Ich sehn mich nach dir, Asphalt
Du und ich, wir sind schmutzig und alt
Fang mich auf mit bestimmter Gewalt
Und entstell meine müde Gestalt
Du liegst unter mir, so grau und kalt
Bald bist du mit Blut und Sünde bemalt
Da hängt er. In der Ecke, da hängt er.
Seine leblos-starre Gestalt bildet einen makaberen Kontrast zum durch die Dunkelheit leuchtenden Weiß des Hintergrunds und ruft alte Bilder hervor. Nora erstickt fast an dem Schrei, der ihr in der Kehle stecken bleibt und in einer Art trockenem Gurgeln abstirbt, bevor er aus ihrem Mund entflieht.
Reflexartig setzt sie sich auf und bemerkt dadurch, dass sie die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangt hat. Trotzdem ist sie für einen langen Moment einfach starr, überfordert. Was macht sie jetzt? Ist er wirklich echt?
Das Licht von draußen ist wieder abgeschwächt. Was ist, wenn sie sich irrt? Wenn es nur ein seltsamer Schatten ist, oder ein schlimmer Traum?
Sie ergreift ihr Handy und drückt es an ihre Brust, während sie sich langsam weiter aufrichtet.
Schließlich bringt sie ein heiseres "...Hallo?" hervor. Ihre klägliche Stimme durchschneidet die betäubende Stille wie ein scharfes, heißes Messer, das ihr ihre Wachheit erst wirklich bewusst macht. Ihr Herz trommelt so fest, dass sie glaubt, es versuche, der Dunkelheit ihrer Brust zu entfliehen.
Sie bereut sofort, die Stille durchbrochen zu haben, und horcht nun ängstlich in das Dunkel hinein. Doch der Gehängte reagiert nicht.
Sie muss sich irren, das kann nicht real sein. Sie versucht vergeblich, aufzuwachen, aber es funktioniert nicht.
Eine lange Weile sitzt Nora da, in die Ecke gekauert. Durch die Türe kann sie nicht, schließlich hängt er da. Durch das Fenster kann sie auch nicht, denn sie wohnt im dritten Stock.
Irgendetwas muss sie aber tun. "...Michael?" krächzt sie in die Nacht hinein.
Nichts.
Dann fällt ihre Aufmerksamkeit auf die noch immer scharfen Schmerzen, die sich über ihren Bauch ziehen. Als sie an sich herabsieht, entdeckt sie die Narben.
Mehrere kurze, tiefe, horizontale Kratzer sind zwischen dem Ansatz ihrer Brüste und ihrem Bauchnabel verteilt.
Raus. Sie muss raus.
Vorsichtig steigt sie aus ihrem Bett. Sie erschaudert, als ihre nackten Füße den eiskalten Boden berühren. Ihr Herz quält sie weiter mit schmerzhaftem, heftigem Pochen. Sie versucht langsam und leise Luft zu holen, und doch dröhnt jeder Atemzug in ihren Ohren.
Sie muss dicht an ihm vorbei, wenn sie zur Tür raus will.
Und das muss sie wohl oder übel. Sie kommt der Tür und dem Gehängten näher, Ihre zittrigen Finger berühren die Klinke, den Arm hält sie weit ausgestreckt.
Als sie die Tür einen Spalt aufbekommt, streift eine kalte, steife Hand ihre nackte Schulter, und sie schlüpft blitzschnell durch den offenen Spalt. Schnell schließt sie die Tür hinter sich.
Sie atmet tief durch, laut und fast schluchzend vor Schreck, und zittert wie Espenlaub. Plötzlich hört sie erschütternden Lärm aus ihrem Zimmer. Es klingt, als würde jemand wild, mit dem ganzen Körper und ganzer Kraft gegen die Tür trommeln.
Sie läuft. Packt sich ihre Schlüssel, ihre Sneaker, einen Wintermantel vom Kleiderständer, wirft die Tür hinter sich zu und läuft.
Sie hetzt so schnell sie kann das Treppenhaus hinunter, während sie sich den Mantel überwirft, hinaus in die kalte Nachtluft.
Ihr erstes Ziel ist es, unter Menschen zu sein. In schnellem Gang und noch barfuß macht sie sich auf in Richtung der Ubahnstation des Pratersterns.
Der Boden ist schmutzig, eiskalt und voller Streusalz, das sich schmerzhaft in ihre Fußsohlen bohrt - doch sie registriert es kaum. Sie läuft einfach nur. Erst, als sie an einer größeren Kreuzung angelangt ist, macht sie kurz Halt, um sich endlich ihre Schuhe anzuziehen.
Dann macht sie sich in langsamerem Gang auf den Weg zur Station. Immer wieder dreht sie sich jedoch um, denn sie fühlt sich beobachtet. Kalte Schauer überkommen sie wie heftige Flutwellen. Auch ihr Rücken schmerzt noch immer, und die Wunden an ihrem Bauch machen sich durch schmerzhaftes Ziehen bemerkbar - und ihr schreckliche Angst.
Auf der Straße sind nur Betrunkene unterwegs. Einer wankt gerade aus einem Wettcafé und übergibt sich, während er Nora direkt in die Augen sieht. Das ist nicht wirklich ein ungewöhnlicher Anblick in diesem Bereich der Stadt. Die Betrunkenen erinnern sie immer an diese Zombie-Fernsehserie aus den USA. Oft wundert sie sich, warum bei diesem Zombiehype in letzter Zeit noch kein Betrunkener versehentlich von einem dieser Nerds geköpft wurde.
Ohne dem Kerl große Beachtung zu schenken, geht sie weiter und zieht dabei den Mantel enger um sich.
Der Mantel gehört Luie. Er duftet auch nach ihr, was Nora etwas beruhigt. Luie ist größer und auch fülliger als Nora, sodass sich der Mantel anfühlt, wie ein übergroßes, wohliges zweites Zuhause - das sie gerade dringend braucht.
Sie denkt einen Moment über die Möglichkeit nach, Luie anzurufen. Aber was würde das nützen? Luie ist weit weg in Wels, und auch wenn sie es nicht wäre - sie könnte ihr kaum helfen. Natürlich hat sie noch andere Freunde, aber einige davon sind gerade gestern Nachmittag nach Prag aufgebrochen, um dort das Wochenende durchzufeiern. Jedoch braucht sie unbedingt einen Unterschlupf.
Sie überlegt ein bisschen hin und her, und kommt schließlich auf drei Leute: Da wäre Flo, der in einem Studentenheim in der Nähe vom Campus wohnt, und in dieser Nacht noch mit ihr unterwegs war. Oder Anna, die im 5. Bezirk wohnt, so gut wie nie feiern geht und vielleicht noch nicht über die Ferien zurück nach Deutschland gegangen ist. Oder Nici, die zwar verlässlich ist, allerdings aber wirklich weit außerhalb wohnt.
Am Klügsten ist es wohl, bei Flo Unterschlupf zu suchen, da im Studentenheim sehr viele Leute sind und Nora sich so am Sichersten fühlen würde. Also sucht sie seinen Kontakt auf ihrem Handy und tippt mit dem Daumen auf den kleinen, grünen Hörer.
Das Tuten ertönt einige Male, und Nora ahnt, dass das wohl nichts mehr wird. "Der gewünschte Teilnehmer-" "Fuck.", flucht sie und drückt die kühle weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung weg.
Vielleicht ist Anna eh die klügere Wahl, denkt Nora. Immerhin ist sie sehr bodenständig und verlässlich. Also ist sie die nächste Kandidatin.
Während Nora weiter in Richtung Praterstern-Station geht, wählt sie Annas Nummer. Der Ton erklingt einmal, zweimal, und dann vermittelt ihr ein Rauschen am anderen Ende der Leitung, dass sie verbunden ist. Sie wartet, bis Annas Stimme erklingt, aber nichts passiert. Nur ein Rauschen und fernes Murmeln. Hat Anna abgehoben, ohne es zu bemerken? "Hallo? Anna?", ruft sie in ihr Handy hinein. Keine Antwort. Nur das leise, unheimliches Murmeln, das sie immer mehr verunsichert. "Hallo?", ruft sie erneut, nervös.
Dann - es ist nur ein leises Hauchen ihres Namens, aber sie ist sich ganz sicher - hört sie seine Stimme. Sie legt auf.
Ihr Herz, das sich gerade erst gesammelt hatte, klopft nun wieder wie verrückt. Fast meint sie, umzufallen. Doch jetzt, wo sie aufgelegt hat, ist sie sich nicht mehr sicher. War es wirklich seine Stimme? Vielleicht hat sie zu voreilig aufgelegt.
Jetzt braucht sie erst recht jemanden an ihrer Seite und wählt Nicis Nummer - vielleicht beruhigt es sie, ihre Stimme zu hören. Das Tuten erklingt wieder einige Male, dann kann sie wieder dasselbe Rauschen wie vorhin hören, und dasselbe Murmeln im Hintergrund.
"Fuck.", murmelt Nora. "Nici?", ihre Stimme trägt keine Hoffnung in sich, doch einen Versuch ist es wert.
Wieder hört sie Murmeln, Hauchen... und sie weiß es einfach. Sie weiß, dass er es ist. Sie legt auf.
Verzweifelt schiebt sie ihr Handy in ihre Manteltasche und eilt weiter. Natürlich könnte sie die Polizei anrufen, aber ein düsteres Gefühl in ihrer Magengrube sagt ihr, dass auch das nichts bringen würde. Sie erinnert sich an die kalte Berührung auf ihrer Schulter und möchte sich die Haut vom Leib ziehen.
Schließlich läuft sie über den großen Platz Richtung Ubahnstation. Es ist 4:35 Uhr. In der Manteltasche findet sie eine 1€-Münze und ein paar Kupfermünzen. Sie weiß, dass um 6 Uhr morgens der McDonalds in der Station öffnet, also beschließt sie, zu warten, und dann dort Unterschlupf zu suchen.
Normalerweise würde sie nicht gerne um diese Uhrzeit alleine hier herumhängen, denn es sind viele unberechenbare Leute unterwegs. Doch alles ist ihr lieber, als wieder in der Wohnung zu sein. Und außerdem scheint sie keiner so richtig zu beachten. Sie setzt sich auf einen der harten ungemütlichen Sessel neben der Straßenbahnhaltestelle.
Michael... ist er etwa gestorben? Nach all dieser Zeit?
Alte, rauhe Hände streichen über die Haut des Mädchens, das gerade erst dem Kindesalter entschlüpft ist, aber noch weit entfernt davon, eine erwachsene Frau zu sein. Sie kann nicht behaupten, dass diese Berührungen Gefallen in ihr auslösen. Immer, wenn er sie berührt, ist es so, als höre sie etwas in ihrem Inneren schreien. Doch sie ignoriert es, denn er ist wie eine Droge. Wenn sie durch seine Augen so begehrend und bewundernd betrachtet wird, lebt alles in ihr auf. Sie fühlt sich reif, und erwachsen.
Würden die anderen in ihrem Alter das wissen, würden sie sich das Maul zerreißen - doch sie haben eben keine Ahnung, wie es ist, sich so zu fühlen. Sie würden nicht verstehen, genau wie sie den ganzen Rest an ihr nie verstanden haben. Genauso, wie keiner ihn versteht. Er muss für sie geschaffen sein.
Mit einem Schmunzeln flüstert er ihren Namen, und sie lächelt zufrieden. Er ist verrückt nach ihr. Er ist so erwachsen und intelligent, und so faszinierend wie er ist, ist er verrückt nach ihr. Sie ist gerne bereit, sich ihm hinzugeben, denn er als einziger versteht.
Hingerissen betrachtet er das Mädchen, doch in seinen Augen liegt ein tiefer Schmerz, der sie mitten ins Herz trifft. "Du siehst so traurig aus.", flüstert sie, ihre Stimme noch kratzig von der Wiederinbetriebnahme nach einer langen Nacht. Er seufzt.
"Ich werde dich niemals gehen lassen.", flüstert er dann zärtlich. Ihr Herz hüpft. Sie hört das gerne, möchte ihm dann sagen, dass er das nicht muss. Doch dann runzelt sie die Stirn: Die Trauer breitet sich in seinem Gesicht aus, wie der Blutfleck einer Schusswunde auf einem weißen Hemd.
"Michael?"
"Würdest du mit mir gehen, egal wohin ich dich führe?"
Was für eine seltsame Frage.
"Ja..."