem erheblichen Wasserschaden gerettet. Wenn die Vase umgekippt wäre, hätte das eine ziemliche Sauerei gegeben, und die Karten wären hinüber gewesen. Aber diese kleine Maus, so winzig sie auch ist, hat die Vase festgehalten. Kannst du dir das vorstellen?“
Ihr Blick ging hinüber zu Kläffke.
„Und über dein lautes Gebell und Mäuse jagen reden wir noch, Kumpel.“
Der Dackel war nun wirklich beleidigt. Na, Mäuse würde er nun nie wieder jagen und andere Ungeheuer auch nicht. Sollten die doch im Hause Schaden anrichten so viel sie wollten. Wenn man nicht wollte, dass er Verantwortung übernahm, dann würde er es eben auch nicht tun. Dann würde er sich gemütlich in sein Körbchen packen und das Chaos schalten und walten lassen. Das hatten sie nun davon.
„Eine Maus“, stöhnte der Herr.
„Ich mag die Viecher einfach nicht.“
„Stell dich doch nicht so an, du tapferer Ritter!“, lachte die Dame.
„Aber gut, wenn du das Tierchen nicht magst, mag ich es umso mehr. Ich glaube ich habe die kleine ins Herz geschlossen.“
„Dann bau ihr doch einen Käfig und behalte sie“, schnaufte der Herr.
"Was?!“, sagte die Dame.
„Ich sperr die Kleine nicht in einen Käfig. Ich glaube, die hat hier irgendwo im Haus bestimmt ein Zuhause.“
„Das ist ja das Schlimme“, sagte der Herr.
„Ich finde ja wir sollten Kläffke freie Hand, oder besser freie Schnauze lassen.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Frauchen.
„Ich werde für die kleine Maus im Keller, oder vielleicht im Dachboden, ein Nest einrichten und ihr immer etwas zu Fressen bringen. Und Kläffke, der darf dort nicht hinauf, oder hinunter, je nachdem.“
„Du bist verrückt“, sagte der Herr. Und in seinen Augen funkelte es. Genau dieser Art, ein bisschen verrückt, und so unglaublich liebevoll, zu jedem Wesen auf dieser Welt - das war ja genau das, was er an ihr liebte. Sie war einfach wunderbar.
Die vielen vielen Weihnachtskarten, die dort auf dem Tisch lagen, die hatten sie nicht umsonst bekommen, und er musste zugeben, dass die meisten nicht unbedingt um seinetwillen gekommen waren, sondern um ihrestwillen. Na, und der Kinder willen. Aber vor allem um ihretwillen, da biß die Maus keinen Faden ab.
Bei diesem Sprichwort, das ihm durch den Kopf gegangen war, musste er nun selber schmunzeln.
Er sah hinüber zu seiner Frau, die das winzige Tier immer noch in der Hand hielt. Die Maus zitterte, nun ja kein Wunder, wenn man von einem Wesen gehalten wird, das hundertmal so groß ist wie man selber, kein Wunder dass man da Angst hat.
Und na ja, irgendwie begann sich sein Herz für das kleine Tierchen zu erwärmen.
„Ach was“, sagte er, „wenn sie hier im Wohnzimmer herumgeflitzt ist, dann hat sie bestimmt hier ihr Nestchen. Dann sollten wir sie hier lassen. Und Kläffke, nun, der hat sein Körbchen in der Küche, der kann im ganzen Haus herum Streunern, und auch draußen im Garten und auf dem Dachboden und wo immer er möchte. Ins Wohnzimmer darf er dann eben nicht mehr, jedenfalls solange, bis er verspricht, sich zu benehmen.“
Frauchen nickte.
Ja, Pieps, die nun aufgehört hatte zu zittern, und nur noch wenig Angst verspürte, hatte in Gedanken angefangen, die Dame ebenfalls Frauchen zu nennen. Und den Gatten? Vielleicht Herrchen? Er schien ja doch ganz nett zu sein...
„Hör mal“, sagte nun Frauchen, und Pieps spürte, dass sie gemeint war. Dass sich die warme samtene Stimme an sie richtete.
„Ich werde dafür sorgen, dass du genug zu fressen hast. Was fressen Mäuse so? Getreide, Gemüse... ich werde dafür sorgen, dass du immer genug bekommst, wenn du mir zeigst, wo dein kleines Mausenest ist. Dann stelle ich dir regelmäßig ein Schälchen mit frischem Zeug dorthin. Dafür musst du aber versprechen, dass du nicht an unser Essen gehst in Ordnung?“
„Meinst du denn dass sie dich versteht?“, fragt Herrchen.
„Ich glaube schon“, sagte Frauchen.
„Schau nur, sie nickt.“
Und tatsächlich. Die Maus auf Frauchens Hand nickte mit dem kleinen Mausekopf.
„Na wenn das so ist, die Heldin, die unsere Weihnachtskarten und damit irgendwie auch unser Weihnachten gerettet hat, müssen wir schließlich gut versorgen, nicht?“
„Ich glaube sogar, dass sie um einiges verständiger ist als Kläffke“, sagte Frauchen. Und das musste was heißen, dann sie liebte ihren Dackel zugegebenermaßen aus tiefstem Herzen.
„Er ist ein toller Hund“, sagte Herrchen, „er ist mutig und liebevoll, aber nicht besonders helle, das muss man zugeben.“
Frauchen lachte ihr glockenhelles Lachen.
„Na dann lassen wir dich laufen okay?“, sagte sie.
Pieps sagte „Pieps!“ und faltete nun doch die Pfoten. Nicht zum Gebet sondern zu einem „Ja bitte“.
Frauchen setzte die kleine Maus vorsichtig auf den Boden.
Kaum hatten die Pfoten den Boden berührt, da flitzte sie auch schon davon, genau in ihr kleines Mauseloch, das sich hinter dem Vestibül an der Wand befand.
„Na dann gehe ich mal in die Küche“, sagte der Herr, „schneide einen Apfel an und ein paar Haferflocken, was meinst du?“
„Das ist eine gute Idee. Ein Weihnachtsfest für die Maus. Und da wir nun einmal wach sind, mach ich uns einen Glühwein. Und dann setzen wir uns gemütlich hin, und lesen all die Weihnachtskarten noch mal durch, einverstanden?“
Herrchen nickte.
„Das ist eine gute Idee, meine Liebe“, sagte er.
„Ich kann jetzt ohnehin nicht mehr schlafen und es dauert nicht mehr lange, bis die Kinder kommen, um die Geschenke zu öffnen. Da können wir es uns genauso gut gemütlich machen.“
Frauchen lächelte.
„Bist ein prima Kerl“, sagte sie. „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, sagte er und lächelte, so warm, und so innig, wie es nur ein liebendes Herz zustande bringen kann.
„Dich, und unsere wunderbaren Kinder. Und Kläffke“, gab er zu.
„Und ein kleines bisschen auch die Maus“, sagte sie.
„Ja“, sagte er und dachte an die schönen Stunden, die vor ihnen lagen. „Ja, ein kleines bisschen vielleicht auch diese winzige Maus.“