Samstag war Handballtag. Wie immer trafen sie sich vor der Halle und wie immer war Toni zuerst da, da er näher dran wohnte.Während er etwas abseits von den anderen Wartenden stand, ging er noch einmal das Gespräch mit Max durch und probte ein paar fiktive Dialoge mit Lydia. Alles erschien so völlig einfach und unkompliziert, das würde ein Kinderspiel werden.
Dass das Gespräch mit Max auch erst mal nach einem Kinderspiel ausgesehen hatte und es dann doch etwas anders gelaufen war oder dass es sich das hier immer noch nicht gut anfühlte war Toni egal. Das würde schon werden. Wenn er erst einmal mit Lydia zusammen war, würde ihn das mit Schwung aus dieser leidigen Phase herauskatapultieren und ihn auf den richtigen Weg schubsen. Und dann würde es definitiv nicht mehr so komisch und abwegig sein, sie zu küssen, anzufassen und mit ihr zu schlafen, wie es sich für ihn grad in Gedanken anfühlte. Dann wäre es für ihn so normal und richtig, wie es für alle anderen auch war. Denn, dass ihm das grade verkehrt vorkam lag ja nur daran, dass er in ihr im Moment immer noch einen Kumpel sah, was sich dann natürlich ändern würde. Wie falsch dieser Gedankengang war drängte sich in Tonis Hinterkopf, konnte aber erfolgreich von ihm verscheucht werden und damit er bloß nicht wiederkam konzentrierte er alles in sich darauf, in die Richtung zu starren, aus der Lydia immer auftauchte.
Als er sie schließlich sehen konnte, fing sein Herz heftig zu klopfen an. Sie trug die neue Jacke, von der sie ihm erzählt hatte und wie furchtbar ätzend sie es gefunden hatte, dass ihre Mutter drauf bestanden hatte, mit ihr Klamotten kaufen zu gehen. Die Jacke, die eigentlich ganz gut aussah und ihr auch gut stand, wäre die ideale Öse gewesen, in die Toni hätte einhaken können. Er schaffte es auch, sich Worte zurecht zu legen, die nicht völlig hölzern oder idiotisch klangen – aber als Lydia bei ihm angekommen war, ihn anlächelte und zur ihrer üblichen Begrüßungsumarmung die Arme hob, da war es ihm unmöglich, sie auszusprechen. Mit einem Schlag war das unangenehme Gefühl, das bisher abgeschoben im Hintergrund gelauert hatte, total präsent und schaffte es, das alles, was Toni vorher so leicht und richtig erschien war, ihm plötzlich so gut wie unmöglich vorkam. Auf ihr freudiges ,Hallo' erwiderte er ein heiseres ,Hi' und verfluchte sich selbst.
Während sie in der Schlange vor der Kasse standen erzählte Lydia ihm ausführlich, warum ihr Chef diese Woche wieder ein Dreckskerl gewesen war und Toni versuchte, zuzuhören, aber da er immer noch furchtbar wütend auf sich selbst war, gelang ihm das kaum.
Das Handballteam war ziemlich gut und auch außerhalb der Stadtgrenzen bekannt, weswegen die Halle immer sehr gut gefüllt war, ein Umstand, der Toni diesmal sehr zugute kam. Denn die Lautstärke machte es schwieriger, sich zu unterhalten, sodass er Zeit hatte, sich zu überlegen, wie er nach dem Spiel vorgehen sollte.
Sie gingen durch die Sitzreihen, bis sie zwei freie Plätze fanden und nachdem sich gesetzt hatten und auf das Spielfeld blickten, begann Tonis Herz wieder, hektische Sprünge zu machen, aber nicht wegen Lydia sondern wegen Oliver. Toni hatte ihn gestern in den Pausen nicht gesehen, so sehr er auch unauffällig nach ihm Ausschau gehalten hatte. Aber er war natürlich nicht enttäuscht gewesen. Nein, dieses elende Gefühl in ihm kam wegen irgendetwas anderes, wahrscheinlich hatte er einfach was Falsches gegessen.
Und es war auch nicht Oliver, wegen dem er die Nacht stundenlang wachgelegen und ihm die Situation, in der er steckte, grade völlig auswegslos vorkam, weil nie im Leben etwas anderes passieren würde, als dass er ihn aus der Ferne sehen würde. Und dass Toni, als er endlich eingeschlafen war, einen heftige und unglaublich intensiven Sextraum mit ihm gehabt hatte, war auch nur dem widerspenstigen Teil seines Gehirns zuzuschreiben, der einfach nicht einsehen wollte, wie verkehrt das alles war.
Unter lautem Gejohle des Publikums, begleitet von blecherner Popmusik aus den Lautsprechern und dem Gebrülle des wie immer sehr ekstatischen Hallensprechers kamen die Spieler aufs Feld gelaufen und Toni sah mit einem Blick, dass Oliver nicht dabei war. Wieder stieg dieses elendige Gefühl in ihm auf und er musste den Impuls unterdrücken, aufstehen und einfach zu gehen. Denn eigentlich interessierte ihn Handball ja gar nicht, wenn Oliver nicht dabei war.
Also blieb er sitzen wo er war und verschränkte die Hände fest im Schoß. Er fragte sich, wo Oliver steckte und ob etwas Schlimmes mit ihm passiert war. Und da Oliver ein sehr guter und beliebter Spieler war, war Toni nicht der Einzige, der sich das fragte.
"Wo steckt denn der Weigel?" wollte der, der hinter Toni saß, wissen und die Antwort erfolgte prompt. "Sind wohl üble Familienprobleme. Aber wenigstens ist er nicht verletzt."
Jetzt, wo Tonis Fixpunkt nicht da war, war das Spiel einfach nur noch langweilig. Aber Toni blieb sitzen wo er war und verlor kein einziges Wort darüber, denn Lydia schien ganz bei der Sache zu sein. Was er bei den unzähligen verstohlenen Seitenblicken mitbekam, die er ihr zuwarf. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Oliver heute nicht da war, das würde Tonis Plan doch viel leichter machen.
Leider war Lydia dann doch nicht so in das Spiel versunken, wie Toni gedacht hatte, denn irgendwann fing sie einen seiner Seitenblicke ab und sah ihn groß an. "Was ist los?" rief sie und Toni ließ eine weitere Gelegenheit verstreichen als er mit den Schultern zuckte und "Nichts!" erwiderte.
Aber Lydia war nicht auf den Kopf gefallen und in der Lage eins und eins zusammenzuzählen. Sie riss die Augen auf. "Max hat's dir erzählt, nicht wahr?!"
Toni öffnete den Mund, aber Lydia hatte sich ihre Antwort schon selbst gegeben. "Dieser kleine Bastard," schrie sie, ballte die Fäuste, stand abrupt auf und drängte sich rücksichtslos durch die Reihe um die Treppe zum Ausgang hochzusteigen.
Toni saß noch ein paar Sekunden da, weil ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, dass es jetzt wirklich einfach geworden war. Dann folgte er ihr.
Es dauerte einen Moment, bis er sie gefunden hatte, denn sie stand im angrenzenden Park mit geschlossenen Augen an einen Baum gelehnt und sah immer noch wütend aus. "Lydia," sagte Toni ruhig und legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schüttelte sie ab und trat einen Schritt zur Seite. "Wie konnte er das bloß machen?!" sagte sie mit bebender Stimme.
"Er ist eben Max," erwiderte Toni. "Du weißt doch, wie er drauf ist."
"Sicher weiß ich das! Aber wenn jemand ein Freund ist, dann kann man doch wohl von ihm erwarten, dass er solche Dinge nicht einfach weitererzählt. Schon gar nicht demjenigen, der es absolut nicht hören sollte!" Lydia fuhr sich einmal resigniert mit der Hand durch das Gesicht. "Ich hätte es ihm niemals erzählen dürfen! Aber ich... ich war total betrunken und dann hat er mich gefragt, wie's mir geht und dann... dann hab ichs ihm einfach erzählt weil es endlich mal raus musste. Aber du hättest das nie wissen dürfen." Sie schluchzte einmal auf, sie hatte noch nie vorher vor ihm geweint, die Male im Kindergarten zählten hier nicht, und Toni fühlte sich grad völlig hilflos. "Warum denn nicht?" wollte er wissen und sie sah ihn mit schwimmenden Augen an, als wäre er begriffsstutzig. "Warum wohl nicht?!" erwiderte sie fast vorwurfsvoll. "Wir sind schon so ewig befreundet und deine Freundschaft ist extrem wichtig für mich. Und jetzt wo du weißt, dass ich auf dich stehe und du stehst nicht auf mich, dann ist das doch das Ende für unsere Freundschaft, egal, was du jetzt sagst!"
"Das...." fing Toni an aber bei Lydia waren jetzt alle Dämme geöffnet: "Dass ich seit einem Jahr auf dich stehe hat Max dir natürlich auch erzählt! Und seit diesem einen Jahr versuch ich die ganze Zeit mal, ob du mich näher an dich ranlässt. Ich sag dir, dass du in deinen Klamotten gut aussiehst, ich lad dich zum Essen ein und ich hab dir sogar diese scheiss Uhr geschenkt, die du immer so toll fandest! Aber das ist alles total an dir abgeprallt!"
"Aber wir haben uns doch sonst auch immer Sachen geschenkt," erwiderte Toni unbeholfen und Lydia warf die Hände in die Luft. "Ja, zum Geburstag und zu Weihnachten! Wo man sich Sachen schenkt, auch, wenn man nur befreundet ist. Aber die blöde Uhr hab ich dir am Valentinstag geschenkt!! Und du nimmst sie und grinst mich an und sagst geiles Teil, danke und damit war die Sache für dich erledigt. Ich glaub, du hast noch nichtmals gewusst, dass Valentinstag gewesen ist!" Sie zog die Nase hoch und wischte sich einmal mit dem Ärmel über die Augen. "Und...und an dem Tag hab ich dann begriffen, dass das alles umsonst ist. Dass du es gar nicht mitbekommst, wenn ich solche Sachen mache! Oder du denkst auch gar nicht darüber nach, dass ich ständig mit dir samstags beim Handball hocke, obwohl mich das Spiel gar nicht interessiert!"
"Echt nicht?" rutschte es Toni heraus und danach fühlte er sich wie der letzte Idiot. Nicht nur, dass es Lydia mit den Dingen bei ihm versucht hatte, die Max ihm vorgeschlagen hatte, und er nichts davon mitbekomment hatte, er hatte sogar das mit der Uhr nicht gemerkt, obwohl ihm das jetzt wie ein Wink mit dem ganz massiven Zaunpfahl erschien, wie etwas, das er gar nicht übersehen konnte. Es war schon richtig was er zu Max gesagt hatte: Er hatte wirklich keine Ahnung von Frauen.
Lydia runzelte die Stirn. "Verarscht du mich grad?"
Toni riß die Augen auf. "Nein, ganz bestimmt nicht!" Jetzt konnte er ihrem Blick nicht mehr standhalten und sah zu Boden. "Seitdem Max mir das erzählt hab, hab ich viel drüber nachgedacht," sagte er. "Und das war auch genau der Schubs, den ich gebraucht hab! Weil ich hab mir überlegt, dass das mit uns doch ne super Sache wäre. Ich...ich mein, wir kennen uns und wissen wie der andere drauf ist und wir sind schon so ewig befreundet." Er lächelte Lydia an und hoffte, dass es nicht so gequält aussah, wie es sich für ihn anfühlte, aber er schaffte es einfach nicht, dass daraus ein richtiges Lächeln wurde. "Und aus Freundschaften werden doch immer die besten Beziehungen," fügte er noch hinzu, womit er einen Spruch aus einer Zeitschrift seiner Mutter zitierte, die er aus lauter Langweile einmal gelesen hatte.
Leider, wie Toni schon angemerkt hatte, kannte Lydia ihn zu lange und zu gut, um sein Lächeln nicht zu durchschauen und sich von seinen Worten nicht so einwickeln zu lassen, wie Toni das gehofft hatte, Soviel zu dem Thema einfach.
"Wirklich?" fragte sie absolut nicht überzeugt und jetzt beschloss Toni das Theater sein zu lassen und einfach zu sagen, was Sache war. "Ja wirklich," erwiderte er, etwas zu heftig, als er es geplant hatte. "Aber was soll ich sagen, ich hab absolut keine Ahnung von diesen Dingen. Ich hab sowas noch nie vorher gemacht, ich weiß nicht, was ich sagen und was ich machen soll. Ja ich gebe zu, dass es total dumm ist, dass mir sowas erst klar wird, wenn Max es mir erzählt! Aber das heißt doch nicht, dass es absolut falsch ist! Sondern einfach nur wie schwer von Begriff ich bin. Das hast du doch grade selbst gesehen!" Er holte einmal tief Luft. "Lydia, ich mag dich echt super gerne und ich fände es schön, wenn da mehr draus werden würde! Aber wenn dir das jetzt zu doof ist, dann kann ich das auch verstehen! Und ich möchte auch nicht, dass das irgendwas an unserer Freundschaft ändert! Wenn aus uns schon kein Paar wird, weil ich einfach zu dämlich bin, dann soll sich daran gefälligst nichts ändern!"
Lydia sah ihn einen Moment an, der Toni ewig lang vorkam, dann strahlte sie. "Man, du weißt gar nicht, was mir grad für ein Stein vom Herzen fällt, dass jetzt alles klar ist zwischen uns." Sie trat ganz nah an ihn heran und sah zu ihm hoch. "Dann hast du ja jetzt auch nichts dagegen, wenn wir uns küssen, nicht wahr?" flüsterte sie.
"Gar nichts hab ich dagegen," flüsterte Toni genau so leise zurück und beugte sich zu ihr hinunter.
Natürlich fühlte sich dieser Kuss genau so an, wie sich der erste Kuss mit einem Mädchen anfühlen sollte, auf das man total stand. Und er fühlte sich auch nicht schlecht dabei, absolut nicht! Und Gedanken an Oliver huschten auch nicht kurz durch seinen Kopf.
Nein, absolut nicht! Alles war so, wie es sein sollte!