“Was haben wir denn hier?”, murmelte Oberkommissar Reinhard Gruber. Als hätte der alte Sack noch nie zuvor einen Koffer gesehen, obwohl er seit Jahren bei der Polizeistation des Frankfurter Flughafens arbeitete.
“Ein Koffer”, erwiderte Jenny also.
“Geht's genauer?”, stichelte ihr Chef. “Frau Kommissarin Stahl?”
Jenny biss die Zähne zusammen, klappte betont ruhig ihren Notizblock auf und berichtete: “Heute um 9:55 Uhr ging ein Anruf von Schalter der Deutschen Bahn ein, ein Fahrgast habe einen herrenlosen Koffer entdeckt. Diesen hier.”
Oberkommissar Gruber umrundete das Gepäckstück und brummte in seinen eigentlich grauen, aber vom Nikotin gelblichen Schnauzer.
Jenny hasste alles daran, aber sie zwang sich fortzufahren: “Ich war als erstes vor Ort. Es handelt sich um einen schwarzen Pilotenkoffer ohne erkennbare Identifikationsmerkmale. Kein Namensschild, keine Auffälligkeiten. Das Objekt wurde noch nicht berührt, demnach ist unklar, ob er verschlossen ist.”
Der Oberkommissar stierte sie an und Jenny bekam das ganz miese Gefühl, dass sie bei irgendeinem obskuren Test gerade durchgerasselt war.
"Worauf warten Sie, Fräulein?”, bewies ihr Chef das dann auch. “Aufmachen!”
“Äh “, begann Jenny. War der irre? Das war viel zu gefährlich!
“Das halte ich für keine gute Idee “, mischte sich Nils ein. Jenny arbeitete gern mit ihm, denn sie wusste, er fotografierte sorgsam und war bei der Spurensicherung und der Personensicherung vernünftig.
Nun lag Grubers entnervtes Starren auf ihm.
Jenny tauschte einen Blick mit Nils und er zwinkerte ihr unauffällig zu, dann wandte er sich ernst an den Oberkommissar: “Wir haben keine Ahnung, was sich in dem Koffer befindet. Ich habe das Bombenräumungskommando bereits her gebeten.”
“Gute Arbeit”, lobte der Oberkommissar und Jenny ballte die Hände zu Fäusten, dass selbst ihre kurzen Fingernägel in ihre Handflächen drückten. Sie hatte das Kommando angefordert, nicht Nils. Aber im Gegensatz zu ihr hatte Nils gewisse anatomische Ähnlichkeiten mit Gruber, die ihm scheinbar mehr Autorität verschafften.
Jenny hasste diesen alten Chauvinisten.
Aber Nils war zum Glück kein Stück so. Während Gruber auf wichtig tat und den Koffer betrachtete, trat sie zu Nils.
"Danke", flüsterte sie.
“Kein Ding”, brummte er und schoss noch ein Foto. “Ich find's nur scheiße, dass wir diese Scharade für den Spinner abziehen müssen. Du bist eine super Polizistin.”
“Eben “, murrte Jenny. “Das -in ist das Problem.”
Nils seufzte: “Ich weiß. Aber du bist gut, besser als der Waschlappen hier. Und ich sage das, obwohl ich keine Mädchen mag!”
Jenny lachte verhalten und Nils grinste, denn er versuchte stets, sie aufzumuntern. Besser darin war nur sein Mann.
Also warteten sie hier inmitten des Getümmels am Frankfurter Flughafen an einem Dienstag Morgen auf das Bombenräumungskommando.
Bis die Herren endlich ankamen, hatte sich schon eine Menge an Schaulustigen gebildet.
“Haben die keine Flüge zu erwischen?”, murrte Nils kopfschüttelnd, aber Jenny zuckte bloß die Schultern.
Sobald die Kollegen von der Bombenräumung die Freigabe erteilten, klatschte Jenny in die Hände und wandte sich an das Publikum: “The show is over! Nothing to see here!”
Natürlich musste der Oberkommissar das ganze auch noch nachdrücklich auf Deutsch wiederholen, obwohl die Menge gleich nach Jennys Worten begonnen hatte, sich aufzulösen.
“Ich erwarte Ihren Bericht alsbald”, sagte Gruber dann an Stelle von Abschiedsworten und rauschte davon. Vermutlich zur nächsten Raucherpause.
“Ich hasse diesen Typen”, murmelte Jenny. Da legte Nils einen Arm um sie: “Aber Mark und ich lieben dich, Süße.”
Wieder lachte sie, dann packten sie zusammen. Auch der Koffer wurde mitgenommen und im Labor nochmal von oben bis unten geprüft.
Das würde dauern, also nahm sich Jenny einen Kaffee und begann schon Mal, den Bericht vorzubereiten. Diese “was bisher geschah”-Version schickte sie ihrem Chef, dann kümmerte sie sich um anderen Papierkram, der liegen geblieben war. Erstens war es notwendig und zweitens musste sie Zeit totschlagen, bis Nils und sein Team bereit wären, das Ding wirklich zu öffnen.
Als sein Anruf nach der Mittagspause einging, fackelte Jenny nicht lange: “Ich bin gleich bei dir. Fangt ja nicht ohne mich an!”
Sie hörte ihn nur lachen, aber sie war schon auf dem Weg, noch bevor sie aufgelegt hatte.
Wenig später stand sie in seinem Labor, der schwarze Koffer auf der Arbeitsfläche.
“Habt ihr was gefunden?”, erkundigte sich Jenny.
“Dir auch einen wunderschönen Nachmittag”, ätzte Nils, aber sie verdrehte amüsiert die Augen.
“Hallo, herzallerliebster Herr Kleinert, würden Sie wohl so freu…”
"Jaja, schon gut!”, warf er die Hände hoch, lachte dann aber und winkte Jenny näher. “Bereit, die Geheimnisse des mysteriösen Koffers zu erkunden?”
“Mach schon”, brummte sie. Nils wackelte mit den Hüften, um sich theatralisch in eine stabile Position zu bringen, streckte die Arme aus und schüttelte seine Handgelenke zurecht. Gleich würde sie es selbst machen, Handschuhe hin oder her. Da legte Nils endlich seine Finger an die Schlösser und drückte zu.
“Abgeschlossen “, brummte er dann und sie beide ließen die Schultern enttäuscht hängen. “Wär ja auch zu schön gewesen.”
“verdammt”, fluchte Jenny. “Gruber wird mir so auf den Sack gehen deswegen.”
“Tut mir leid”, meinte Nils. “Aber ich werde das Ding sicher nicht aufbrechen. Und ich hab weder die Zeit noch das Personal, um an dem Zahlenschloss zu spielen.”
“Ich schon”, entschied Jenny kurzerhand.
Nils sah sie skeptisch an, die Augenbrauen quasi schon verschmolzen mit seinem braunen Haar. Sie sah ihn nur an, da schüttelte er den Kopf: “Echt jetzt?”
“Besser als Gruber im Nacken”, gab Jenny zurück. Nils wollte protestieren, dann nickte er: “Recht hast du. Viel Spaß.”
Jenny schnaubte, denn den würde sie nicht haben. Aber fast alles war besser als Grubers Ungeduld.
Also macht sie sich ans Werk. Sechs Räder, jeweils 10 Ziffern.
Nils war bereits an seinem PC, da wandte er sich nochmal an sie: “Weißt du, wie viele Kombinationsmöglichkeiten es bei solchen Schlössern gibt?”
“Nein!”, sagte Jenny entschieden. “Und ich will es auch gar nicht so genau wissen.”
Nils lachte, während sie sechsmal die Null einstellte. Systematisch vorgehen und so.
“Kommst du?”, riss eine Frage sie aus der Konzentration. Jenny blinzelte mehrmals, weil ihre Augen nicht auf Nils fokussieren wollten.
“Wo gehst du hin?”, fragte sie, da er sich gerade seine Jacke überstreifte.
“Heim zu Mark”, antwortete er und nickte zum Fenster. “Habe längst Feierabend. Und du auch.”
Tatsächlich, es war dunkel. Jenny brauchte ein paar Sekunden, um diese Information zu verarbeiten, dann schüttelte sie trotzdem nur den Kopf. Nils seufzte: “Du willst bleiben und Panzerknacker spielen.”
“Warum redest du wie eine genervte Mutter mit ihrem Kleinkind?” gab Jenny zurück.
“Weil ich mich so fühle”, sagte Nils und trat um den Tisch herum zu ihr. “Du musst auch Mal raus, was anderes tun als arbeiten. So gehst du vor die Hunde, Süße. Und denk dran, wir leben dich.”
Sie lächelte und suchte Worte.
"Lass stecken”, schmunzelte Nils. "Versprich mir nur zwei Dinge: stell dir einen Alarm für 23 Uhr, damit du dann gehst und dir ein Taxi heim nimmst. Auf meine Kosten.”
“Das sind drei Dinge”, zog Jenny ihn auf.
“Das war alles der erste Punkt”, sagte Nils streng. “Punkt zwei: mach das Ding nicht auf. Selbst wenn du die Kombination knackst. Öffne den Koffer nicht allein.”
Nils betrachtete sie eindringlich: "Versprich es mir.”
Jenny blinzelte überrascht, denn nicht genug damit, dass es ihm ernst war, damit hatte sie gerechnet. Nein, er wirkte besorgt.
“Was ist los?”, fragte sie. Nils zögerte, dann fuhr er sich durch die unordentlichen Haare, zerwühlte seinen ohnehin schon messy Dutt zu noch messier.
“Ich weiß es nicht”, gab er leise zu und linste zu dem Koffer. "Aber dieses Ding gefällt mir nicht.”
Mehr sagte er nicht dazu, sondern ging.
Jenny konzentrierte sich bereits wieder auf die nächste Zahlenkombination, da bat Nils von der Tür her: “Pass auf dich auf.”
Damit war er verschwunden, aber Jenny hörte das Klicken der Tür gar nicht mehr.
So verbrachte sie mehrere Stunden damit, immer mühselig ein Rädchen weiter zu drehen, die Tasten zu drücken…und zu grummeln, weil der Koffer noch immer verschlossen war.
Klick, klack, grummel.
Immer und immer wieder.
Bis ein neues Geräusch dazu kam, das Jenny erst verspätet einordnen konnte. Ihr Handy Alarm.
“Huch, schon elf?”, murmelte sie und rieb sich die Augen, um die Uhr lesen zu können. Tatsächlich.
“Eine noch”, murmelte sie. Ja, es verstieß gegen das Versprechen, das sie Nils gegeben hatte.
“Aber das Taxi ist ja auch nicht gleich da”, redete sie sich heraus. Also rief sie ein Taxi und drehte noch ein letztes Mal an dem Rädchen.
Das Schloss gab nach.
“Was?”, stammelte Jenny, völlig überrumpelt. “Hä?”
Sie wusste gar nicht, was sie tun sollte.
“Nicht öffnen”, wiederholte sie Nils Worte. Also nahm sie ihr Handy, um die richtige Kombination zu notieren, aber zuvor wollte sie den Koffer wieder verschließen.
Als sie das Schloss berührte, sprang jedoch der Koffer auf.
“Unmöglich”, hauchte Jenny. Der Pilotenkoffer hatte zwei Klappen, zuerst musste die ohne den Griff angehoben werden, dann darunter die mit dem Griff. Er konnte nicht von allein aufgegangen sein.
Jenny schüttelte den Kopf und lugte hinein.
Es war das letzte, das sie jemals tat.
Als Nils Kleinert am nächsten Morgen das Labor aufsperrte, fiel ihm sein Schlüsselbund aus der Hand. Sein Handy ebenso.
Er schaffte es gerade so, zur Rezeption hinter sich zu krächzen: “Hilfe!”
Aber für Kommissarin Jennifer Stahl kam jede Hilfe zu spät.
Der Koffer vor ihr stand offen und war vollkommen leer, ebenso wie der Blick aus ihren Augen. Sie war tot, der Todeszeitpunkt gegen 23 Uhr letzter Nacht.
Die Todesursache wurde nie gefunden.