Manuel starrte geradeaus auf das weite Feld zu seinen Füßen, während hinter ihm sein Vater fluchte wie ein wildgewordener Rohrspatz. Geschepper folgte wüsten Beleidigungen an Gott und die Welt. Wie immer, wenn der Mann im Haus Dreiachtel im Tee hatte.
Eingepackt in seine dicksten Klamotten hatte sich Manuel aufs Dach des Werkzeugschuppens zurückgezogen. Von hier sah man bei gutem Wetter bis zum nächsten Dorf und insgeheim wünschte er sich, überall zu sein, nur nicht hier. Ein Vogel sein, das wäre was ...
Jetzt befanden sich die Zugvögel alle im Süden. Weit weg von der Kälte, in der Manuel ausharrte, bis es in der Nähe seines Vaters wieder sicher war. Das hasste er so am Winter: die Kälte.
Sie kroch sich langsam am Körper hinauf, bis man einen einzigen Eiszapfen darstellte. Manchmal hatte Manuel das Gefühl, ihm wurde nie wieder warm. Seine klammen Finger klemmte er sich frustriert zwischen die Oberschenkel, um sie zu wärmen. Hätte er nur an seine Handschuhe gedacht!
»Ey, Manuel, was treibst du da oben?«
Ertappt zuckte der Junge zusammen, bevor er einen Blick hinunter riskierte. Der Nachbarsjunge Christoph sah mit einem breiten Grinsen und einer puderroten Nase zu ihm hoch.
Manuel kam nicht dazu, eine Antwort zu geben. Hinter ihm auf dem Hof schepperte es erneut. Dem Klang nach zu urteilen, würde Manuel auf etwas aus Porzellan tippen. Vermutlich die Lieblingsfiguren seiner Mutter aus dem Blumenbeet vor der Haustür.
»Ah, verstehe. Meine Ma hat mir vorhin geschrieben, sie hätte einen Apfelkuchen mit Zimt gebacken und wartet sehnlichst auf mein Urteil. Lust auf eine Kostprobe?«
Der Christoph wusste, wie ein Angebot unwiderstehlich machte. Manuel musste gar nicht lang darüber nachdenken, sondern flitzte die kleine Leiter zum Dach hinunter wie von der Tarantel gestochen. Sein gemurmeltes Danke brachte den Nachbarn zum Lachen.
»Hey, wenn ich die Wahl zwischen Kuchen und dem hier hätte, würde ich Ersteres so was von vorziehen.«
Es mochte als Scherz gemeint gewesen sein, doch Manuel fand es nicht witzig. Er wies Christoph aber auch nicht drauf hin. Im ganzen Dorf wegen seines Vaters bekannt und mit mitleidigen Blicken gestraft zu sein, schmerzte jedes Mal aufs Neue.
»Wenn wir Glück haben, hat meine Mutter die restlichen Äpfel in den Ofen gehauen. Du magst doch Bratäpfel, oder?«
»Möglich. Ich hab noch nie welche probiert«, gestand Manuel, was ihm einen ungläubigen Blick einbrachte. Unter diesem wandte sich der Junge. »Sorry.«
»Hä?« Christoph blinzelte.
»Ich meine, entschuldige, dass ich nicht weiß, was ein Bratapfel ist. Bin unwissend, oder so.«
»Wieso sagst du ... egal, komm mit.«
Es war ein Katzensprung von einem Hof zum anderen, aber es glich einer Reise in eine vollkommen fremde Welt. Da stand keine vor sich hin rostende Klapperkiste vor der Garage, die seit Jahren darauf wartete, wieder funktionstüchtig gemacht zu werden. Manuel zog eine Grimasse bei dem Gedanken an dieses Unding. Sein Vater hatte sicher mehr Geld in diese Rostlaube gesteckt als in die Bildung seines eigenen Kindes.
Ein Ellbogen traf ihn in die Seite und holte ihn aus seinen Überlegungen.
»Soll ich eigentlich meine Mutter wissen lassen, was bei dir los ist? Nicht, dass sie es sich nicht bereits denken könnte, aber ...« Den Rest ließ Christoph offen. Ließ ihn entscheiden, wie viel er preisgeben wollte. Der Haken an der Sache war bloß, dass jeder im Ort wusste, womit sich Manuel herumschlagen musste.
Ergab es überhaupt einen Sinn, die Wahrheit zu verheimlichen? Er zuckte mit den Schultern und wich Christophs eindringlichen Blick aus.
»Es ändert doch sowieso nichts, egal ob ich etwas sage oder nicht.«
»Natürlich tut es das! Wenn du mir einen Hinweis geben würdest, könnte ich dich jedes Mal zu mir holen, wenn dein Alter durchdreht. Wir könnten ein Safeword ausmachen. Ein Vorwand, damit er keine Lunte riecht.«
Manuel bewunderte für einen Moment seinen Nachbarn, bis sich Ernüchterung in ihn breitmachte. Er blieb auf dem Gehwegstück vor Christophs Haus stehen.
»Willst du mir helfen, weil du Mitleid mit mir hast? Wenn ja, dann nein danke. Ich hab das nämlich satt.«
»Ich will dir helfen, weil ich ein Freund für dich sein möchte. Freunde boxen sich nämlich aus solch scheiß Situationen raus, in denen du steckst«, erklärte Christoph ruhig, »mach Rauchzeichen oder schick mir ne Nachricht mit zum Beispiel »Bratapfel« oder was auch immer, damit du nicht allein auf eurem bescheuerten Schuppendach hockst. Zu deiner Info: irgendwann brichst du sicher durchs Dach, weil dein Vater nichts von Reparaturen hält. Wenn einer von euch auf so eine Art abtreten sollte, dann lieber er statt du.«
Sich auf die Unterlippe beißend schluckte Manuel eine spontane Erwiderung hinunter. Er hatte noch nie jemanden einen Freund nennen können. Nie jemanden getroffen, der überhaupt einer sein wollte. Sie suchten immer alle das Weite, sobald sie seinen alten Herren kennenlernten. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass ausgerechnet Christoph anders war. Einer, der wusste, wie es bei ihm zu Hause ablief und ihm dennoch die Hand reichte.
Er holte tief Luft und entschuldigte sich für sein Benehmen, was Christoph die Augen verdrehen ließ.
»Bratapfel klingt übrigens nach einem interessanten Safeword«, bemerkte er, als sie gemeinsam das Tor zum Hof passierten. Er musste kein Vogel sein, um so weit wie möglich von seinem Vater wegzukommen, wie es schien. Es reichten auch die zehn Meter zwischen ihren Grundstücken und ... ein Junge wie Christoph, der ihn gerade mit einem schiefen Grinsen bedachte.
»Witzbold.«