Komm folge mir ins weiße Licht
Ein Sprung, unendlich
Du und ich
Ein Sprung, und endlich,
Du und ich
Komm folge mir ins weite Nichts
Lass mich nicht hängen
Lass mich nicht hängen
Mit dem Hals in der Leine
Lass mich nicht hängen - nicht alleine
Sie sitzt in ihrem Zimmer und raucht eine Zigarette. Reibt sich den Nacken zum gefühlten hundertsten Mal. Ihr ganzer Rücken fühlt sich an, als wäre sie unter den Bus geraten.
Sie muss an Luise, ihre Mitbewohnerin, denken. Du wirst langsam alt, Nori., würde diese fies grinsend sagen und sich gleich anschließend ducken, um keine zu kassieren.
Aber Luie ist nicht da. Gleich gestern, zu Beginn der Semesterferien, hat sie ein paar Sachen gepackt und ist zu ihrer Familie nach Wels gefahren.
Nora Jung bläst den Rauch aus ihren Lungen zum kleinen Fenster hinaus in die kalte Wiener Luft und denkt an die vergangene Woche.
Fünf Prüfungen innerhalb von fünf Tagen! Und dazu eine ganze Palette Energydrinks, von der sie sich vorgenommen hatte, das ganze nächste Semester zu zehren. Selbst Luie hatte sich diesmal nur zwei davon gemopst. Dann ungefähr ein Dutzend Käsetoasts und vier oder fünf Pizzen Marke clever. Wie clever das wirklich war, ist fraglich. Hauptsache billig und schnell.
Teuer genug ist ihr immerhin schon die ganze Stange Marlboro Gold gekommen, die sie während des Stress sicherlich verraucht hat.
Was sie jetzt nicht alles geben würde für echtes Essen - ein Stück selbstgemachte Quiche von ihrer Mutter vielleicht. Im Endeffekt weiß Nora aber wirklich, was sie nicht dafür geben würde:
Anders als Luie, die bei jeder Gelegenheit in den Zug springt, um Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, bleibt Nora gerne auch in der vorlesungsfreien Zeit in Wien. Zwar liebt sie ihre Eltern und Geschwister, aber mal ganz ehrlich: die Zugverbindung zu dem kleinen Kaff im Nirgendwo in Salzburg ist beschissen, und Nora hasst es ohnehin, mit dem Zug zu fahren - sogar dann, wenn es sich um eine schnellere Verbindung, wie einen Railjet oder die Westbahn, handelt. Und Zuhause zu sein, ist ebenfalls nicht sehr viel besser, als mit dem Zug zu fahren. Das Nichts weit und breit macht sie ganz verrückt. Nichts zu tun, nichts zu sehn, allein mit sich selbst und ihren Gedanken. Und alten Gespenstern.
Aber daran will sie jetzt wirklich nicht denken.
Es ist drei Uhr nachts, sie hat die halbe Nacht mit ihren Leuten das Ende des Semesters begossen, und jetzt sitzt sie da. Sie hasst diese Momente nach dem Ausgehen, wenn alles still ist.
Der starke Kontrast zwischen von lauter Musik eingehülltem Stimmengewirr und der stillen Wohnung, macht sie krank.
In diesen Momenten fühlt sich die leere, doch eigentlich recht kleine Wohnung an, wie ein viel zu großer, kalter Sarg.
Nora hat alle Türen geschlossen. Wenn Luie nicht da ist, kann sie offene Türen nicht ertragen. Es macht alles so viel größer, stiller und beängstigender, wenn die Türen offen sind.
Oft macht Nora nachts noch zwei, drei mal Streifzüge durch die dunkle, leere Wohnung, versichert sich, dass alle Türen geschlossen sind, und sperrt dann ihre eigene Zimmertür ab, bevor sie schließlich schlafen kann.
Jetzt sitzt sie da, kaum müde. Raucht eine Zigarette nach der anderen. Die Stille ist nach dieser mit Lernstress vollgepackten Woche nun noch erschlagender als sonst.
Selbst die leise Musik, die aus ihrem Laptop dringt, hilft ihr wenig weiter.
Normalerweise ist drei auch gar keine vernünftige Schlafenszeit für sie. Sie hätte auch bis fünf durchgetanzt, wäre da nicht ihr verdammter Rücken. Sind Rückenschmerzen nicht eher was für alte Leute?, denkt sich die 20-jährige genervt. Aber gut, ihre Haltung ist eben nie die beste gewesen.
Draußen weht starker Wind, typisch für Wien. Nora genießt die kalte Brise, die ihr die langen, dicken schwarzen Locken zerwühlt. Sie mag ihre Locken am liebsten zerwühlt - zu ihrem Glück, denn ordentliche Locken sind wahrscheinlich ein Ding der Unmöglichkeit.
Nora ist eine der Frauen, die sehr an ihren langen Haaren hängen. Sie fühlt sich ansonsten nicht sonderlich weiblich oder reizvoll, hat sie nie. Sie hat keine Hüften aber breite Schultern. Manch anderen Frauen bleiben bei solchen Proportionen wenigstens zwei große Argumente, aber auch diese fallen bei ihr wortwörtlich flach.
Normalerweise hindert sie das kaum daran, ihr Leben in vollen Zügen zu genießen, aber als sie den heutigen Abend Revue passieren lässt, leckt sich ihr Ego wehleidig die frischen Wunden. Mehrmals ist sie heute recht taktlos auf ihr Erscheinen angesprochen worden. Dies reichte von harmlosen Äußerungen, wie "Bist du krank? Du siehst furchtbar aus!" bis hin zu seltsamem Geschwafel wie "Dein Schatten sieht so beängstigend aus! Wie der Schatten eines Gehängten." - Aber gut, Letzteres kam von Jan, und der raucht ziemlich viel.
Allerdings hat Nora das komische Gefühl, als ob sie heute gemieden worden ist. Normalerweise lernt sie immer neue Leute kennen, heute aber hatte sie selbst dabei Probleme, ihre eigenen Freunde in der Nähe zu halten.
Sie seufzt. Checkt noch einmal Facebook, Tumblr, Twitter, wird aber doch nur angeschwiegen. Als würden selbst die unglückseligen Internetsüchtler weltweit sie entschieden meiden.
In ihrer schlaflosen Einsamkeit wägelt sie noch kurz ab, ob sie sich auf Chatroulette einloggen soll. Aber sie hat keine Lust auf die vielen unerbetenen Pimmel, somit drückt sie ihre Zigarette aus und lässt es für heute sein.
Ihre Lider fühlen sich auch zum Glück schon langsam schwer an, und wohlige warme Müdigkeit ist gerade dabei, sich endlich in ihr breitzumachen.
Während ihr Computer herunterfährt, wirft sie einen Blick in den Spiegel, der ihr ein spärlich beleuchtetes Ebenbild präsentiert.
Die nervige Kleidung zu verlieren, war das Erste, was sie nach dem Nachhausekommen gemacht hat, und so sitzt ihr Spiegelbild ihr nun nur in Unterhosen gegenüber, während es halbherzig Grimassen schneidet. "Fickt euch, ich seh aus wie immer.", murmelt sie genervt.
Kurz bevor ihr Blick wieder zum Bildschirm ihres Laptops wandert, sticht ihr ihr Schatten ins Auge. Aber bevor sie richtig registriert, was ihr daran seltsam vorkommt, ist der Moment bereits wieder verstrichen.
Sie klappt den Laptop zu und schiebt ihn beiseite. Ihr Bett ist groß und sie ist viel zu müde, um ihn woanders hinzutragen.
Auch hätte sie hier in ihrem Zimmer kaum Platz dafür gehabt. Das einzig große an ihrem Zimmer, oder generell der Wohnung, ist die Höhe der Wände. Typisch Wiener Altbau.
Ihr Zimmer gleicht mehr einer Höhle. Ein 140er Bett passt gerade noch neben einen kleinen Lacktisch von IKEA. Am anderen Ende des Zimmers, dem Fußende des Bettes, steht ein alter Kleiderschrank mit großem Spiegel. Und da, links neben dem Fußende, ist die Tür. Obwohl das Zimmer recht spartanisch eingerichtet ist, sind die Wände liebevoll dekoriert: Fotos, Poster, und andere Erinnerungsstücke sind großzügig an der Wand verteilt.
Nora lässt sich aufs Bett fallen. Scheiß aufs Zähneputzen, denkt sie sich. Sie hat vorhin schon die dritte neurotische Runde gedreht und alles verriegelt, da steht sie nicht nochmal auf.
Jetzt wird sie wirklich müde. Sie wirft noch einen Blick auf ihr Handy. Checkt nochmal Facebook, Tumblr, Twitter... und macht das Licht aus.
Noch immer ist das Zimmer einigermaßen hell. Es ist nicht so, als könne Nora sich keine Vorhänge leisten. Sie will sich nur keine leisten. Immer gibt es irgendetwas, das dringender ist, als Vorhänge.
Außerdem mag Nora den Mix aus Licht und Dunkel. Zu viel Licht lässt nur alles weiß und leer wirken, zu viel Dunkelheit allerdings auch.
Die kleine Wohnung liegt direkt am Praterstern. Draußen ist immer etwas los. Immer schreit irgendein Betrunkener, immer ist es relativ hell. Nora mag diese kleinen Dinge, die die Stille und die Weite der Nacht unterbrechen.
"Wie der Schatten eines Gehängten.", hallt es in ihrem Kopf wieder.
Witzig. Nein, eigentlich gar nicht witzig. Wie viele Geheimnisse Menschen haben, und wie oft sie mit ahnungslos ausgesprochenen Worten an den Geheimnissen anderer vorbeischrammen.
Nora fragt sich, wie oft ihr das wohl unwissentlich passiert. Aber als ihre Gedanken beginnen wollen, sich zu sehr mit dieser Frage auseinanderzusetzen, schaltet sie lieber auf ein anderes Kopfkino um.
Sie denkt an Traumreisen und bestandene Prüfungen. Lässt den vergangenen Tag an ihrem inneren Auge vorbeiziehen.
Ein fernes Echo der Geräusche und Stimmen des Tages hallt in ihrem Hinterkopf wider und lullt sie langsam in eine schläfrige Trance.
Die Schatten, die sich an der Wand abzeichnen, sehen seltsam aus. Bevor sie ein altes Gefühl überkommt, sinkt sie schließlich in den Schlaf.
Sie träumt von verschobenen Prüfungen. Offenen Türen. Füßen die zappeln, zappeln, zappeln, und schließlich still sind.
Sie träumt von Zugreisen und den Landschaften ihrer Heimat. Von dickem Nebel, der bis in ihre Kehle dringt. Sie träumt vom Erstickungstod. Schwarzer Nebel. Weit und still. Das Herz, das ihr in der Kehle pocht. Alles wird schwarz, blau. Sie träumt vom Zählen. Vom Schmerz begleitete Zahlen, keine Luft zum Schreien.
Sie schreckt hoch, ihr Herz schlägt wie tausende kleine Herzen in jeder Faser ihres Körpers. Sie versucht, zu atmen, aber es ist, als hätte sie vergessen, wie. Ein brennender Schmerz legt sich auf ihren Oberkörper. Instinktiv will sie ihre Arme bewegen, aber diese sind starr, schwer.
Es ist, als würde etwas auf ihrer Brust lasten, messerscharf und unendlich schwer. Als würde es sie langsam erdrücken.
Ihre Augen reißt sie weit auf. Das Erste, das sie sieht, ist ein seltsamer Schatten in der Ecke bei der Tür. Als ein vorbeifahrendes Auto kurzfristig den Raum erhellt, weiß sie, dass es kein Schatten ist.
Da hängt er. In der Ecke, da hängt er.