Vorbemerkung:
Die Inspiration zu dieser Kurzgeschichte lieferte der Song
„Ich war noch niemals in New York“ (1994) von dem großartigen Sänger, Komponisten und Pianisten Udo Jürgens, der leider im Jahr 2014 verstarb.
Wer sich das Lied anhören möchte:
https://www.youtube.com/watch?v=6TYP2i47kQ8
DIE GROSSE FREIHEIT
„Verdammt nochmal, das Rollo klemmt immer noch! Du wolltest doch…“
„Mach ich morgen“, brummte er verdrossen.
„Das hast du gestern schon gesagt!“
„Ich mach das morgen!“, erklärte er mit Nachdruck, jedes einzelne Wort betonend.
„Na super! Langsam aber sicher habe ich die Nase voll von deinen Versprechungen. Morgen, morgen, morgen! Glaubst du etwa, ich habe den ganzen Tag nichts zu tun? Glaubst du, ich langweile mich hier mit dem Kleinen? Ich weiß kaum, wo mir der Kopf steht, und von dir höre ich andauernd nur Ausflüchte!“
„Wenn ich den ganzen Tag auf der Arbeit bin, kann ich ja schlecht zwischendurch irgendwelche Sachen reparieren.“
„Nicht zwischendurch, sondern danach! Jetzt beispielsweise!“
Ihre nörgelnde Stimme machte ihn wahnsinnig. Was war das bloß in der letzten Zeit? Irgendwie war sie nur noch am Jammern und Motzen, beschwerte sich über Sachen, die sie früher nicht gestört hatten. Nicht einmal in der Zeit, als man noch die Schwangerschaftshormone für solche Ausbrüche hätte verantwortlich machen können. Sie war unzufrieden, unausgeglichen und sorgte mit ihrem stetigen Gemecker dafür, dass er lieber Überstunden schob, als nach der Arbeit pünktlich nach Hause zu kommen, um bei seiner Familie zu sein.
Familie… Das hatte er sich wahrlich anders vorgestellt. So wie in seiner Kindheit. Solche sinnlosen Streitereien kannten weder er noch sein jüngerer Bruder von den Eltern. Seine Mutter und sein Vater waren stets liebevoll miteinander umgegangen und er hatte nie auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt, dass die beiden sich nach so vielen Ehejahren immer noch liebten und einander respektierten.
Aber das, was hier seit geraumer Zeit zwischen ihm und ihr abging, hatte nichts mit Liebe und Respekt zu tun. Das war keine Harmonie, da war nur Unzufriedenheit und dieser Frust, der bei ihm in eine tiefe Grauzone der Gleichgültigkeit abzudriften drohte.
Aber warum?
Und wann, zum Teufel, hatte das angefangen?
„Was willst du heute im TV schauen? Krimi oder Talk-Show?“ Ihre Stimme hatte selbst bei belanglosen Fragen diesen nervigen Unterton.
Resigniert hob er die Schultern.
„Egal. Such dir was aus.“
„Ich habe aber dich gefragt!“
Verdammt!
Er brauchte dringend frische Luft. Jetzt sofort, sonst würde er platzen.
Frustriert langte er nach seiner Jacke, die im Flur an der Garderobe hing.
Weil er ihr die Antwort schuldig geblieben war, schaute sie aus der Küche, das Spültuch in der Hand.
„Wo willst du hin?“
„Raus, mal kurz um den Block.“
„Jetzt?“
„Natürlich jetzt. Danach kann ich ja das verdammte Rollo reparieren.“
„Nicht dein Ernst!“
„Natürlich mein Ernst. Spaß klingt anders. Ganz anders.“
Er wartete keine weitere Antwort ab, sondern trat entschlossen hinaus ins neonbeleuchtete Treppenhaus des Altbaus und schloss die Tür mit Nachdruck hinter sich. Tief durchatmend lehnte er sich dagegen und konnte trotz größter Anspannung ein Seufzen nicht unterdrücken.
Nein, sie würde ihm sicher nicht nachlaufen. Warum auch? Sie wusste, er kam zurück. Das tat er ja immer.
Langsam setzte er sich in Bewegung, nahm Stufe für Stufe hinunter zum Ausgang.
Als er endlich vor der Haustür stand und die abgegriffene silberne Klinke herunterdrückte, kam es ihm so vor, als öffnete er soeben das Tor zur Freiheit.
Was wäre, wenn er jetzt einfach…
Er verhielt in seiner Bewegung und starrte die dunkle Holztür an, die schon weitaus bessere Tage gesehen hatte und von der er sich bereits mehrmals gefragt hatte, welche außerirdische Farbnuance hier wohl irgendwann einmal aufgetragen worden war. Retro Vintage, irgendwas zwischen braun, schmutzig grau und anthrazit. Eine Farbe, die jeder Maler empört zurückgewiesen und ein für alle Mal von seiner Farbpalette verbannt hätte.
Aber vielleicht hatte sich die Farblackierung einfach mit der Zeit diesem ewigen Bohnerwachsgestank angepasst, der im gesamten Treppenhaus garantiert schon in jeder Holz-Pore festhing wie alter Kaugummi an einer Schuhsohle. Eigenartig, dabei hatte er noch nie bemerkt, dass jemand von den Mietern die Treppenstufen mit altmodischem Bohnerwachs traktierte. Und damals, während ihrer ersten Wohnungsbesichtigung hatten sie beide genau diesen Geruch als so herrlich nostalgisch empfunden und sich darüber amüsiert.
Sie waren vor fünf Jahren hier eingezogen, gleich nach der Hochzeit, weil sie unbedingt unabhängig sein wollten. Eigene vier Wände, ihr kleines Liebesnest, weg von den Eltern, weg aus der Heimatstadt, wo alles so langweilig vertraut gewesen war.
Ein Neuanfang, nur sie beide, in einer großen Stadt, wo keiner keinen kannte. Mitten im Zentrum hatten sie dann diesen frisch sanierten Altbau gefunden. Die Wohnungen waren nicht schlecht, hell und sehr geräumig, mit großen Fenstern und hohen Decken. Da konnte man was draus machen. Also hatten sie kurzerhand einen Kredit aufgenommen und die Wohnung im Stadtzentrum gekauft.
Tagsüber gingen sie ihrer Arbeit nach und abends bauten sie Stück für Stück an ihrem eigenen kleinen Paradies.
Es hatte Spaß gemacht, sie hatten gemalert, Möbel ausgesucht und nach und nach ihre Wünsche und Vorstellungen in die Tat umgesetzt. Es war eine schöne Zeit gewesen, so voller Ideen und kleinen Verrücktheiten, voller Romantik, Liebe und Übermut.
Dann wurde sie schwanger. Und als ihr kleiner Sohn, ein absolutes Wunschkind, zur Welt kam, schien das Familienglück perfekt.
Er wusste beim besten Willen nicht, wann sich das alles, was ihnen etwas bedeutete, im Alltag verloren hatte.
Wann sie einander verloren hatten…
Und plötzlich fiel ihm dieses Lied ein, dieser Song, den sie andauernd im Radio spielten:
„Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii,
ging nie durch San Francisco in zerriss`nen Jeans.
Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei,
einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh‘n…“
Oh ja, einmal verrückt sein, einmal etwas tun, womit keiner rechnete. Einfach weg, sich nicht umdrehen, das Schicksal herausfordern und das Leben wieder spüren! Ganz weit weg, über den großen Teich, mitten hinein in die große Freiheit. Sich ein Motorrad nehmen und losfahren, immer die Road 66 entlang, bis sie irgendwo im Westen endete.
Er würde es tun, irgendwann.
Warum nicht heute? Jetzt sofort?
Weil du nicht kannst!
erwiderte sofort diese fiese kleine Stimme der Vernunft in seinem Kopf.
Weil du eine Familie hast.
Weil der Kleine dich braucht.
Weil sie sich auf dich verlässt.
Weil die Wohnung noch nicht abbezahlt ist.
Weil du deinen Job nicht einfach so aufgeben kannst.
„Scheiße“, knurrte er gegen das hässliche Holz vor seiner Nase, riss die schwere Eichentür frustriert auf und trat hinaus auf die Straße. Es dämmerte und die vorbeirollenden Autos fuhren bereits mit Licht.
Er schlenderte die Straße entlang und schlug automatisch den Weg zum nahegelegenen Park ein. Aus einem der vorbeifahrenden Autos klang lautstark ein aktueller Hit und die Bässe dröhnten so laut, dass dem Fahrer im Inneren des Wagens mit Sicherheit die Ohren vibrierten.
Aus der Ferne drang von irgendwoher das Heulen einer Polizeisirene an sein Ohr, und von weitem hörte er das vertraute metallische Quietschen der Straßenbahn ganz in der Nähe.
Am Straßenrand parkte ein Taxi. Der Fahrer machte wohl gerade seine Pause, denn er hatte die Scheibe halb heruntergelassen und sich in seine Bildzeitung vertieft.
`Ich könnte einsteigen und mich zum Flughafen fahren lassen`, dachte er, während er langsam an dem Taxi vorüber schlenderte. `Vielleicht geht heute Abend sogar noch ein Flug. Aber wohin eigentlich? Ostküste oder Westküste? New York oder San Francisco?` Er hatte keine Ahnung, keinen Plan.
Brauchte man überhaupt einen Plan? Reichte es nicht, ein festes Ziel zu haben? Etwas, das man wollte? So etwas wie: Einfach weg.
Töricht!
Total irre!
Da war sie wieder, diese verdammte Vernunftstimme, die einfach nicht schweigen wollte.
Du willst ja nur aus einem Grund in die Staaten! Aber du wirst sie nicht finden, niemals! Du wirst alles verlieren, was dir je etwas bedeutet hat, und du wirst drüben ganz allein sein.
Also hör schon auf mit diesem dämlichen Blödsinn!
Er lief an dem Taxi vorbei und bog in die Parkanlage ein, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Was war nur heute mit ihm los?
Es war ja nicht einmal ansatzweise ein Streit zwischen ihnen gewesen! Trotzdem hatte sie mit ihrer endlosen Nörgelei das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hatte vorhin in der Wohnung plötzlich das Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen. Er hatte nahezu panische Angst verspürt zu ersticken, zwischen diesen Wänden aus Alltag, Gewohnheit, Frust und Gleichgültigkeit.
Er setzte sich auf eine leere Parkbank, starrte gedankenverloren in die hereinbrechende Dunkelheit und ließ seine Gedanken wandern. Weit weg, in die Vergangenheit, hin zu einer Zeit, als seine Welt noch in Ordnung gewesen war.
Als sie hier auftauchte. Seine erste große Liebe. Das Mädchen, dass durch ihn zur Frau wurde.
Sie, die ihm das Herz gestohlen und mit über den großen Teich in ihre Heimat genommen hatte.
Er hatte gelitten und versucht sie zu vergessen. Hatte alles dafür getan, um das, was zwischen ihnen geschehen war, zu verdrängen und sein Leben einfach ohne sie weiterzuführen und zu genießen. Sollte sie doch zum Teufel gehen, er brauchte sie nicht! Und doch war sie immer noch da, in seinen Gedanken, in seiner Erinnerung, vor allem an Tagen wie diesen.
Er wusste nichts mehr von ihr, weder, wo sie jetzt lebte, noch, ob sie selber eine Familie hatte, oder ob es sie überhaupt noch gab, irgendwo da draußen.
Sie war damals ohne ein Wort aus seinem Leben verschwunden und mit ihr die große Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, sondern von einem Moment auf den anderen geplatzt war wie eine Seifenblase.
Er hatte sich so unzählige Male gefragt, warum sie ihn ohne ein Wort des Abschiedes verlassen hatte, aber es war niemand da, der ihm darauf eine Antwort hätte geben können. Und so hatte er versucht, es dabei zu belassen und sie zu vergessen.
Dann irgendwann hatte er sich neu verliebt. Es war anders, nicht so intensiv wie damals, denn seine Zuneigung hatte sich langsam entwickelt, mit einer gewissen Vorsicht. Einige seiner Freunde glaubten, es läge daran, dass er Angst davor hatte, erneut enttäuscht zu werden. Doch er wusste es besser. Er hatte bisher jede Frau, die er datete, mit ihr verglichen, und keine war wie sie. So hübsch, so verrückt, so unbeschwert, so – amerikanisch. „Sweet Bee“ hatte er sie liebevoll genannt, und trotzdem inzwischen so viel Zeit vergangen war, hatte er noch immer ihr helles fröhliches Lachen im Ohr.
Und im Grunde seines Herzen hatte er lange Zeit heimlich gehofft, sie würde so überraschend, wie sie verschwunden war, eines Tages wiederauftauchen.
Kaum ein Tag verging, an dem ihn nicht irgendetwas an Sweet Bee erinnerte. Doch es tat nicht mehr so weh, und mit jedem Tag, mit dem ihr Bild in seiner Erinnerung verblasste, gewann seine neue Liebe an Kraft, Stärke und Zuversicht.
Ja, er liebte seine Frau, er liebte sie wirklich. Und er hatte es ehrlich gemeint, als er ihr am Tag der Hochzeit versprach, in guten wie in schlechten Zeiten zu ihr zu halten.
Und nun, hier und jetzt, nach diesem blöden Streit, der eigentlich gar keiner gewesen war, hatte er doch allen Ernstes erwogen, einfach abzuhauen? Alles hinter sich zu lassen, um auf der Suche nach ihr irgendwo im Nirwana zu stranden?
War er noch zu retten?
Plötzlich spürte er in Gedanken kleine Kinderarme, die sich um seinen Hals legten, große blaue Augen, die ihn anhimmelten und strahlten, wenn sich ihre Blicke begegneten. Dieser kleine warme, weiche Körper, der sich schutzbedürftig und so voller ehrlicher Zuneigung an ihn schmiegte, der süße Mund, der ihm „Ich hab dich so lieb“ ins Ohr flüsterte…
Nein!
Er konnte hier nicht weg, er durfte nicht und er wollte es auch nicht.
Das hier war sein Leben, seine Familie, sein Zuhause, und solange es noch eine Spur von Hoffnung für sie drei gab, solange würde er bleiben.
Entschlossen stand er auf und ging den Weg, den er gekommen war, schnellen Schrittes zurück.
Das Taxi war weg, aber er hätte auch keinen Gedanken mehr daran verschwendet.
Der Kiosk an der Ecke hatte noch geöffnet, und er kaufte kurzentschlossen eine Flasche Wein. Den besten, den der Kioskbesitzer auf Lager hatte.
Als er den Hausflur betrat und das Licht einschaltete, blieb er kurz stehen und sog den Duft nach Reinigungsmittel und Bohnerwachs ein. Sein Zuhause.
Er öffnete die Wohnungstür und trat leise ein. Aus der Wohnstube drangen gedämpfte Stimmen aus dem TV an sein Ohr.
Leise trat er in die Küche, öffnete er die Weinflasche und nahm zwei Gläser aus dem Schrank. Dann ging er hinüber in die Stube.
Sie saß auf dem Sofa, die Arme um ihren Körper geschlungen, die Beine angezogen, als würde sie frieren. Als er das Zimmer betrat, blickte sie kurz auf, und ihre Blicke trafen sich. Schnell wandte sie sich wieder ab, doch er sah sofort, dass sie geweint hatte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er sie plötzlich leise sagen hörte:
„Ich hatte Angst, du würdest nicht wiederkommen.“
Wortlos stellte er die Gläser auf den Tisch und goss etwas von dem Wein ein. Dann setze er sich zu ihr, reichte ihr ein Glas und legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern.
Sanft küsste er ihre Wange.
„Lass uns mal verreisen. Nur wir drei, irgendwo hin. Was meinst du?“
Sie sah ihn mit großen Augen an und nickte dann.
„Das wäre schön.“
Er hob sein Glas und lächelte ihr zu.
„Auf uns, Baby! Auf, dass wir uns nie verlieren.“
©JeanyEvans 2023