Ich sitze auf dem Bett, in meinem Schlafanzug mit dem Leopardenmuster und den Socken mit dem Giraffenmuster und wünsche mir mal wieder ein dickeres Fell. Ich esse ein Gummibärchen und es schmeckt tröstlich, weil du mir die Tüte geschenkt hast. Über meiner Heizung hängen Kuschelsocken zum Trocknen und durch das gekippte Fenster weht der Nachtwind herein. Ich friere. Aber ich will das Fenster nicht schließen, weil irgendwo in diesem Luftzug von der Straße, vielleicht noch ein Hauch vom Duft des Waldes hängt. Weil ich hoffe, dass im Atem der Brise, neben dem grauen Geruch der Stadt auch eine kleine Erinnerung an die Freiheit verborgen liegt, die man nur zwischen hohen Bäumen findet, auf grünen, ewig weiten Wiesen und auf dem Gipfel kleiner Hügel und großer Berge.
Eine Straßenbahn rattert vorüber. Ihr Rauschen erzählt von dem immer gleichen Weg durch diesselben Straßen. Vorbei an farblosen Häusern und über Straßen, die breiter sind, als viele Flüsse. Diese Stadt hat keinen Fluss. Sie hat auch keinen richtigen Wald. Nur eine Ansammlung sterbender Bäume. Und das verwundert mich nicht, denn die Bäume sind eingesperrt. Von allen Seiten umgeben von Beton. Das schnürt ihnen den Atem ab. Sie ersticken nur langsamer als Menschen. Und auch ich habe das Gefühl, langsam erdrückt zu werden, von den vielen Mauern und langsam zu ertrinken, zwischen all den Menschen, von denen ich keine beim Namen kenne. Anfangs genoss ich die Anonymität, aber jetzt? Jetzt würde ich gerne einfach aus dem Fenster klettern und auf dem Wind reiten, weit hinaus, über Wiesen, die wogen wie Meere, über Wälder die rauschen wie Wellen. Ich würde mich zu den Bergen tragen lassen und ans Meer. Dorthin, wo keine Menschen sind, so dass mir gar nicht auffällt, wie fremd sie mir sind. Und dann würde ich einatmen, ganz tief - und tief in meiner Lunge würde der Duft nach Freiheit Wurzeln schlagen. Ich könnte einschlafen, zu dem Geräusch von Regentropfen auf einem Blätterdach, oder dem Duft nach Gänseblümchen. Und wenn ich dann zurückkehren würde, dann wäre die Sehnsucht in mir satt und gefüttert. Die Schlinge um meinen Hals hätte sich gelockert. Ich könnte es ertragen, Menschen auf der Straße zu begegnen und sie nicht zu grüßen - weil hier viel zu viele Menschen wohnen, um jedem einzelnen "Hallo" zu sagen. Und weil man das in Städten nuneinmal einfach nicht macht. Ich würde die Straßenbahn hören und in Gedanken immer wieder das Rauschen eines Wasserfalls darüberlegen. Wenn ich aus dem Fenster sähe, dann würde ich mir selbst Sterne an den Himmel malen, denn für Sterne ist es hier zu hell. Und jeden Abend würde ich dem Wind lauschen, der mir von Freiheit erzählt, von Meeren und Steppen, von Wüsten und Eis. Von den Wundern der Welt, die ich alle noch sehen will.
Aber ich kann nicht auf dem Wind reiten. Also bleibe ich hier. Das, was einer Steppe am nächsten kommt, sind die Muster auf meinen Kleidern. Das Rauschen der Straßenbahn klingt einfach nicht nach Wasserfällen und statt Regentropfen oder Vögeln höre ich nur Menschenstimmen von draußen hereinwehen.
Ich bleibe hier und esse noch ein Gummibärchen. Und es schmeckt nach Geborgenheit, wie sie nur ein dichter Wald vermittelt, ein sternenbedeckter Himmel, oder der Fuß einen hohen Hügels oder kleinen Berges. Ich kann nicht auf den Schwingen des Windes hören, aber zuhören kann ich ihm trotzdem. Und wenn ich morgen nach draußen gehe, dann werde ich alle Menschen grüßen, an denen ich vorbeikomme. Einfach aus Prinzip! Auch wenn es eine Weile dauern könnte.
Mir ist noch immer kalt. Ich stehe auf, schließe das Fenster und gehe Schlafen. Denn in meinen Träumen singt die Welt.