Es war nicht so, dass Toni nach dem Tag im Hotel nicht mehr glücklich war. Aber es war nicht mehr das unbeschwerte Glücklichsein. Denn die Tatsache, dass er erst ein Hotelzimmer buchen musste, damit sie das erste Mal Sex in einem Bett haben konnten, hatte ihnen beiden noch einmal deutlich gemacht, dass es da etwas gab, das, egal wie eng ihre Beziehung war, immer zwischen ihnen stehen würde.
Natürlich konnten sie Hand in Hand am Strand entlang spazieren gehen wie andere Paare auch – wenn sie dafür vorher eine halbe Stunde lang mit dem Auto fuhren bis sie zu einem abgelegenen Strand kamen, an dem sie auch garantiert niemand sehen konnte.
Natürlich konnten sie gelegentlich auch mal auswärts essen gehen – wenn sie darauf achteten, sich dabei wie zwei Freunde zu benehmen und sich nicht allzu innig zu berühren.
Und natürlich konnten sie auch an anderen Orten Sex haben, als auf der Wolldecke in Gregors Studentenzimmer – es war dann eben entweder kalt und weniger gemütlich, oder sie mussten etwas dafür bezahlen.
Und auch, wenn Toni in dem Ganzen am Anfang noch ein bisschen Romantik finden konnte, war es doch alles andere als ideal und aus der Romantik wurde ziemlich schnell Ärger über sich selbst. Denn schließlich war er der Einzige, der an ihrer Situation etwas ändern konnte. Und die Blicke, die er hin und wieder von Gregor aufschnappte, wenn der dachte, er bekam es nicht mit, zeigte ihm, dass er auch ab und zu mal darüber nachdachte. Sagen tat er aber nie etwas, was Toni überraschte, denn vor sieben Jahren hatte Gregor sich mit seiner Meinung dazu schließlich nicht zurückgehalten. Aber dann fiel Toni ein, dass er ja auf dem Spielplatz geschworen hatte, mit dem zufrieden zu sein, was er ihm geben würde.
Natürlich dachte Toni trotzdem oft darüber nach, endlich den Sprung zu wagen; wenn schon nicht für sich selbst, dann wenigstens für Gregor, der eindeutig was Besseres als das verdiente. Aber selbst wenn er mit diesem Gedanken an die Sache heranging, machte es die Szenarien, die er sich ausmalte, nicht weniger beängstigend. Er wusste nicht, wie tolerant seine Freunde waren, denn das Thema war bei ihnen einfach nie zur Sprache gekommen, aber allein der Gedanke, dass einer von ihnen kein Verständnis haben würde, ließ Toni schon zurückschrecken. Er wollte einfach nicht, dass ihre kleine Gemeinschaft, die jetzt schon fast vier Jahre Bestand hatte, wegen ihm auseinander brach und er dann auf einmal Gegenstand von abfälligen Gesprächen und Blicken sein würde.
Und dann war da ja auch noch Anna, die Lydias Platz auch in dieser Thematik eins zu eins übernommen hatte. Denn genau wie damals bei Lydia fühlte Toni sich allein bei der Vorstellung, ihr, nachdem er jetzt drei Jahre mit ihr glückliches Pärchen gespielt hatte, dann zu sagen, dass er sie die ganze Zeit nur benutzt hatte, wie der mieseste Mensch auf der Welt. Und, wie so häufig, wurde ihm dann klar, dass er, bei allem, was er in den letzten Jahren mit den Leuten, die ihm nahestanden abgezogen hatte, es eigentlich gar nicht verdiente, glücklich zu sein. Und dass er das, was er jetzt mit Gregor hatte und das ihn trotz allem glücklich machte, umso mehr wertschätzen sollte.
Als Gregor dann im Rahmen seines Geschichtsstudiums anstatt einer Prüfung einen Vortrag halten musste, stand es für Toni natürlich außer Frage, dass er als moralische Unterstützung im Publikum sitzen würde. Und ebenso stand es für ihn außer Frage, dass er den schon Tage vorher ziemlich nervösen Gregor mit viel Sex und liebevollen Gesten ein wenig von seiner Nervosität ablenkte.
Der Vortrag war nicht nur für die Studenten aus Gregors Semester gedacht sondern es stand jedem, der interessiert war, frei, daran teilzunehmen. Toni war deshalb froh, dass er so früh da gewesen war, denn der Hörsaal füllte sich dann doch ziemlich schnell und ein paar Nachzügler mussten sogar noch stehen. Und wenn Toni sich so umsah, dann war er nicht der Einzige, der zur Unterstützung mitgekommen war.
Gregors Gruppe kam ziemlich zum Schluß dran und da Toni sich allgemein nicht wirklich für Geschichte interessierte, verbrachte er die meiste Zeit damit, mit seinem Handy herumzuspielen und den Vortragenden nur hin und wieder ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken.
Erst, als Gregor dann schließlich dran war, packte Toni das Handy weg und widmete sich ganz dem Vortrag auch, wenn ihn das Thema genau so wenig interessierte, wie die anderen. Aber hier ging es ja auch um Gregor, der seine Sache wirklich sehr gut machte. Von seiner Nervosität war nichts mehr zu sehen, außer, dass er die ganze Zeit mit dem Stift, den er in der Hand hielt, herumspielte. Aber ansonsten sprach er mit fester Stimme, ohne sich auch nur einmal zu verhaspeln oder seinen Einsatz zu verpassen.
Am Ende applaudierte dann das Publikum. Das hatte es bei den anderen Vorträgen zwar auch getan, aber da war Toni nicht so stolz gewesen, wie er es jetzt war.
Dadurch, dass er einen Platz ziemlich weit vorne hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis sich der Hörsaal soweit geleert hatte, dass auch er herauskam. Danach stand er einen Moment unschlüssig im Gedränge herum, weil er nicht wusste, ob er jetzt gehen oder auf Gregor warten sollte. Er hatte ganz vergessen ihn zu fragen, ob der Dozent direkt danach schon die Noten durchgehen würde oder ob die Sache damit erst einmal erledigt war. Deswegen schrieb er Gregor eine Nachricht und während er auf die Antwort wartete, spazierte er ein wenig zwischen den Menschen herum und sah sich die Bilder an, die verteilt an der Wand hingen und hauptsächlich das denkmalgeschützte Fakultätsgebäude aus verschiedenen Perspektiven und verschiedenen Jahrzehnten zeigten.
Dann hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Er drehte sich um und es dauerte einen Moment, bis er zwischen den immer noch sehr zahlreichen Menschen jemanden sah, der ihm zuwinkte und dann dauerte es noch einmal eine Sekunde, bis ihm einfiel, woher er die junge Frau kannte. Nämlich von der Party, die er damals zusammen mit Gregor besucht hatte. Und da damals alle eigentlich ziemlich nett gewesen waren und er noch keine Antwort auf seine Nachricht bekommen hatte, entschied er, dass es nicht schaden konnte, sich ein bisschen zu der Gruppe zu gesellen.
Die, die ihm zugewunken hatte und bei der Toni wieder einfiel, dass sie Melissa hieß, machte Platz, sodass Toni sich neben sie in den kleinen Kreis einfügen konnte, dann sagte er einmal ,Hallo' in die Runde und alle nickten ihm zu und erwiderten seine Gruß. Toni stellte fest, dass er außer Melissa keinen der anderen kannte was vermutlich bedeutete, dass sie auch Angehörige der Vortragenden waren.
Was Melissa ihm dann bestätigte, indem sie ihn anstrahlte und: "Du bist also auch hier, um deinen Schatz zu unterstützen?! Das ist ja echt süß von dir." sagte.
Tonis Herz setzte für einen Schlag aus und für einen kurzen Moment hoffte er, dass er sich grade verhört hatte. "Was meinst du bitte?" fragte er und hoffte, dass seine Stimme sich nicht so zittrig anhörte, wie er sich grade fühlte.
Melissa runzelte verwirrt die Stirn. "Na, ich red von Gregor. Bist du nicht wegen ihm hier? Ich dachte, ihr beiden seid zusammen."
Toni hatte das Gefühl, dass ihn inzwischen alle anstarrten und sich ihre Blicke praktisch in seinen Körper bohrten. "Nein, wie kommst du denn darauf?" beeilte er sich zu sagen und lachte einmal, aber dieses Lachen hörte sich für die anderen bestimmt genau so hilflos an, wie für ihn selbst.
"Ach krass," meinte Melissa. "So, wie ihr auf der Party letztens miteinander umgegangen seid und wie ihr euch angesehen habt, hätte ich schwören können, dass ihr zusammen seid."
"Nein, nein," erwiderte Toni noch einmal und er hatte das Bedürfnis noch irgendetwas anderes dazu zu sagen, um Melissa auch wirklich von ihrem Verdacht abzulenken, aber in diesem Moment tauchte Gregor auf und gesellte sich auf ihren Zuruf hin zu ihnen.
"Hey hey!" rief Melissa fröhlich und umarmte Gregor einmal fest. "Das war ja echt n super Vortrag. Ich glaub, eure Gruppe war von allen die Beste."
"Ach nein, die anderen haben ihre Sache auch alle richtig gut gemacht," wehrte Gregor bescheiden ab, während er Tonis Blick suchte, der demonstrativ wegsah.
"Habt ihr jetzt schon eure Noten?" wollte Melissa wissen. "Du hast doch bestimmt die volle Punktzahl bekommen, was?!"
"Noch keine Noten, die gibt es erst in der nächsten Vorlesung," antwortete Gregor. "Wir hatten grade nur ein kurzes Reflexionsgespräch. Aber natürlich muss der Prof erst noch intensiv über die Noten nachdenken." Er schnitt eine Grimasse.
"Ach ja, sowas ist immer ätzend," erwiderte Melissa mitfühlend und streichelte seinen Arm. Dann schwang ihre Stimmung aber schnell wieder um und sie lachte einmal. "Nach der Party letztens hatte ich echt gedacht, dass du mit Toni zusammen bist, aber er hat mir grad gesagt, dass das gar nicht stimmt. Ich glaub, mein Instinkt was das angeht ist total kaputt. Und dabei lag ich letztens bei Meike und Thomas noch total richtig. Ich wusste doch gleich, dass die total scharf aufeinander sind."
Während Melissa redete, behielt Toni Gregor die ganze Zeit im Auge, aber der ließ sich von ihren Worten nicht überrumpeln. "Ja, ich muss dir leider ganz ehrlich sagen, dein Instinkt ist da wirklich kaputt," erwiderte er und grinste Melissa an. "Toni und ich kennen uns nur schon ewig und ich war damals echt noch n bisschen fertig wegen Xenia."
"Ach so," erwiderte Melissa und dann war das Thema für sie erledigt und sie fing an, über irgendetwas anderes zu reden, von dem Toni aber erst mal nichts mitbekam, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, seine Erleichterung zu verbergen. Und um gleichzeitig schockiert darüber zu sein, dass er erleichtert war. Denn eigentlich hatte er nie daran gezweifelt, dass Gregor ihn niemals verraten würde. Aber da er jetzt erleichtert war, zeigte ihm, dass es da doch einen kleinen Teil in ihm gab, der damit gerechnet hatte. Und das war keine besonder schöne Erkenntnis.
Nachdem ihre Gruppe schließlich vollständig war, weil auch die anderen Vortragenden noch zu ihnen gestoßen waren, gingen sie noch in eine Bar in der Nähe, um den Erfolg zu feiern. Und während Gregor wirklich feierte und sich angeregt unterhielt, stand Toni mit seinem Bier in einer ruhigen Ecke und fühlte sich einfach nur schlecht.
Und nicht nur, weil er vorhin erleichtert gewesen war, sondern weil er wieder einmal die Chance verpasst hatte vor Leuten, mit denen er so eigentlich nichts näher zu tun hatte und deren Meinung ihm eigentlich egal sein konnte, einfach zu sich selbst zu stehen, den Arm um Gregor zu legen, ihn zu küssen und ihm zu sagen, wie stolz er auf ihn war. Das wäre vielleicht der erste Schritt gewesen, aber wieder einmal war er nicht in der Lage gewesen, ihn zu gehen.
Und als Gregor und er dann zurück zum Studentenwohnheim liefen, weil der letzte Bus schon lange weg war, und sie den ganzen Weg über schwiegen, da wusste Toni, dass dieser Vorfall auch an Gregor nicht spurlos vorbeigegangen war. Sie schwiegen zwar sonst auch sehr viel zusammen, aber dieses Schweigen jetzt fühlte sich anders an.