Der Ausflug wurde dann doch ganz angenehm. Nicht nur, weil die Stadt nicht mehr als eine halbe Stunde Autofahrt weg war und Toni Maja diesmal nicht bespaßen musste. Da es Sonntag war, war in der Stadt auch nicht viel los und sie musste sich nicht durch Horden von Touristen quetschen. Toni musste zwar den Kinderwagen schieben, während Peter und seine Mutter Arm in Arm vor ihm hergingen, aber das war in Ordnung. Und die Stadt war auch richtig schön und Toni blieb häufiger stehen um Fotos von den tollen alten Häusern zu schießen. Einige davon schickte er Lydia, die sich für solche Dinge auch begeistern konnte.
Auch mit Peter gab es keine Probleme, weil er sich seine üblichen Sprüche verkniff und selbst dann nichts sagte, als Toni sich in dem Restaurant, in das sie zum Abschluss gingen, ein dickes Steak bestellte. Toni hoffte, dass er nicht nur einfach einen guten Tag hatte, sondern dass es die ganze Zeit so weitergehen würde. Peter, der die Klappe hielt und der Plan, der langsam ins Rollen kam besser konnte es ja gar nicht laufen.
Sie waren gegen drei Uhr wieder auf der Burg und so, wie es schien, hatte Toni den Rest des Tages jetzt ganz für sich, etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er war sich zwar nicht sicher, was er machen sollte so alleine, denn definitiv würde er nicht nach Gregor suchen! Und runter ins Dorf zu Kara zu gehen kam ihm auch nicht wie eine gute Idee vor. Er würde einfach Lydia anrufen und danach eins seiner Bücher lesen und entspannen.
Als er allerdings ums Auto herumgegangen war, trat seine Mutter ihm in den Weg und hielt ihm Maja entgegen. "Deine Zeit als Babysitter ist noch nicht zuende," sagte sie und grinste ihn an. "Und während du auf dein Schwesterchen aufpasst werden Peter und ich schön in die Hotelsauna gehen. So in einer oder zwei Stunden sind wir wieder da." Mit diesen Worten hängte sie ihm noch die Wickeltasche über die Schulter, lächelte ihn noch einmal an und schloß dann zu Peter auf, der schon ein paar Schritte vorausgegangen war.
Toni hatte sich ja von Anfang an drauf eingestellt, hier ab und zu einmal den Babysitter zu geben, allerdings hätte er Peter doch gerne mal darauf hingewiesen, dass er fast einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte nur, weil Toni einmal Kerzen angezündet hatte, aber gleichzeitig noch nie ein Problem damit gehabt hatte, ihm bedenkenlos und nur hin und wieder graniert mit einigen oberlehrerhaften Sprüchen sein einziges Kind anzuvertrauen. Für einen Moment spielte Toni so ein Szenario im Kopf ab, aber dann strampelte Maja murrend in seinen Armen und da Toni absolut keine Lust auf Gebrüll hatte stellte er die Wickeltasche, die er sowieso nicht brauchen würde, neben die Haustüre und dann Maja auf den Boden, die sofort aufhörte zu quengeln. Toni nahm ihre Hand und während sie neben ihm hertapste überlegte er, was er jetzt mit ihr machen sollte. Aufs Zimmer wollte er auf keinen Fall, auf der Burg herumlaufen wollte er auch nicht und den Berg heruntergehen absolut nicht. Also beschloss er, mit ihr durch das Burgtor zu gehen und dann nach rechts wo damals ja noch eine große Wiese gewesen war. Vielleicht war sie ja immer noch da.
Also ging es im Schneckentempo los und sie hatten schon die Hälfte der Stecke geschafft, als Toni hinter sich ein freundliches "Hallo", hörte, von einer Stimme, die er sofort wiedererkannt und er konnte nicht verhindern, dass sein Herz einen kurzen Sprung machte. Er schloß für den Bruchteil einer Sekunde die Augen und überzeugte sich selbst davon, dass das grade einfach nicht passiert war. Dann setzte er einen freundlichen Gesichtsausdruck auf und drehte sich zu Gregor um, während Maja einmal laut protestierte, dass es nicht weiterging. "Hallo," erwiderte Toni und sah sich unauffällig nach seiner Mutter um, aber die war natürlich schon verschwunden. Er bedauerte die verpasste Gelegenheit und es wurde ihm bewusst, dass er vermutlich nicht allzuviele geben würde. Erst dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Gregor und er konnte nicht verhindern, dass sein erster Gedanken war, wie gut dieser in seiner schwarzen Jacke aussah. Eine weitere Sache die er in der ,es war einfach nicht passiert'-Schublade verschwinden lies.
"Deine Schwester?" fragte Gregor und wies auf Maja, die inzwischen heftig an Toni Hand zog.
"Ist sie," antwortete Toni und Gregor lachte einmal. "Ist es also doch noch passiert? Du meintest ja damals, dass du darauf echt keinen Bock hättest."
Schon wieder etwas, an das Gregor sich erinnern konnte, während bei Toni da nur eine gähnende Leere herrschte. Wieder stieg Wut in ihm auf, aber er verdrängte sie, indem er sich zu einem echten Lächeln zwang. "Ja, stimmt, hatte ich echt nicht. Aber als sie dann auf der Welt war, war es gar nicht mehr so schlimm und jetzt ist es eigentlich ganz ok. Meistens kümmert sich eh meine Mutter drum. Aber jetzt hat sie eben Urlaub und da bin ich mal wieder dran."
Toni war überrascht über seinen Redefluß, er hatte gar nicht vorgehabt, soviel zu sagen. Allerdings gehörte sowas doch dazu, wenn er normal mit Gregor umgehen wollte. Also war alles gut.
In diesem Moment stieß Maja einen entrüsteten Schrei aus und zerrte noch mehr an seiner Hand.
"Na ja ich geh dann mal weiter, sonst fängt sie noch an zu brüllen und das ist kein schönes Geräusch," meinte Toni und gab Majas Zerren nach.
"Warte ich komm mit, ich hab grad sowieso nix anderes zu tun," sagte Gregor und ehe Toni sich besinnen konnte stand er schon neben ihm.
Also gingen sie zu dritt langsam weiter zum Burgtor und Toni konzentrierte sich dabei ganz auf Maja, weil er nicht so recht wusste, was er mit Gregor reden sollte. Was ihm nicht sonderlich gefiel, denn eine unverkrampfte Unterhaltung wäre hier eigentlich angebracht, nachdem sie sich einige Zeit nicht gesehen hatte und vorallem ein Zeichen, dass da nichts mehr war, das zwischen ihnen stand. Andererseits hatten sie auch damals nicht besonders viel geredet von daher war Schweigen hier vielleicht passender. Und wieso sollte er jetzt eine Unterhaltung anfangen? Gregor konnte das doch auch ebenso gut machen. Toni warf ihm einen schnellen Seitenblick zu und stolperte dann fast über Maja, die ihm just in diesem Moment vor die Füße gelaufen war. Er wäre sicher hingeflogen, wenn Gregor nicht blitzschnell reagiert und nach seinem Arm gegriffen hatte.
Für einen kurzen Moment spielte sich in absoluter Klarheit die Szene vor Tonis innerem Auge ab, in der er und Gregor auf dem Weg zu dem verlassenen Dorf gewesen waren und er über die Baumwurzel gestolpert war. Auch da hatte Gregor ihn aufgefangen und in dieser Sekunde durchlebte Toni noch einmal wie es sich angefühlt hatte, in seinen Armen zu liegen.
Gregor hatte ihn gleich wieder losgelassen und Majas Weinen holte Toni sofort wieder in die Realität zurück. "Danke," sagte er hastig zu Gregor, dann nahm er Maja auf den Arm und versuchte sie mit Schsch-Geräuschen zu beruhigen. Sie wurde dann auch mit einem Schlag ruhig als ihr Gregor auffiel und sie ihn mit großen Augen musterte. Dann gluckste sie einmal fröhlich und streckte ihm die Hand hin.
Gregor schüttelte sie vorsichtig. "Hallo, ich bin Gregor, und wie heißt du?"
"Dada!" schmetterte ihm Maja enthusiastisch entgegen und Toni lachte. "Sogar fast richtig. Sie heißt Maja."
"Ein sehr schöner Name," sagte Gregor zu Maja und lächelte sie an, was sie dazu veranlasste, das Gesicht an Tonis Hals zu vergraben.
Toni war dankbar für das kleine Geplänkel zwischen den beiden, denn so konnte er langsam wieder runterkommen, auf welchem Trip er da auch immer grade gewesen war. Sie gingen weiter, erst wieder schweigend aber als sie die Wiese, die wirklich immer noch da war, schon fast erreicht hatte meinte Gregor: "Deine Mutter hat wohl eine Vorliebe für Namen mit vier Buchstaben, was?"
"Wieso?" wollte Toni wissen, der sich fühlte, als würde er grade ziemlich auf dem Schlauch stehen.
"Na ja, Toni sind vier Buchstaben und Maja auch," erwiderte Gregor und Toni, der sich wie vor den Kopf geschlagen fühlte, dass er nicht in der Lage gewesen war, diesen einfachen Gedankengang selbst zu gehen, lachte einmal verlegen. "Ja stimmt. So hab ich da noch gar nicht drüber nachgedacht."
Ihre Blicke trafen sich, Toni hatte es nicht verhindern können, es war wie ein Zwang gewesen, Gregor anzusehen. Er war irgendwie ganz anders als der Gregor von damals. Der wäre sicher schon mindestens zweimal ausgerastet wegen irgendetwas, was Toni gesagt hatte. Aber dieser Gregor war noch nicht ausgerastet, auch gestern auf der Party nicht. Im Gegenteil, er schien eine gewisse Ruhe auszustrahlen.
Toni erschreckte über seine eigenen Gedanken und hätte am liebsten einmal kurz den Kopf geschüttelt, um sich wieder zur Besinnung zu bringen, aber er wollte nicht, dass Gregor ihn dann fragte, wieso er das gemacht hatte. Stattdessen schluckte er nur einmal hart um den Kloß, den er aus irgendeinem Grund jetzt im Hals hatte, loszuwerden.
Glücklicherweise hatte Maja jetzt wieder genug davon, herumgetragen zu werden und sie an der Hand zu führen sorgte wenigstens für ein bisschen Ablenkung.
Als sie auf der Wiese angekommen waren, setzte er sie ins Gras und sich daneben. Gregor ließ sich gegenüber von ihm nieder, sodass er ihn ständig im Augenwinkel hatte, eine Tatsache, die ihn ziemlich störte aber natürlich sagte er das nicht. Stattdessen sah er Maja zu, die mit Begeisterung Gras herausriss und sich in den Mund stopfte. Aber bevor Toni eingreifen und es ihr herausziehen konnte, hatte sie es schon von selbst ausgespuckt.
"Kara fand dich übrigens ziemlich toll," meinte Gregor dann. "Sie hat mir heute schon drei Nachrichten geschickt, ob ich wüsste, wie es dir geht und jetzt kann ihr ja schreiben, dass es dir gut geht, oder?"
Toni räusperte sich einmal. "Ja, mir geht es gut, allerdings vermiss ich meine Freundin ziemlich." Er hatte Lydia erwähnen müssen, denn er hatte grade das Gefühl, wegzudriften und dass sein Plan dabei war, grandios zu scheitern. Aber Lydia würde seine Rettungsleine sein, damit er nicht in diesem Sumpf versank.
Gregor lachte einmal. "Ich werd es Kara genau so schreiben. Aber ich glaub nicht, dass du dir Sorgen machen musst, sie steht schon ewig auf Daniel. Du weißt schon, groß, Fussballer, son Typ auf den die Mädels total abfahren." Er starrte sinnierend vor sich hin.
"Stehst du auf sie?" erkundigte Toni sich und Gregor grinste. "Nein, sicher nicht. Sie ist mir viel zu anstrengend. Außerdem weiss ich gar nicht, ob ich überhaupt mit nem Mädchen was anfangen will."
Toni starrte ihn an. "Was?!" schoß es ungläubig aus ihm heraus bevor er es zurückhalten konnte und das wäre jetzt definitiv eine Situation gewesen, in der Vulkan Gregor ausgebrochen wäre. Aber der existierte wohl nicht mehr, denn Gregor sah ihn nur ruhig an und zuckte mit den Schultern. "Na ja, Mädels sind schon cool, aber mit Kerlen fühlt es sich einfach besser an."
Toni musste aufpassen, dass ihn nicht vor lauter Überraschung der Mund offenstehen blieb. "Echt? W...wissen das auch die Leute, mit denen du abhängst?"
"Klar wissen sie es," erwiderte Gregor, als sei es die normalste Sache der Welt. "Sonst wären es nicht meine Leute. Ich kann ja sowieso nichts daran ändern, also wieso sollte ich mit da mit welchen abhängen, die ein Problem damit haben?!"
Toni wusste absolut nicht, was er dazu sagen sollte, aber gottseidank rettete ihn Maja wieder einmal, indem sie zu ihm hingekrabbelt kam, sich an ihm hochzog um dann ein paar wackelige Schritte zu gehen, bevor sie das Gleichgewicht verlor und wieder auf die Wiese plumpste. Aber sie ließ sich davon nicht entmutigen und kam zurückgekrochen um es gleich noch einmal zu versuchen.
Toni spürte Gregors Blick auf sich aber nie im Leben hätte er ihn jetzt ansehen oder etwas sagen können. Seine Worte tanzten in seinem Kopf und er war immer noch ziemlich schockiert.
In diesem Moment ertönte plötzlich ein aktueller Popsong aus Gregors Jackentasche. Er holte sein Handy heraus und beantwortete den Anruf. "Ja.... Ja...Mach ich..." sagte er abgehackt und nachdem er das Handy vom Ohr genommen hatte, sah Toni, wie er für einen kurzen Moment die Lippen so fest zusammenpresste, dass sie nur noch ein dünner Strich waren und dabei die Stirn runzelte. Aber so schnell, wie er kam, war dieser Gesichtsausdruck wieder verschwunden und hatte einem kleinen Lächeln Platz gemacht. "Na ja ich muss dann mal. Das Hotel ist ja schließlich ein Familienbetrieb und Goldjunge Johann hat dann ja doch auch nur zwei Hände." Er grinste einmal schief, dann stand er auf und klopfte sich den Hosenboden ab. Er nickte Toni noch einmal zu, sagte "Bis dann" und ging.
Toni konnte sich selbst nicht davon abhalten, ihm hinterher zu sehen. Gregor war teilweise also immer noch der Alte. Johann und er verstanden sich immer noch nicht besonders gut und nachdem der Anruf gekommen war, wäre er dann doch ausgerastet, wenn er nicht gelernt hatte, es zu kontrollieren.
Und über das, was er vorher gesagt hatte würde Toni noch eine ganze Weile nachdenken müssen, dass wusste er schon jetzt. Aber die ganzen komischen Gefühle, die er in der letzten Stunde gehabt hatte, die würde er ignorieren. Schließlich galt es immer noch, seinen Plan durchzuführen.