Lautstark fällt die Tür ins Schloss. Ängstlich fährt Roberto zusammen. Dann hört er das Schließen. Der Schlüssel dreht sich zweimal herum. Ein rabenschwarz wirkender Raum liegt vor ihm, er kann nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Bereits kurze Zeit später fröstelt es Roberto am ganzen Körper, denn die Zelle ist völlig ausgekühlt. Wahrscheinlich gibt es noch nicht einmal eine Heizung.
Roberto vernimmt ein Geräusch, es scheint jemand zu atmen. Es ist ein leises Schnorcheln, gelinde ausgedrückt, ein vorsichtiges Schnarchen. Behutsam tastet er sich vorwärts, beide Hände nach vorn gerichtet, nach Hindernissen suchend. Dennoch stoßen seine Schienbeine gegen etwas Hartes.
„Autsch!“, flucht er leise vor sich hin.
Er fasst sich an sein linkes Bein und spürt, dass er blutet. Erneut stolpert er. Ein undefinierbares Möbelstück bringt ihn zu Fall. Seine Hände liegen direkt auf einer Art Bett, aus dessen Richtung auch die Geräusche zu hören sind.
„Wer bist du? Verschwinde hier. Du hast hier nichts verloren!“, wird Roberto plötzlich angeschrien. „Ich mach dich fertig, du elender Spitzel“, fährt der Unbekannte fort.
Abermals erschrocken tritt Roberto einen Schritt zurück.
„Was willst du hier? Mich foltern? In der Nacht? Ich sag euch, ihr werdet das noch bereuen.“
Mehrmals versucht Roberto, einen Satz zu beginnen, er wird jedoch ständig von seinem unbekannten Zellengenossen unterbrochen und angeschrien. Schließlich gelingt es ihm doch.
„Ey, ich bin kein Spitzel. Ganz im Gegenteil. Jetzt hör endlich auf, mich anzuschreien, sonst lernst du mich wirklich noch von meiner unangenehmen Seite kennen. Du spinnst wohl.“
Schlagartig wird es still. Der Unbekannte knipst ein Feuerzeug an und leuchtet Roberto damit direkt ins Gesicht. Vom Licht geblendet, kneift der die Augen zu.
„Wer bist du? Sag’s mir!“, befiehlt sein Gegenüber.
„Ich bin Roberto. Roberto Trottoni!“, antwortet er. „Kannst du jetzt endlich dieses Feuerzeug ausmachen?“
Roberto sieht, wie die Flamme zurückweicht und sich sein Zellengenosse eine Zigarette ansteckt. Anschließend erlischt das Licht und man kann lediglich noch die rote Glut des Glimmstängels erkennen, wie sie abwechselnd aufleuchtet und wieder schwächer wird. Der Raum füllt sich mit Qualm.
„Kannst du mir auch eine geben? Und hast du auch einen Namen?“
„Erst erzählst du mir, weshalb du hier bist und wenn es auch nur die kleinste Ungereimtheit gibt, dann fliegen die Fetzen, klar? Das ist nämlich meine Zelle und ich stelle hier die Regeln auf!“
Nach Nikotin lechzend holt Roberto tief Luft.
*
Der Nationalfeiertag im August 2045. Ich wohnte zu der Zeit noch bei meinem Vater in Berlin. An diesen siebzehnten August kann ich mich noch erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Das war der Tag, an dem die Truppen von Jo Kahl ihren Umzug durch die Stadt starteten. Anfangs wusste ich überhaupt nicht, wie mir geschah, als ich morgens von dieser Lautstärke geweckt wurde. Obwohl mir bekannt war, wie gefährlich all das für mich sein konnte, wollte ich mir das Spektakel aus der Nähe ansehen. Mein Vater versuchte, mich zurückzuhalten, doch setzte mich durch, lief zur Tür hinaus und ging in Richtung Siegessäule, obwohl ich mich damit auf sehr dünnes Eis begab. Immerhin war ich als Nichtparteimitglied dort nicht erwünscht. Doch die Neugier war stärker als meine Bedenken. Von Weitem schaute ich zu, wie die Panzer Patrouille fuhren und die schwarzen Helme seiner Armee ihren Anhängern zuwinkten. Es war so abstoßend und widerlich, wie euphorisch diese armen Gestalten ihre Hände hin- und her bewegten. Fast so, als würden sie in Ekstase geraten, wenn sie der Armee begegneten. Ich hätte kotzen können. Kotzen! Außerdem war es so kalt. Kurz zuvor hatte es ja mitten im August einen heftigen Wintereinbruch gegeben, der das europäische Festland fast vor Kälte erstarren ließ. Fast zwanzig Grad unter null. Ich spürte meine Knochen kaum noch, mein Speichel erstarrte mir fast im Mund. Ich fror wie ein Schneider, dennoch blieb ich vor Ort. Boah, wie krank musste ich sein. Vielleich hätte ich doch auf meinen Vater hören sollen, aber nein, ich musste alles anders machen. Jo Kahl war in der Stadt und das wusste ich. Er wollte am ehemaligen Brandenburger Tor wieder eine seiner großen Reden halten. Das typische Propagandagelaber zum 20jährigen Bestehen seiner verfickten Republik. Nur ein einziges Mal wollte ich ihm in die Augen sehen und ihm zurufen, dass er nicht mehr für mich war als ein Wichser. Doch so weit kam es nicht.
*
Ein weiteres Mal zündet Robertos Zellengenosse eine Zigarette an. Dieses Mal raucht er sie jedoch nicht selbst, sondern reicht sie Roberto herüber.
„Ich bin Norman“, stellt sich der Unbekannte vor und lächelt leicht.
Eine Hand tippt Roberto auf die Schulter. Dann folgt ein Händedruck.
„Und wie weiter, Norman?“
„Norman Sörensen.“
Roberto zieht genüsslich an der Zigarette und atmet den Rauch tief ein – ganz so, als könnte diese seine letzte sein.
„Du kommst nicht aus Deutschland, oder?“
„Nicht doch, ich bin hier geboren und aufgewachsen, doch in der letzten Zeit war ich in Island.“
„Island?“
„Mein Vater hatte gute Kontakte, deshalb konnte ich dort eine gute Ausbildung in einem Forschungslabor beginnen. Und da er in der JND ist, durfte ich.“
„Aber du bist nicht …“
„Ich? Um keinen Preis der Welt würde ich mich diesen Irren anschließen. Jo Kahl und seine Truppe? Das geht gar nicht.“
*
Professor Philip von Heimfelds war mein Vorgesetzter, mein sogenannter Ausbilder. Er war ein Forscher, ein Physiker voller Weitsicht und Intelligenz, seine Augen schienen einen völlig zu durchbohren. Auch wenn man ihn nicht sah, spürte man seine Anwesenheit. Es war so, als hätte er eine Art Corona um sich getragen. Das war faszinierend, aber auch zugleich beängstigend. Er konnte einen in den Bann ziehen, fast so, als würde man sich in einer Abhängigkeit befinden. Respekt einflößend war er. Seine Art, einem etwas beizubringen, war außergewöhnlich gut. Man konnte seine Begeisterung für die Naturwissenschaften in jedem Wort erkennen. Er war ständig sehr um mich bemüht gewesen und hatte mir viel beigebracht.
*
„Ich muss pinkeln“, unterbricht Roberto den Redeschwall seines neuen Freundes.
Erneut flackert die Flamme des Feuerzeugs auf. Norman deutet damit auf die rechte Ecke der Zelle.
„Dort hinten ist ein Klo, aber sag mir jetzt mal, weshalb du hier bist. Mich würde schon interessieren, warum die uns zwei hier in eine Zelle packen. Was hast du ausgefressen?“
*
Mein Hass gegen das JND-Regime begann schon in früher Kindheit. Meine Mutter war an Krebs erkrankt, doch die Regierung verweigerte die Zusage für eine Behandlung. Sie ist elendig gestorben, nur weil sie keine Therapie bekommen durfte. Ich war zehn, als sie von uns ging. Der Tag ihrer Beerdigung war ein absoluter Albtraum. Sie wurde auf einem Friedhof für Nichtparteimitglieder in Zehlendorf beigesetzt. Anonym, denn Grabsteine waren für alle Leute, die nicht der JND angehörten, tabu. Noch nicht einmal das wurde uns gegönnt. Nur mein Vater und ich standen an ihrem Grab. Meine Großeltern durften nicht kommen, da allen Leuten aus dem Ausland die Einreise in den JND-Sektor verwehrt wurde.
Ich trug einen schwarzen Anzug, der mir viel zu groß war. Als der Sarg ins Grab gelassen wurde, musste ich mich übergeben. Auf meinem Hemd waren überall Flecken. Es gab keinen Pfarrer, keine Grabrede – nichts! Alles nicht erlaubt. Mein Vater nahm mich nicht ernst, als ich ihm sagte, dass ich mich irgendwann für diese Sache an der Regierung rächen würde.
„Du kannst sowieso nichts dagegen tun“, meinte er und winkte ab.
Anstatt zu kämpfen, nahm er alle Demütigungen einfach hin. Viel lieber zog er sich in sein Kämmerchen zurück und ließ sich weiter unterdrücken. Schon damals hielt ich meinen Vater für einen Feigling, man konnte alles mit ihm machen. Niemals hätte er sich zur Wehr gesetzt.
Doch ich wusste, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem ich diese Ungerechtigkeit würde vergelten können. Ich suchte förmlich danach und so geriet ich an eine geheime Opposition. Es war genau an diesem Tag, als Jo Kahl seine Rede halten wollte. Dieser siebzehnte August, an dem es so rattenkalt war. Ich stand mittags am Checkpoint Charlie. Eine Menge Angst stieg in mir hoch, meine Neugier und der Hass auf diesen Staat waren jedoch größer. Ich hielt mich immer ein wenig im Hintergrund auf, also nicht direkt in der Menge dieser bekloppten Anhänger. Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte.
*
„Möchtest du noch eine Zigarette?“
„Ja gern“, antwortet Roberto. „Ich könnte auch etwas zu essen vertragen.“
Norman beginnt laut zu lachen.
„Essen? Du bekommst hier allerhöchstens einmal am Tag was zu essen. So um die Mittagszeit kommen diese irren Typen hier vorbei und bringen ein oder zwei Scheiben Brot und Wasser. Aber ich habe etwas gebunkert. Das haben die nicht gepeilt.“
Roberto spürt, dass Norman ihm etwas in die Hand drückt. Er riecht dran. Es ist Käse.
„Darf ich wirklich?“
„Wenn nicht, hätte ich ihn dir nicht gegeben. Nun iss und erzähl weiter.“
*
Blass vor Schreck drehte ich mich um. Hinter mir stand ein kräftiger Mann, bestimmt über zwei Meter groß. Er sagte, dass es sehr gefährlich wäre, an einem solchen Tag als Nichtparteimitglied auf die Straße zu gehen. Das war mir schon klar, aber weshalb sprach er mich an? Voller Panik wollte ich wegrennen, doch er hielt mich am Arm fest. Dann rutschte ich auch noch auf einer überfrorenen Pfütze aus und zog mir eine Verletzung am rechten Bein zu.
„Hey, hey, hey, junger Mann, nicht so stürmisch“, rief er und half mir auf.
Als ich an mir herunterschaute und sah, dass meine Hose zerrissen war, wuchs in mir die Wut, ich versuchte aber, sie zu verbergen. Am liebsten hätte ich geschrien, denn die Wunde schmerzte extrem. Stattdessen klopfte ich mir nur den Schmutz ab und fragte, was er wollte.
„Das kann ich dir hier nicht erzählen. Komm mit, dann erklär ich es dir.“
Ich traute diesem Typen nicht, dennoch folgte ich ihm. Er ging mit mir durch ein paar schmale Gassen, in denen ich noch nie zuvor gewesen war. Dann kamen wir an ein Metalltor. Das öffnete er und führte mich in eine Wohnung, die eigentlich keine war. Sie glich eher einer Überwachungszentrale. Überall waren Kameras und Bildschirme, Computer, Drucker und Telefone. Er öffnete die Tür zu einem Zimmer, setzte sich an einen Schreibtisch und legte seine Füße darauf ab. Es roch ein wenig muffig dort, wovon mir völlig übel wurde. Neugierig schaute ich mich um. An den Wänden hingen Bilder von Menschen, die die neue schwarz-weiße Flagge mit dem JND-Logo verbrannten. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Was sollte ich dort?
„Kaffee?“
Ich nickte und hoffte dabei inständig, dass das Heißgetränk nicht so übel schmecken würde, wie es dort stank.
Bereits wenig später betrat eine Frau, die ebenso hochgewachsen war wie mein Gegenüber, das Zimmer und servierte mir das frische Gebräu. Milch und Zucker lagen neben der Tasse und einen Keks bekam ich auch dazu. All das erinnerte mich an die Straßencafés, die von Nichtparteimitgliedern nicht betreten werden durften.
Da mir noch immer sehr kalt war, nahm ich einen tiefen Schluck aus der Tasse. Entgegen meiner vorherigen Erwartung war die schwarze Brühe ein richtiger Genuss. Voller Erwartung saß ich dem Mann gegenüber. Er verlor jedoch kein Wort sondern musterte mich eindringlich. Sein Blick bohrte sich förmlich in meinen Körper. Erneut war mir mulmig zumute, meine Hand zitterte, als ich die Kaffeetasse zum Mund führte.
„Nun, du weißt, was heute für ein Tag ist?“, fragte er schließlich.
Nickend stellte ich die Tasse ab. Dabei verschüttete ich etwas Kaffee, was der Unbekannte jedoch ignorierte.
„Donnerstag?“, fragte ich vorsichtig.
„Heute ist nicht nur Donnerstag - heute ist der Nationalfeiertag dieses Regimes, der siebzehnte August. Das JND-Deutschland existiert heute auf den Tag genau zwanzig Jahre.“
Unruhig stimmte ich zu. Wann würde er endlich mit der Sprache rausrücken.
„Nun, ich möchte mich zunächst einmal vorstellen. Mein Name ist Artur Stegener und leite diese Organisation.“
Von alldem, was er mir erzählte, hatte ich keinen blassen Schimmer.
„Meine Jugend verbrachte ich in Freiheit“, fuhr er fort.
Meine Hände flatterten noch immer. Abermals betrat die hochgewachsene Frau den Raum. Sie fragte nach, ob sie Kaffee nachbringen sollte, doch Stegener winkte ab und sie verschwand sofort.
„Als die Verfassung der Bundesrepublik nach der Wahl im Jahre 2025 außer Kraft gesetzt wurde und Jo Kahl mit seinen vierzig Jahren die Macht übernahm, steckte ich mitten im Studium. Da ich jedoch für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben war, bekam ich von heute auf morgen ein absolutes Vorlesungsverbot. Man zwang mich förmlich, sämtliche Studiengänge abzubrechen.“
Noch immer nippte ich stumm und zitternd an meinem Kaffee. Der Schmerz an meinem Bein wurde stärker und eigentlich hatte ich keine Lust mehr, ihm zuzuhören. Dann aber sprang er auf und haute mit der Faust auf den Tisch. Ich zuckte regelrecht zusammen, so erschrocken war ich.
„Weißt du, was ich in dem Moment fühlte? Kannst du dir das vorstellen?“, schrie er.
Mit einem äußerst unguten Gefühl stimmte ich ihm zu.
„Ich hätte hier alles zerstören können, so viel Wut und Hass spürte ich. Dennoch behielt ich einen klaren Kopf und schloss mich der Partei an. Sehr schnell konnte ich mich nach vorn arbeiten, später war ich sogar ein hoch angesehener Assistent von Kahl.“
Das war der Moment, in dem ich gar nichts mehr verstand. Entgeistert sah ich Stegener an. Was nur wollte er mir sagen? Unterdessen konnte ich aus den Augenwinkeln sehen, dass es wieder zu schneien begonnen hatte.
„Das ist alles. Wenn du willst, kannst du gehen.“
„Ich verstehe nicht ganz“, antwortete ich. „Weshalb haben sie mich mit hierher genommen?“
„Du kommst nicht infrage. Zu ängstlich, zu zögerlich. Nein. Du bist nicht der Richtige. Schönen Tag noch.“
„Aber was soll ich denn tun?“
Er schwieg und widmete sich einigen Schriftstücken. Deshalb stand ich auf und ging zur Tür. Ich wollte sie gerade öffnen, als er mich zurückrief.
„Setz dich noch mal. Vielleicht bist du doch der richtige Mann für mich. Heute ist der siebzehnte August. Kahl ist in Berlin. Heute Abend wird er seine Staatsoper besuchen.“
„Ähm, ja - und was habe ich damit zu tun?“
„Nun, du wirst auch da sein. Wir haben bereits alles veranlasst. Keiner merkt irgendetwas. Zwischen dem dritten und dem vierten Akt wird er, wie er es üblicherweise zu tun pflegt, nach einer Zigarre verlangen. Diese wirst du ihm bringen. Mehr musst du nicht tun. Danach gehst du nach unten in den Personalraum, dort empfängt dich einer meiner Leute und bringt dich an einen sicheren Ort. Anschließend erhältst du weitere Informationen.“
*
Auf dem Flur zur Zelle sind Schritte zu hören. Sie kommen näher. Laut, polternd, bedrohlich, Angst einflößend. Dann geht die Tür auf, ein Mann leuchtet mit einer Taschenlampe hinein.
„Sörensen! Mitkommen!“
Der Typ packt Norman am Arm und schleift ihn hinaus. Dann verschließt er die Tür erneut. Wieder zweimal. Roberto hat mit den Tränen zu kämpfen. Zusammengekauert sitzt er in der Zellenecke, schließt die Augen und schläft ein. Als er wieder aufwacht, ist es bereits hell und Norman liegt, nur mit einer Unterhose bekleidet, auf seiner Pritsche. Sein gesamter Körper ist voller blauer Flecken.
„Norman?“, flüstert Roberto leise. „Was haben die mit dir angestellt?“
„Ich komm schon klar.“
„Wir können uns doch so etwas nicht bieten lassen.“
„Auch wenn sie mich totschlagen, sie werden nichts erfahren. Gar nichts.“
„Was erfahren sie nicht?“
„Wo ich es versteckt habe.“
„Versteckt?“
*
Es war ein Donnerstagabend, an dem ich es entdeckte. Ich traute meinen Augen kaum. Es war einfach genial. Der Professor hatte bereits das Labor verlassen und einige Unterlagen auf seinem Schreibtisch liegen lassen. Es war besonders, ein Durchbruch, ein physikalisches Phänomen. Anscheinend hatte er etwas Neues entdeckt, etwas Einzigartiges. Eine Kraft, die in der Lage war, Einfluss auf unser aller Leben zu nehmen. Es weckte die Neugier in mir. Ich las mir die Beschreibung seiner Versuchsreihe durch. Für mich klang das alles schier unmöglich. Ich war völlig verdutzt. Das konnte nicht funktionieren, dennoch kopierte ich die Seiten heimlich und nahm sie mit heim. Ich wollte alles ganz genau wissen. Was genau dahintersteckte, konnte ich ja nicht ahnen.
Es war der Nachweis über die Existenz von Subelitronen. Solche Teilchen konnte es einfach nicht geben. Winzige, energiegeladene Plättchen, die aus harmlosen Neu-tronen gewonnen werden konnten – das war nicht möglich. Meine Skepsis war groß. Es war für mich nichts anderes als eine Theorie, die er aufgestellt hatte und die sich wahrscheinlich niemals bewahrheiten würde. Doch ein Restzweifel blieb.
Von diesem Tag an beschäftigten mich diese Dinger mehr als alles andere. Es war so, als hätten sie sich in meinen Kopf eingebrannt. Je mehr ich mich darüber informierte, desto besser verstand ich. Der Professor hatte diese Teilchen entdeckt und nachgewiesen. Ihm war es geglückt, Subelitronen zu extrahieren und mit ihnen zu arbeiten. Langsam aber sicher begriff ich, was es damit auf sich hatte.
Anfangs fand ich es wunderbar, denn die Eigenschaft dieser Subelitronen würde darin liegen, physikalische Kräfte zu beeinflussen. Man wäre in der Lage, die Elektrizität umzukehren, den Magnetismus auszuschalten und die Optik zu verändern. Würde man auch nur ein Subelitron an einen Kern der menschlichen Zelle anhängen, könnte man diese kontrollieren und programmieren. Alles würde sich verändern, man wäre in der Lage, alles zu manipulieren, so wie man es wollte. Glauben konnte ich es jedoch nicht. Noch nicht.
*
„Ich verstehe noch immer nicht, was du versteckt hast?“
„Nicht so neugierig sein, mein Lieber, du wirst es schon früh genug erfahren. Jetzt würdest du es sowieso noch nicht verstehen.“
„Hältst du mich für dumm oder was?“
„Nee!“, antwortet Norman kopfschüttelnd. „Aber es gibt Dinge, die kann man nicht erklären, die muss man verstehen lernen.“
„Das kenn ich.“
„Ach ja?“
Roberto nickt. Norman reicht ihm unterdessen eine weitere Zigarette.
*
Ich wusste nicht, was dieser Stegener von mir wollte. Das war völliger Humbug für mich. Ein achtzehnjähriger Italiener, der nicht der JND angehörte, sollte dem mächtigsten Mann Europas eine Zigarre bringen. Ich fasste mir an den Kopf, fühlte mich völlig veräppelt. Rasch fragte ich nach einem weiteren Kaffee, der mir umgehend serviert wurde. Stegener bot mir sogar eine Zigarette an. Er beobachtete mich haargenau, fast so, als wollte er mich studieren. Das gab mir ein ungutes Gefühl, doch ich versuchte, dem zu trotzen und so zu tun, als würden mir seine Blicke nichts anhaben können. Es war völlig krank, dieses Machtspiel, das eigentlich keines war, zu führen. Schließlich führte er mich in eine Kleiderkammer und gab mir Dienstkleidung von der JND sowie ein Namensschild.
„Von nun an heißt du Carlos Abacho. Merk dir diesen Namen ganz genau. Wenn er dich fragt, woher du stammst, dann antwortest du, dass du aus Kolumbien kommst. Fragt er dich nach deinem Alter, dann sagst du, du wärst zwanzig. Hör mir genau zu. Ich möchte das nicht alles wiederholen müssen, also Carlos Abacho, zwanzig Jahre aus Kolumbien. Capito?“
*
„Hahahahaha …“
Norman beginnt, laut zu lachen.
„Du bist doch nicht Carlos. Nein! Niemals! Hahaha. Komm, erzähl mir keinen vom Pferd, oh nein, das kann nicht sein. Du doch nicht, hahaha …“
„Warum nimmst du mich nicht ernst? Du bist mir zwar in der kurzen Zeit ganz sympathisch geworden, aber das werde ich mir nicht bieten lassen. Ich bin nicht Carlos? Ich kann es dir beweisen.“
„Du willst mir was beweisen? Hahaha … ich lach mich gleich tot.“
Roberto knöpft sein Hemd auf und deutet mit seiner linken Hand auf die rechte Brusthälfte. Normans Lachen verstummt sofort.
*
Ich bin ein Mörder! Ein verdammter Verbrecher. Sogar ein Staatsverbrecher. Eiskalt und berechnend. Ohne zu zögern, überreichte ich ihm zwischen dem dritten und vierten Akt – ohne dass ich im Geringsten eine Ahnung davon hatte, was ich tat – eine Zigarre, die den Tod bringen sollte. Er schaute mich auch noch so freundlich an, es erweckte den Anschein, als hätte ich sogar seine Sympathie gewonnen. Es war nicht der Blick, den ich mir in all den Jahren von vielen Fotos eingeprägt hatte. Nein, er war anders, vielleicht so, als wäre ich ein Teil seiner Familie gewesen. Meine Angst vor diesem Mann war also völlig unbegründet, absolut fehl am Platz. Ich spürte, dass er mich mochte und mir niemals etwas Böses antun würde. Trotz allem sorgte ich für sein Ende.
Als sie mich abtransportierten, fühlte ich mich wie in Trance. Mein gesamtes Leben sah ich an mir vorüberziehen. Ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick sterben zu müssen. Mir war speiübel, das Herz schlug mir bis zum Hals und ich spürte einen salzigen Geschmack auf meiner Zunge. Ob dieser vom Schweiß oder von meinen Tränen, die mir die Wangen hinunterliefen, herrührte, war mich jedoch nicht eindeutig klar. Es tat so weh. Meine Arme! Ich konnte sie nicht mehr bewegen, sie waren eingeschnürt und auf dem Rücken verschränkt, zu guter Letzt an den Handgelenken mit einer Fessel zusammengebunden. Auf meiner Haut bildeten sich Risse.
Blut tropfte auf den dunklen Fußboden, etwas davon landete auch auf meinen Schuhen. Es lief mir aus der Nase, den Schlag auf die Zwölf hatte ich nicht so gut verkraftet. Ich krümmte mich, so konnte ich die Spannung, die sich in meinem Körper immer weiter aufbaute, besser verkraften. Innerlich sprach ich ein Stoßgebet. Immer wieder bat ich darum, keine Folter ertragen zu müssen und hoffte derweil, schnell sterben zu können.
Dann stießen sie mich nach vorn. Ich konnte sie rufen hören. Immer wieder schrien sie meinen Nachnamen und befahlen, dass ich schneller machen sollte.
„Trottoni, beweg deinen verdammten Arsch!“
Sie hatten mich also entlarvt. Alles war aufgeflogen. Die Schreie klirrten wie Scherben in meinen Ohren. Mindestens ein Dutzend Mal hörte ich sie. Immer wieder fing ich mir Hiebe ein, da ich nicht so konnte, wie sie wollten. Fast krampfhaft versuchte ich, die Schmerzen wegzudenken, spannte jeden einzelnen Muskel an, damit ich nicht so viel spürte, doch das funktionierte überhaupt nicht. Irgendwann ging ich völlig zu Boden. Aus eigener Kraft wieder aufzustehen war mir gänzlich unmöglich. Mit verzerrtem Gesicht bat ich um Erlösung. Irgendwann spürte ich ein dumpfes Gefühl im Magen, dann wurde mir schwarz vor Augen. Mein Körper war eiskalt. Gleichzeitig war es aber auch Erleichterung, denn ich hatte keine Schmerzen mehr. Wenn das der Tod war, dann war er gut.
Ich kam jedoch wieder zu mir. Anfangs wusste ich überhaupt nicht, wo ich war, dann wurde mir langsam aber sicher klar, dass ich mich in einer dieser Staatskarossen befand. Noch immer trug ich Fesseln. Eisengitter trennten mich vom Fahrer. Mit halb geöffneten Augen sah ich durch die getönten Scheiben, dabei stellte ich fest, dass wir uns bereits auf der Autobahn befanden. Wo genau konnte ich nicht sagen, aber das war mir in dem Moment ziemlich egal. Lauthals schrie ich den Typen an, dass er mich losbinden sollte, da ich nichts getan hätte, doch er antwortete nur, es wäre besser und viel gesünder für mich, meine verdammte Fresse zu halten, sonst würde er mich an Ort und Stelle beseitigen. Nach und nach begriff ich, dass die Angelegenheit alles andere als ein Spiel war, und beschloss deshalb, mich zurückzuhalten.
Das Fahrzeug fuhr mit rasanter Geschwindigkeit in Richtung Westen. Obwohl sich der seit dem Nachmittag tobende Eissturm mittlerweile verzogen hatte, war es noch immer spiegelglatt auf den Straßen. Das Auto schlingerte heftig auf der völlig überfrorenen Fahrbahn, doch darauf nahm der völlig durchgeknallte Fahrer keine Rücksicht. Mir war klar, dass ich sowieso sterben würde. Entweder in diesem Gefährt oder man würde mich zu einem späteren Zeitpunkt den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Immerhin war ich ein Verbrecher, ein Mörder. Zumindest jemand, der keine andere Wahl hatte. Wahrscheinlich hatte ich es verdient, zu sterben, fühlte mich wertlos und schmutzig. Mir war danach, die Tür des Fahrzeugs zu öffnen, einfach hinauszuspringen und zum guten Schluss von einem Lkw überfahren zu werden, aber diese war ja leider verriegelt. Ich war der letzte Abschaum, das wurde mir immer bewusster. Aber was hätte ich tun sollen? Den Auftrag von Stegener verweigern? Nein, dann wäre ich garantiert nicht mehr am Leben - so konnte ich zumindest noch kämpfen. Also hatte ich vielleicht doch alles richtig gemacht.
„Denk, Roberto, denk nach! Lass deinen Verstand arbeiten.“
In mir ratterten die grauen Zellen auf Hochtouren. Meine Augen waren müde, die Straßenbeleuchtung des nahenden Autobahnkreuzes nahm ich lediglich verzerrt wahr. Jede Zelle meines Körpers war angespannt. Ich musste hier als Sieger herausgehen, denn ich fühlte mich mit achtzehn noch viel zu jung, um mein Leben nur wegen dieser Misere, in die ich unschuldig hineingeraten war, jetzt schon auszuhauchen.
Erneut schloss ich die Augen. Der Fahrer dachte, dass ich schlief und das war gut so. In meinem Kopf rasten die Gedanken. Warum nur hatte ich nicht auf meinen Vater gehört? Nun ja, es war zu spät. Hier musste ich selbst wieder herauskommen. Noch immer hatte ich die letzten Minuten meines Opfers und die Arien im Kopf. Sah ihn lachen, sich amüsieren, Wein trinken, applaudieren. Er war ein Mensch wie jeder andere. Und doch war er mächtig. Der Mächtigste in diesem neuen Deutschland – seinem Deutschland. Er war unser aller Chef, der große Meister eben - und er hatte mich den gesamten Abend über angelächelt.
*
„Du bist ein Depp, Roberto. Oder soll ich dich jetzt Carlos nennen?“
Norman steht auf, hebt seine Matratze hoch und zieht eine neue Schachtel Zigaretten hervor. Er zündet zwei davon an und reicht Roberto eine hinüber. Beide ziehen den Rauch tief ein. Für einen Moment sagt niemand etwas. Dann sehen sie sich in die Augen.
„Du bist ein Depp!“, wiederholt Norman.
„Ja, aber …“
„Nix aber! Unsauber gearbeitet hast du und das weißt du auch. Mutig, aber unsauber. Es hätte klappen müssen, verstehst du, klappen!“
„Ich hab doch aber genau nach …“
„Quatsch! Wenn du all das getan hättest, was dir aufgetragen wurde, dann wäre das gesamte System nicht mehr intakt. Wie du aber siehst, sitzen wir hier in diesem Loch und müssen jeden Moment damit rechnen, dass wir exekutiert werden. Also unsauber gearbeitet!“
Roberto schaut für einen Moment verschämt nach unten. Dann zieht er noch einmal tief an seiner Zigarette und tritt sie anschließend mit dem Fuß aus. Norman schaut ihn erwartungsvoll an, fast so, als würde er auf eine Rechtfertigung warten. Roberto holt tief Luft und lässt Normans Atem immer weiter ins Stocken geraten.
*
Von einer Sekunde zur nächsten, fiel Kahl vom Stuhl. Er kippte einfach so nach vorn über. Ich war mir sicher, dass er tot war. Von dem, was Stegener angedeutet hatte, war mir kaum etwas im Gedächtnis geblieben. Alles war irgendwie an mir vorbeigelaufen, sonst hätte ich mich niemals darauf eingelassen. Nachdem ich mir ein paar Tränen abgewischt hatte, ging wie vereinbart in den Personalraum. Von dort sollte ich abgeholt werden. Doch dann kam der Alarm, dieses wahnsinnig laute Getöse, das so gewaltig in meinen Ohren dröhnte. Ihnen war sofort klar, dass ich etwas damit zu tun haben musste. Eine Chance hatte ich nicht. Anhand eines Fingerabdrucks wurde ich schnell identifiziert. Es ging alles so schnell. Dieses Auto auf den spiegelglatten Straßen – es begleitet mich bis heute fast jede Nacht in meinen Träumen.
In seiner Ruhrstadt angekommen, folgten tagelange Verhöre. Immer wieder Schläge, Tritte, zum Schluss das Branding auf der Brust. Ich sollte für immer erkennbar bleiben. Aber ich habe nichts verraten! Gar nichts! Beim ersten Mal nicht und dieses Mal auch nicht. Nach ein paar Tagen gelang es mir, zu flüchten. Eine absolute Kurzschlussreaktion. Einer seiner Nachtwärter war für einen Augenblick nicht aufmerksam. Ich habe nur einmal zugeschlagen, da lag er schon da. Er war tot.
Aus seinem Hinterkopf spritzte jede Menge Blut. Ich beeilte mich, seine Sachen anzuziehen und zu verschwinden. Aus dem Gebäude herauszukommen, war absolut kein Problem. Ich war nun schließlich auch im Besitz der Generalchipkarte. So schnell wie möglich wollte ich nach Berlin zurück, raus aus seiner Ruhrstadt, weg von diesem Knast. Mit seiner Bahn konnte ich nicht fahren, dort wurde ständig kontrolliert, also stahl ich mir ein Auto. Eins von diesen Knastfahrzeugen, mit dem ich auch abtransportiert worden war. Die Temperaturen lagen noch immer deutlich unter dem Gefrierpunkt. Die Nacht war sternenklar und die Straßen entsprechend rutschig. Dennoch fuhr ich mit quietschenden Reifen vom Gelände. Ich hatte ein solches Glück, dass sich in dem Moment niemand dafür interessierte.
Ich raste durch die Stadt in Richtung Autobahn, die zu meinem Glück nicht so weit entfernt war. Der helle Vollmond schaute mich an, als sei ich ein böser Mensch. Zumindest hatte ich den Eindruck. Die linke Spur seiner Schnellverkehrsstraße war nicht vom Eis befreit. Es war mir egal, ich fuhr einfach. Tränen liefen mir über das Gesicht. Ich heulte fast die gesamte Fahrt über. Immerhin hatte ich einen zweiten Menschen auf dem Gewissen.
*
„Menschen? Diese Jungs sind keine Menschen. Das sind abgerichtete Tiere. Räudige Hunde sind dagegen Kuschelpuppen. Mach dir um den Wärter keine Gedanken.“
„Aber wieso kannst du so was …“
„Vertrau mir, ich weiß mehr, als du denkst.“
*
Nachdem ich diese Entdeckung gemacht hatte, konnte ich meine Neugier nicht mehr zügeln. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass ich mit Professor von Heimfelds nicht darüber reden konnte. Also hatte ich heimlich gestöbert. Immer und immer wieder. Und ich baute Wissen auf. Das machte mich stark. Ich experimentierte im Keller, las die Anleitungen des Professors und führte Versuchsreihen durch – sämtliche Experimente funktionierten. Der Professor hatte recht. Alles, was er in seinen Aufzeichnungen aufführte, stimmte. Ich war begeistert, aber auch gleichzeitig verängstigt. Die Subelitronen – sie waren unberechenbar. Man konnte alles mit ihnen machen. Alles!
Der Professor hatte bereits zehn Jahre zuvor die Existenz von Subelitronen nachgewiesen. Der JND-Staat von Jo Kahl hatte ihm für die Forschung eine Menge Geld zur Verfügung gestellt. Es waren dreistellige Millionenbeträge gewesen. Eine unvorstellbare Summe!
Relativ schnell hatte es erste Menschenopfer gegeben. Sie wurden für seinen Staat manipuliert. Ihr Gehirn wurde einfach abgestellt, so als seien sie klinisch tot. Die Sauerstoffversorgung wurde gekappt, die abgestorbenen Zellen mit Subelitronen wieder aktiviert. Aus dem Menschen wurden Maschinen, programmierbar bis ins kleinste Detail, gefügig und ohne jegliches Gefühl. Somit konnte seine Armee immer stärker, einflussreicher und vor allem unberechenbarer werden.
Den Menschen selbst gab es schon gar nicht mehr, lediglich diese kleinen Dinger hielten ihn am Leben. Es war mehr als indirekter Völkermord. Es fiel nur niemandem auf, da sich äußerlich nichts änderte. Und die, die es wussten, hielten ihren Mund, weil sie Angst vor ihrem eigenen Ende hatten. Vor neun Jahren, als es zu dieser Krise mit den restlichen EU-Staaten gekommen war … der Staatspräsident von Frankreich, der Ministerpräsident aus Italien und der Bundeskanzler aus Österreich … sie waren alle …
*
Erneut sind Schritte auf dem Flur zu hören. Sie werden lauter, Roberto beginnt, leicht zu zittern.
„Jetzt holen sie mich bestimmt“, flüstert er.
Norman schüttelt den Kopf.
„Nein, sie gehen vorbei.“
Erleichtert atmet Roberto auf.
„Erzähl weiter. Was war mit den Politikern?“
„Politiker? Nein! Ich fang anders an.“
*
In unserer Forschungsabteilung gab es ein Mädchen. Sie kam ebenfalls aus Deutschland und hieß Sarah. Ich bewunderte ihre wundervollen blauen Augen und ihr strahlendes Lächeln. Wir verstanden uns vom ersten Tag an gut. Das stieß beim Professor auf absolutes Unverständnis. Er sagte mir immer, ich sollte die Augen bei mir behalten und meine Aufmerksamkeit nicht einer Frau unter meinem Niveau schenken. Im Gegensatz zu ihm machte es mir überhaupt nichts aus, dass sie bei uns nur das Labor reinigte.
Eines Abends war ich, wie so häufig, wieder länger vor Ort. Es war erneut ein Donnerstag und es hatte bereits morgens zu regnen begonnen. Für einen Moment stand ich auf dem Gang, öffnete das Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Unterdessen horchte ich, ob ich tatsächlich allein war. Es war alles still, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Für mich war die Luft rein. Ich konnte mich auf die Suche nach neuen Unterlagen machen. Heimlich schloss ich die Tür zum Büro des Professors auf und schnell wurde ich fündig. Weitere Erkenntnisse lagen, wie für mich dort abgelegt, bereit. Instinktiv nahm ich die Unterlagen vom Schreibtisch und ging damit zum Kopierer. Es waren ungefähr einhundert Seiten, aber die Zeit, diese zu vervielfältigen, nahm ich mir gern.
Plötzlich stand sie hinter mir. Ich hatte sie nicht kommen hören, sie war einfach da und schaute mir über die Schulter. Im ersten Moment zuckte ich förmlich zusammen. Dann war ich jedoch erleichtert, dass mich nur Sarah mit ihren blauen Augen neugierig anschaute.
„Was machst du denn noch um diese Uhrzeit hier?“, fragte sie mich.
Ich druckste ein wenig herum, erfand dann eine lapidare Ausrede und sagte, dass das nächste Examen nicht weit entfernt wäre und ich ein paar Prüfungsunterlagen zusammengestellt und kopiert hätte. Ihr Blick ließ mich jedoch vermuten, dass sie mir nichts von alldem glaubte, was ich ihr erzählte. Sie ging zum geöffneten Fenster am Ende des Flurs und schloss dieses.
„Es regnet hier herein“, sagte sie in einem mürrischen Ton.
Augenblicklich entschuldigte ich mich bei ihr, sagte, dass ich eben vergessen hätte, es zu schließen, und lächelte sie dabei an. Es war mir wichtig, eine Art Harmonie zwischen uns herzustellen – auf keinen Fall sollte sie mich nicht als Lügner sehen. Ich mochte sie so sehr. Für einen Moment standen wir ungefähr zehn Meter auseinander, ich lächelnd, sie ernst. Dann begannen wir zu lachen, bestimmt fünf Minuten lang. Dabei kamen wir uns immer näher, ich wurde immer ernster, auch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Dann berührten sich zum ersten Mal unsere Lippen. Es war ein langer, sehr intensiver Kuss. Noch nie zuvor war ich mit einem Mädchen so hingebungsvoll vereint.
Ganz plötzlich ließ sie von mir ab und verschwand. Sie meinte, sie hätte etwas vergessen und müsste schnell weg. Meine Enttäuschung war groß. Aber es war trotzdem irgendwie okay. Ich fühlte mich so glücklich, kopierte meine letzten Blätter, legte die Originale zurück und verriegelte mit meinem heimlich kopierten Schlüssel das Büro vom Chef.
Noch am selben Abend wurde ich festgenommen. Es waren zwei Typen, die mich aufgriffen. Sie hatten vor der Tür des Forschungszentrums auf mich gewartet. Einer von ihnen war sehr groß und hager, der andere etwas korpulenter. Sie hatten unglaubliche Kräfte. Anfangs versuchte ich, mich zu wehren, doch das war mein Fehler. Sie schlugen so lange auf mich ein, bis ich das Bewusstsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich bereits hier in dieser Zelle. Es gab keine Zeit mehr, die letzten Kopien von diesem Abend zu lesen und anhand von Versuchsreihen nachzukonstruieren.
*
Für einen Augenblick herrscht Stille. Beide schauen sich an.
„Weißt du, was ich glaube?“, wirft Roberto dann in den Raum.
Norman zuckt unwissend seine Schultern.
„Bin ich Hellseher?“, fügt er seinen Bewegungen hinzu.
„Dieses Mädchen, diese Sarah … sie ist …“
Norman unterbricht ihn lautstark.
„Wag es nicht, das auszusprechen. Niemals! Nie im Leben wirst du das behaupten.“
„Ich habe nur die Vermutung, dass …“
„Halt die Fresse, Trottoni! Halt einfach das Maul!“
Nach einem weiteren Moment der Stille beginnt Norman, von jetzt auf gleich zu weinen. Er schluchzt so intensiv, dass auch Roberto die Tränen kommen.
„Wir werden das herausfinden. Das schaffen wir. Alle Unklarheiten werden beseitigt, ich verspreche es dir“, flüstert er Norman ins Ohr, während er ihn im Arm hält und tröstend über seinen Hinterkopf streichelt.
„Aber wie?“
*
Als ich nach meinem Ausbruch zurück in Berlin war, fuhr ich auf direktem Wege zu Stegener. Er machte mich zur Sau, hielt mir vor, dass ich seinen gesamten Plan zunichtegemacht hätte und das Jo Kahl noch immer am Leben wäre. Das konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen, ich war mir mehr als hundertprozentig sicher, dass er den Anschlag nicht überlebt hatte. Dennoch bot Stegener mir einen Unterschlupf an, wohl eher als Mitleidsfloskel, so wie es herüberkam. Er zeigte mir ein Zimmer in dieser Wohnung - einfach eingerichtet, ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl – und sagte, dass ich dort erst einmal bleiben könnte. Mit gemischten Gefühlen schlief ich mich dort aus. Ich wusste absolut nicht, ob das das Richtige für mich war. Mir war aber klar, dass ich für den Staat von heute auf morgen zu einem Schwerverbrecher geworden war, den seine Armee von jetzt auf gleich am liebsten ausradiert hätte. Somit gab ich mich mit dieser Bleibe zufrieden. Schließlich hatte ich ja auch keine andere Wahl.
Stegener hielt mich wahrscheinlich für einen Versager. War ich ja auch. Immerhin hatte ich seinen Auftrag nicht erledigen können, Kahl lebte. Quicklebendig war er, winkte in seiner Ruhrstadt seinen perfiden Anhängern zu und ließ sich als „der Unsterbliche“ feiern. Wahrscheinlich war ich noch nicht einmal in der Lage, den perfekten Mord zu begehen – denn ob der Wärter, den ich überwältigt hatte, tatsächlich tot war, daran zweifelte ich immer mehr. Es war auch egal. Ich war in Sicherheit, die gestohlene Staatskarosse hatte Stegener unter Verschluss genommen – fast wie eine Trophäe an sich gerissen.
Die hochgewachsene Dame war ständig vor Ort und um mein leibliches Wohl bemüht. Der Kaffee war nach wie vor hervorragend und ihre Brote liebte ich heiß und innig.
In meiner Nachttischschublade fand ich einen Zeitungsartikel des Berliner Kuriers. Es war die Ausgabe vom 19. August 2025. Der Dienstag nach der letzten Bundestagswahl des alten Deutschlands. Spitzenkandidat Jo Kahl und seine JND hatten mit 78,4 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erlangt. Noch am Tag der Wahl wurden der alte Bundeskanzler sowie der Bundespräsident erschossen – angeblich von Terroristen. Kahl wurde mit sofortiger Wirkung Staatspräsident, setzte das Grundgesetz außer Kraft und schloss die Grenzen zu allen Nachbarländern.
*
Ohne Vorwarnung geht die Tür zur Zelle auf. Vor Norman und Roberto steht ein bis an die Zähne bewaffneter Wärter.
„Trottoni! Mitkommen!“
Roberto bebt am gesamten Körper. Ängstlich erhebt er sich und geht auf ihn zu, wird forsch am Arm gepackt und aus dem Raum gezogen. Auf dem Flur schubst man ihn nach vorn. Roberto beginnt, heftig zu husten, beugt sich nach vorn und übergibt sich.
„Geh Trottoni!“, schreit der Wärter und schleift ihn aggressiv weiter.
Niemand kümmert sich um das Erbrochene. Sie bringen ihn in einen Verhörraum, dunkle Wände und stickige Luft scheinen sich dort zu vereinigen. Der Boden - lediglich kalter Estrich, Mäusekot in den Ecken, kein Fenster. Roberto atmet schwer, seine Augen sind voller Tränen, der Magen verkrampft und in seinem Kopf schlägt eine Kirchturmuhr. Für einen Moment verweigern seine Sehnerven ihren Dienst. Schwammige Laute aus seiner Kehle unterdrücken sein Angstschluchzen. Vor ihm sitzt eine Person, die er nicht erkennen kann. Nur Umrisse sind sichtbar – wie eine Art Silhouette nimmt er sein Gegenüber wahr.
„Hinsetzen!“, befiehlt ihm eine Stimme, die ihm durchaus bekannt vorkommt.
Dann geht eine Lampe an, die ihm direkt ins Gesicht leuchtet. Stark geblendet versucht er, sich auf die Stimme zu konzentrieren. Todesangst kommt in ihm auf, verblasst aber bereits im nächsten Augenblick. Innerlich starr versucht Roberto die Situation zu begreifen, zu bewältigen.
Den Schlag ins Gesicht spürt er nicht. Blut läuft ihm aus der Nase. Es folgt ein weiterer, heftigerer Hieb. Sein Ohrläppchen reißt auf. Warme Flüssigkeit läuft an seinem Hals hinunter und wird eins mit dem kalten Estrichboden.
„Du bist für uns nichts wert, verstehst du, gar nichts!“, brüllt ihn die Stimme an.
Robertos Gehirn arbeitet auf Hochtouren, versucht die Stimme zu erkennen. Vergeblich!
„Wir könnten dich hier jetzt an Ort und Stelle töten. Es würde niemanden interessieren. Du bist eine kleine Nummer, unbrauchbarer Abschaum.“
„Aber dennoch lassen wir dich leben.“
In Habachtstellung wartet Roberto auf den nächsten Schlag. Sein gesamter Körper ist angespannt. Das Blut tropft weiter. Doch der Hieb bleibt aus.
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“
Robertos Kopf hebt sich ein wenig. Er ringt nach Luft. Das Licht blendet. Die schemenhafte Gestalt formiert sich zu einem Umriss. Doch er kann diesen nicht zuordnen. Harte Gesichtszüge, mehr nimmt er nicht wahr.
„Wir haben dich in diese Zelle gesteckt, da du für uns einen Auftrag erledigen wirst“, weist ihn die Stimme an.
„Du wirst für uns tätig sein, bekommst etwas heraus für diesen Staat. Dieser Sörensen, der bei dir in der Zelle sitzt, den wirst du bespitzeln. Er besitzt etwas für uns sehr Wertvolles. Finde heraus, wo er es versteckt hat. Du hast 48 Stunden Zeit. Falls du es nicht schaffst, töten wir deinen Vater. Wir haben ihn in unserer Gewalt. Anschließend wirst auch du exekutiert. In genau zwei Tagen sprechen wir uns wieder. Kannst du uns die Antwort liefern, lassen wir dich und deinen Vater frei, falls nicht, dann endet nicht nur dein Leben.“
Dann erfolgt ein weiterer Schlag. Roberto sackt zu Boden. Er bemerkt noch, wie das grelle Licht erlischt und er erneut am Arm gepackt wird. Dann wird es für einen Augenblick sehr dunkel um ihn.
Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in der Zelle. Sein Hemd ist voller Blut, sein Schädel dröhnt, Hämatome schmerzen in seinem Gesicht. Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckt nichts als roten Lebenssaft. Norman sitzt auf seiner Liege und starrt ihn an. Sein Blick ist emotionslos, leer, wie erloschen. Auch er hat Schlagspuren am Hals und Oberarmen.
„Wir müssen hier raus!“, flüstert Roberto.
Norman nickt. Sein Gesichtsausdruck zeigt noch immer kein Gefühl.
„Sie haben meinen Vater!“
Norman winkt schulterzuckend ab.
„Sie lügen! Nichts, was sie sagen, stimmt! Das sind Maschinen, keine Menschen. Dieser Staat hat die Körper allesamt verändert, die Subelitronen zwingen sie zu ihrem Handeln. Das ist die Machenschaft dieser Regierung. Kapierst du das nicht?.“
„Ja, aber …“
„Nix aber! Lass mich das mal machen. Ich habe da schon eine Idee!“
*
Diesen Zeitungsartikel - ich las ihn mehrmals. Stegener sagte mir später, dass es die letzte Ausgabe des Kuriers gewesen wäre. Die Zeitung wurde verboten, es sollte keinerlei Informationsfluss mehr geben. Das deutsche Volk mutierte unter der Kahl-Regierung zu hörigen Marionetten, die wenigen Aufständischen wurden eliminiert. Innerhalb weniger Wochen wuchs seine Armee zu einer Elitetruppe an. Bereits nach kurzer Zeit entstand das neue Machtzentrum, das keine Widersacher mehr hatte. Berlin war nicht mehr die Hauptstadt, seine Ruhrstadt begann, Karriere zu machen. Mit mehr als 15 Millionen Einwohnern war sie die größte Metropole Europas und schindete Eindruck. Hochmoderne Bauten zierten von nun an die Regierungszentrale, während die umliegenden Orte zu verrotten begannen.
Ich fragte mich häufig, weshalb das in der Form hatte geschehen können. Stegener meinte, die Deutschen hätten die damalige Bundesregierung sattgehabt. Die Arbeitslosenquote war zu Beginn der Zwanziger extrem angestiegen und die soziale Versorgung zu einem einzigen Chaos mutiert. Der deutsche Bürger lechzte regelrecht nach einem Umschwung. Kahl versprach allen das Blaue vom Himmel, machte auf sich aufmerksam, in dem er Vollbeschäftigung und Absicherung versprach. Bereits ein Jahr vor der letzten Wahl jubelte das Volk ihm bei seinen Reden zu, sie vergötterten ihn. Stegener sprach von einem regelrechten Kahl-Boom. Anscheinend lag das Dritte Reich schon lange genug zurück. Ich kannte das nicht, wusste nicht, wovon er sprach. Er faselte dann irgendwas von einem alten Diktator von vor einhundert Jahren, ein Mann mit ähnlichen Eigenschaften. Ich glaubte ihm das nicht, doch dann zückte er ein Geschichtsbuch aus der damaligen Bundesrepublik. Ich las darin eine Weile und fand so viele Parallelen.
*
Norman steht auf und hämmert gegen die Tür.
„Ihr Arschlöcher! Was wollt ihr von mir? Kommt doch her und bringt mich um!“
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
Norman schaut sich um und grinst. Dann klopft er weiter, wird immer lauter. Er schreit so laut er kann, bis er Schritte hört. Schritte, die sich der Zellentür nähern. Schnell springt er zur Seite und zieht ein undefinierbares Gerät unter seiner Matratze hervor. Roberto kann so schnell nicht folgen. Als die Tür sich öffnet, haut Norman dem Wärter das Teil direkt in den Arm. Dieser sackt sofort zusammen. Norman greift zum Schlüssel und macht eine auffordernde Bewegung.
„Komm schnell! Wir haben nicht viel Zeit“, ruft er Roberto zu.
„Aber was hast du getan? Du hast ihn umgebracht!“
„Der war schon tot du Idiot. Nun komm, oder willst du hier versauern?“
Norman und Roberto laufen den langen Flur hinab in Richtung Ausgang. Am Ende des Ganges lauert ein weiterer Wärter den beiden auf, um sie erneut zu stellen. Auch ihm rammt Norman dieses Teil in den Arm. Innerhalb von Sekunden bricht der Typ ebenfalls zusammen. Dieses Mal ist es Roberto, der dem Toten Schlüssel und Elektroschocker abnimmt. Norman zieht den leblosen Körper aus und kleidet sich blitzschnell mit dessen Dienstkleidung ein. Dann packt er Roberto mit einem Augenzwinkern am Arm und geht im JND-typischen Marschschritt in Richtung Außenparkplatz.
„Abtransport zur Exekutionshalle, ist ein Befehl von ganz oben“, ruft er einem der Fuhrparkwächter zu. Dieser nickt und Norman kann gemeinsam mit Roberto hochoffiziell mit einem Knastwagen vom Hof verschwinden, ohne dass jemand von der Wachbrigade etwas davon mitbekommt.
„Norman, du bist gut. Saugut!“
„Sag ich doch. Vertrau mir.“
„Was hättest du getan, wenn uns noch mehr von ihnen angegriffen hätten?“
„Ihnen ihre Energie genommen.“
„Du hast sie getötet, nicht betäubt.“
„Du schnallst nix Junge! Diese Typen sind alle bereits tot, sie werden künstlich am Leben gehalten. Das habe ich dir aber schon erklärt. Und dieses Teil hier …“
Für einen Augenblick schaut Norman nicht auf den Verkehr, sondern auf die blanke Metallspitze eines zierlichen, messerscharfen Geräts.
„… das kann die Energie der Subelitronen außer Kraft setzen.“
Norman lächelt verschmitzt und tritt aufs Gaspedal, als sei er von einer Wespe gestochen worden. Roberto wird in seinen Sitz gepresst, als würde soeben ein Flugzeug die Startbahn verlassen. Die Straßen sind noch immer glatt und winterlich, an den kahlen Bäumen und den Dächern der Häuser haben sich riesige Eiszapfen gebildet. Die Luft riecht nach Schnee. Norman schaut auf die Tankanzeige des Fahrzeugs.
„Nach Berlin sollten wir es schaffen. Reichweite sechshundert Kilometer.“
Roberto nickt.
„Ich weiß“, antwortet er. „Bin doch schon selbst mit solch einem Auto gefahren.“
Norman grinst wieder.
„Stimmt. Da waren wir ja stehen geblieben. Wie kam es eigentlich dazu, dass sie dich ein zweites Mal abgeführt haben?“
*
Leichtsinnig, wie ich war, verließ ich die Wohnung von Stegener und stolzierte durch Berlin. Eigentlich wollte ich zu meinem Vater, dort kam ich aber nie an. Auf dem Weg dorthin überraschten mich zwei Männer seiner Armee und griffen mich auf. Zwei Nächte verbrachte ich in einer Art Grotte, dann wurde ich wieder in die Ruhrstadt gebracht. Ich wusste nicht, weshalb sie mich nicht einfach getötet hatten. Es wäre so einfach gewesen, nur ein kleiner Augenblick. Nein! Sie verschonten mich, keiner von ihnen verschwendete auch nur einen Gedanken daran. Ohne ein Wort führten sie mich ab.
*
„Diese Jungs wollten dich benutzen. Dabei sind sie so einfach zu überlisten. Sie sind zwar hochgefährlich, weil sie nur für den Staat denken und alles dafür tun würden, aber wenn man weiß, wie man sie ausschaltet, hat man das Zepter in der Hand.“
„Woher hast du dieses Teil?“
*
Zwei Abende, bevor ich verhaftet wurde, fand ich eine Aufzeichnung des Professors, die die Eigenschaften der Subelitronen genau beschrieb.
Hat man Subelitronen gewonnen, kann man sie an Chrom lagern. Es muss jedoch Chrom II sein. Das ist wichtig. Von dort aus kann man sie entsprechend programmieren. Man kann die Elitronen jedoch nicht vom zweiwertigen Chrom lösen. Die Datenmaterie kann über einen Computer zwar aufgespielt werden, die Teilchen würden sich jedoch niemals von diesem Metall trennen. Mit fünfwertigem Chrom hingegen lassen sich die Teilchen vom zweiwertigen Chrom in tierische oder pflanzliche Zellen übertragen. Von dort aus nehmen sie den Platz des Zellkerns ein und regieren über die jeweilige DNA, so wie sie zuvor programmiert wurden. Dieses läuft aber nur so lange, bis sie mit zweiwertigem Chrom in Verbindung kommen. Subelitronen sind so chromophil, dass sie unmittelbar den Zellkern verlassen und dem Chrom anhaften. Aufgrund des extrem kleinen Durchmessers ist eine Sättigung auf dem Metall kaum zu erreichen.
Nachdem ich das gelesen hatte, durchzuckte mich eine Idee. Ich musste nur an zweiwertiges Chrom gelangen, um die Wirkung der Subelitronen außer Kraft zu setzen. Das ging schneller als gedacht. Ohne zu überlegen, eilte ich in den Keller des Labors und suchte nach geeignetem Material. Schnell wurde ich fündig. Es war nur sehr unhandlich, deshalb schliff ich mir ein handliches Teilchen zurecht und trug es seit diesem Zeitpunkt bei mir. Der Chrom-II-Vorrat war natürlich genau gelistet. Bereits am nächsten Morgen fiel die Fehlmenge auf. Ich stand nicht unter Verdacht, das hatte ich zumindest angenommen. Der Professor traute niemandem. Die deutsche Regierung wurde natürlich von dem Diebstahl in Kenntnis gesetzt. Der JND war das selbstverständlich bewusst, dass Menschen mit Fachkenntnissen und Chrom II gefährlich sein würden.
Als ich verhaftet wurde, trug ich das Teil in meiner Schuhsohle. Niemals hätte irgendjemand dieser Leute den Mut gehabt, das Teil dort herauszuholen. Sie wären ja sofort tot umgekippt. Dennoch wollten sie es zurück, somit brauchten sie einen unveränderten Menschen, der es an sich nimmt. Ob es tatsächlich funktionieren würde, wusste ich nicht genau, deshalb hielt ich die ganze Zeit über meine Klappe. Ich benötigte Zeit, um nachzudenken - musste meinen Kopf schlauer machen, Eventualitäten überdenken.
Die ersten Nächte im Knast konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder musste ich an Sarah denken. Hatte sie mich tatsächlich verpfiffen? Der Kuss war so schön, liebevoll und intensiv gewesen. Dann aber die plötzliche Kehrtwende, kurz danach die Festnahme. Ich verstand die Welt nicht mehr. In einer Nacht weinte ich ungefähr sechs Stunden. Ich hatte eine solche Sehnsucht. Dann beschloss ich, abzuhauen. Irgendwie die Wärter überlisten, das musste doch möglich sein – und es war möglich. Mein Plan ging auf.
*
„Du bist also mit mir ausgebrochen, um deine Sarah zu finden?“
„Es gibt zwei Gründe du Dummkopf. Zwei. Alles hat einen Haken. Dieser Staat geht mir auf die Eier und Sarah will ich auch bei mir haben. Du willst deinen Vater finden, sofern sie dich nicht angelogen haben, und der JND ebenfalls den Garaus machen. Folglich eine Schnittmenge, Dummkopf.“
„Nenn mich nicht immer Dummkopf!“, antwortet Roberto wütend.
„Okay, Dummkopf.“
Norman grinst wieder und tritt erneut das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
„Wir werden nun nach Berlin fahren und Herrn Stegener besuchen. Ich werde testen, ob man ihm vertrauen kann.“
Roberto kneift verständnislos die Augen zusammen.
„Wie willst du das denn testen?“
„Chrom II, Dummkopf. Chrom II. Und jeder, der sich uns in den Weg stellt, macht Bekanntschaft mit dem Metall. Mein Plan funktioniert.“
Roberto schüttelt den Kopf.
„Und wenn du Sarah findest? Wirst du dann auch Chrom II anwen…“
„Halt doch endlich dein verficktes Maul, Dummkopf. Warum hab ich dich nur mitgenommen? Sarah ist ein Engel, eine absolute Göttin, kapierst du? Also wag niemals, so über sie zu sprechen, klar?“
Roberto nickt.
„Klar!“, murmelt er leise vor sich hin.
„Dann verstehen wir uns, Dummkopf.“
Das Fahrzeug verlässt den Speckgürtel seiner Ruhrstadt in Richtung Osten. Schneeflocken fallen leicht vom grauen Himmel herab. Die Autobahn ist wie leer gefegt, als wäre die Straße für niemanden sonst freigegeben. Aus weiter Ferne sind Sirenen zu hören.
*
Am Abend des Auftrags unterhielt ich mich mit Kahl. Er war nett, sehr höflich, fast freundschaftlich. Er fragte mich, ob ich die Partei und seine Politik schätzen würde und ich beantwortete dieses mit einem Ja! Ich log, dass sich die Balken bogen. Er verlangte nach Wein, jeder Menge zu essen und zum Schluss nach der guten Zigarre. Immer wieder winkte er mich zu sich, blieb jedoch stets sehr freundlich. Er sah mir ständig so tief in die Augen und vermittelte mir das Gefühl, als ob er in mich hineinschauen wollte. Bestimmt hatte er längst bemerkt, dass ich hereingeschmuggelt worden war. Doch es war zu spät. Es gab kein Zurück.
Ich fühlte mich beschissen. Bis dato war er für mich ein Monster gewesen, doch als ich ihn in seiner Oper hatte sitzen sehen, als er mir sagte, dass ich so schöne braune Augen hätte, da begann ich, ihn zu mögen. Obwohl ich wusste, dass es Kahl war. Der Mann, der meiner Mutter sozusagen den Tod beschert hatte, der Typ, der für Macht und Geld jedes Menschenleben auslöschen würde und der keinerlei Angriff verschmähte. Ja, diesem Mann war ich für einen Augenblick verbunden. Sein Lächeln war mir nicht einerlei, das Funkeln der Manschetten an seinem Hemd beeindruckte mich. Für einen kurzen Augenblick, ja es war nur ein ganz kleiner, aber doch – für einen Moment wünschte ich mir, nicht Roberto Trottoni, der nichtsnutzige Italiener, der Staatsgegner, der nicht in der Partei war, zu sein. Mein Vorhaben, den Tod meiner Mutter zu rächen, war wie weggeblasen, dieser Mann war in der Lage, mich mit seiner Art in sein Reich ziehen. Es war mein Wunsch, der zu sein, den ich in diesem Moment verkörperte – Carlos. Aber ich war es nicht. Es war alles gelogen.
Stegener hatte mit einem Trick gearbeitet, mich hineingeschleust, als abkommandierter Diener des Abends. Wie er das zustande gebracht hatte, ist mir bis heute ein Rätsel. Dann die Zigarre. Kahl bedankte sich freundlich, lächelte mir wieder zu, fragte nach Feuer, worauf ich ihm Streichhölzer reichte. Er nahm die Zigarre zwischen seine Lippen, zündete sie an und fiel auf der Stelle um. Mir blieb überhaupt keine Zeit mehr. Ich geriet in Panik, denn ich war alles andere als ein Held. Meine Hände zitterten, mein Herz schlug wie wild, ich war kaum in der Lage, meine Umgebung real wahrzunehmen. Es war kein Wunder, dass all das schief lief.
*
„Du warst, bist und bleibst eben ein Dummkopf. Alles war doch nur lapidar geplant. Das konnte doch nicht klappen. Ein Attentat gegen Kahl, mitten unter den ganzen JND-Leuten. Die haben das sofort erkannt.“
„Ja, aber das konnte ich ja nicht wissen!“
„Jetzt erzähl ich dir mal was, Dummi. Diese Leute in der Oper waren, bis auf wenige Ausnahmen, alle subelitrös verändert. Sie funktionierten wie ein Computer, manche sogar wie ein Virusprogramm. Sie haben dich erkannt, aber sie haben dich machen lassen, um zu schauen, was passiert. Die Zigarre, sie war längst nicht mehr gefährlich für Kahl. Keineswegs. Als du die Straftat ausgeführt hattest, griffen sie ein und führten dich ab.“
„Du mit deinen Theorien. Du wärst doch garantiert auch drauf reingefallen. Warst du etwa dabei, du Schlaumeier?“
„Nein, aber ich weiß, was Subelitronen können.“
„Gut, dann frage ich dich, weshalb mir das erste Mal die Flucht gelungen ist.“
Norman beginnt zu lächeln.
„Du weißt echt gar nichts!“, fügt er dem hinzu und tritt wieder mächtig aufs Gas.
Für eine ganze Weile herrscht Schweigen im Auto. Roberto macht einen ziemlich eingeschnappten Eindruck, während Norman noch immer vor sich hingrinst.
Zwei Stunden später erreichen sie Berlin. Überall liegen jede Menge Trümmer herum, sodass Norman mehrmals den Hindernissen ausweichen muss. Roberto schaut immer noch beleidigt drein und würdigt seinen Fahrer nicht eines Blickes.
„Ich weiß zwar schon viel, aber wo wir jetzt genau hinmüssen, das solltest du mir vielleicht erklären.“
Roberto deutet lediglich mit den Fingern an, in welche Richtung Norman das Auto bewegen muss. Schließlich stehen sie vor dem geheimen Anwesen Stegeners.
„Hier ist es!“, spricht Roberto mit leiser Stimme.
„Okay, bis hierher haben wir es nun schon einmal geschafft, mal schauen, wie es weitergeht.“
Roberto bekommt mit, dass Norman seinen Chrom-II-Stift zieht und zum Eingang geht. Die hochgewachsene Bedienstete Stegeners sieht die Zwei bereits durch das Fenster und öffnet unmittelbar die Tür. Als sie die Wohnung betreten, steht Stegener bereits auf dem Flur. Sofort verweist er auf sein Büro.
Norman möchte Stegener die Hand geben, doch dieser lehnt ab.
„Nimm erst einmal das Ding weg, dass du da in der Hand hast, dann begrüße ich dich auch vernünftig“, sagt Stegener und deutet auf Normans Chromstift hin.
Ohne etwas zu sagen, steckt Norman diesen in seine Hosentasche, begrüßt Stegener dann aber nicht mehr.
„Auf den Tisch damit!“, befiehlt Stegener dann.
Norman reagiert nicht.
„Ich sage es ungern zweimal. Auf den Tisch mit dem Chrom-II.“
„Woher wissen Sie, dass …?“
„Oh, Junge, du hältst dich wohl für besonders schlau, oder? Meinst du etwa, ich glaube an die Bienchen und die Blümchen? Da solltest du mal ein wenig früher aufstehen. Austricksen kannst du mich nicht. Ich bin keiner dieser perfiden Anhänger, die ihr eigenständiges Denken an der Staatsgrenze abgegeben haben. Schnösel! Und nun auf den Tisch mit dem Chrom-II.“
Dann wendet Stegener sich Roberto zu.
„Wer ist das überhaupt? Warum hast du den hier angeschleppt?“, fragt er.
„Er ist ein Freund und er weiß viel. Und er hat mir geholfen, ein weiteres Mal dem JND-Knast zu entkommen.“
Mittlerweile liegt der Chrom-II-Stift auf dem Schreibtisch Stegeners und dieses Mal ist es Norman, der ein beleidigtes Gesicht macht.
Stegener nimmt den Stift in die Hand und begutachtet ihn.
„Wie viele Menschen hast du damit auf dem Gewissen?“
„Ich habe zwei Wärter eliminiert.“
Stegener ruft Luisa zu sich.
„Bringen Sie bitte dieses Ding zum Reinigen, die kleinen Viecher müssen darauf entfernt werden.“
„Aber ich brauch ihn wieder.“
„Was du brauchst und was nicht, entscheidest hier in diesem Haus nicht du. Der Stift wird erst gesäubert. Ich will hier keinen Mist in der Wohnung. Roberto, Kaffee?“
Roberto nickt.
„Ach Luisa, bringen Sie meinem Freund und diesem Typen hier doch noch einen Kaffee, ich bin noch versorgt, danke.“
„So, da du hier nun mit einem IIer-Stift herumläufst und mir damit die Hand geben wolltest, gehe ich mal recht in der Annahme, dass du austesten wolltest, ob ich verändert bin. Wie du siehst, bin ich es nicht. Oder ich bin immun. Es reagiert nicht jeder Veränderte auf Chrom-II. Also hätte dein Versuch auch mächtig in die Binsen gehen können. Letztendlich ist dieses Teil sogar wertlos. Kahls Minister sind alle auf chromophob programmiert. Nichts zu machen. Die sind abgesichert. Aber einmal eine andere Frage. Woher ist dir das bekannt? Bist du etwa der Assistent aus dem Labor in Island, das für die JND arbeitet?“
„Ja. Ich bin Norman Sörensen.“
Stegener steht auf und reicht ihm die Hand.
„Dann bist du natürlich ein gern gesehener Gast in diesem Haus.“
Beim Händedruck sackt Norman leicht zusammen und macht ein schmerzerfülltes Gesicht. Stegener lässt los und Norman beginnt leicht zu husten.
„So! Siehst du? Test bestanden. Nur Schmerzen und leichter Hustenreiz auf der Lunge. Alles gut. Nicht verändert. Jeder subelitröse Typ, egal, ob chromresistent oder nicht, wäre jetzt nicht mehr da. Nun setz dich wieder, du Weichei! Du bist doch ein Mann und kein Kleinkind! Oder Sörensen?“
„Du hast ja Tränen in den Augen!“, ruft Roberto besorgt. „Alles in Ordnung bei dir?“
„Die Schmerzen verursachen den Tränenfluss. Das geht vorüber. Er kann halt nicht so viel ab“, entgegnet Stegener und stößt ein lautes Lachen aus.
„Nein, das sind nicht die Schmerzen. Es waren die Bilder in meinem Kopf. Bilder von den Träumen, die ich habe. Diese furchtbaren Träume, die mich nicht mehr loslassen.“
Stegeners Lachen verstummt. Er blickt tief in Normans Augen.
„Setz dich mal hier her, mein Junge!“, sagt er leise zu ihm. „Was sind das für Träume, die dich plagen? Erzähl mir das genauer.“
*
Gleich zu Beginn meiner Ausbildung in dem isländischen Forschungslabor hatte ich nachts diese ständig wiederkehrenden Albträume. Ich sah Menschen, die hungernd und durstend vor mir lagen, mich anbettelten und um Hilfe flehten. Sie waren in einem körperlich sehr bedenklichen Zustand. Nackt und wimmernd krochen sie auf dem Fußboden, versuchten, nach mir zu greifen und mich festzuhalten. Sie schauten mich an, als wäre ich ihr Retter, ich konnte aber nichts tun. Wie gelähmt stand ich vor ihnen und schaute auf sie hinab. Mein Herz begann, laut zu pochen, mein Atem ging schwer, dann wachte ich schweißnass in meinem Bett auf. Diese Bilder jedoch trug ich von dem Tag an in meinem Kopf, sie verschwanden nicht mehr. Ganz im Gegenteil. In einer der folgenden Nächte begegnete mir meine große Liebe Sarah im Traum. Sie kam auf mich zu, umarmte und küsste mich. Ich war glücklich und so zufrieden. Dann merkte ich jedoch, dass es gar nicht Sarah, sondern einer dieser Menschen aus den Träumen zuvor war, der mich küsste. All meine Befreiungsversuche misslangen. Völlig aufgelöst schrie ich um Hilfe, es war jedoch niemand da. Als ich wach wurde, spürte ich sogar noch den Druck auf meiner Brust.
Immer wieder kam es zu neuen Schlaferlebnissen. Ständig waren diese Menschen präsent. Diese Bilder, zu jeder Sekunde trug ich sie vor meinen Augen.
*
„Hat dein Vater dafür gesorgt, dass du die Position im isländischen Forschungszentrum bekamst?“
Norman nickt.
Sofort ruft Stegener seine Assistentin ins Büro.
„Meine liebe Luisa. Sie haben mal wieder die ehrenwerte Aufgabe, etwas für mich in Erfahrung zu bringen. Dem Vater von Norman Sörensen, der hier seit heute unser Gast ist, müssen wir einmal ein wenig auf den Zahn fühlen. Kurzum – ich müsste wissen, ob er erstens einen hohen Rang hat, zweitens verändert ist und drittens in direktem – wenn auch geheimem - Kontakt zur Regierung steht. Wie lange benötigen Sie dafür?“
„Geben Sie mir eine Stunde“, antwortet Luisa und lächelt ihren Vorgesetzten an.
„Das hört sich gut an. Ich weiß doch, dass ich mich auf Sie immer verlassen kann.“
Luisa verlässt den Raum und zieht die Tür hinter sich zu. Stegener wendet sich sofort wieder Norman zu.
„Diese Träume - hörten die irgendwann auf?“
Norman schüttelt den Kopf. Zitternd greift er nach seiner Zigarettenschachtel und zeigt fragend darauf. Stegener nickt mit ernster Miene. Roberto schaut unterdessen teilnahmslos aus dem Fenster, fast so, als würde er sich langweilen. Draußen herrscht schon wieder reges Schneetreiben. Man kann den Wind hören, wie er um die Ecke pfeift. Kahle Bäume zieren den Hof des Hauses, auf dem mittlerweile zwei Staatskarossen versteckt gehalten werden. Norman erzählt weiter, wie intensiv seine Erlebnisse in der Nacht wurden und wie zahlreich sich die Bilder in seinem Kopf wiederholten. Roberto hört nicht mehr zu. Er fragt stattdessen auch nach einer Zigarette und einem weiteren Kaffee und hofft, dass diese Unterhaltung bald ein Ende findet.
Dann geht die Tür auf und Luisa betritt den Raum. An ihrer Mimik kann man sehen, dass etwas nicht stimmt. Sie hält Stegener eine Mitteilung unter die Nase und runzelt die Stirn.
„So Junge, du musst sofort in einen sterilen Raum. Sonst haben sie euch gleich wieder und ich fliege auf. Sofern es noch nicht zu spät ist. Also schnell. Wir haben keine Zeit.“
Norman weiß nicht, wie ihm geschieht. Stegener packt ihn und schleift ihn weg. Roberto erschrickt, steht jedoch nur fassungslos daneben und tut nichts.
„Wo haben Sie ihn hingebracht?“, fragt er, als Stegener zurückkommt.
„Es ist nur zu seiner Sicherheit. Man hat ihn mit einer Art Sender ausgestattet. Wann genau das passiert ist, kann ich nicht sagen. Dieser Sender kann sein Gedankengut jederzeit an die Regierung senden. Außerdem kann man ihn darüber auch überall orten.“
„Das passt für mich alles nicht zusammen“, antwortet Roberto. „Wenn die JND dazu in der Lage ist, weshalb wussten sie nicht, wo er den Chrom-II-Stift versteckt hat? Sie folterten ihn, setzten ihn und auch mich im Knast unter Druck und jetzt höre ich von einem Sender. Das glaube ich nicht und das verstehe ich nicht. Also holen Sie ihn bitte wieder her.“
„Nein Roberto, das kann ich nicht tun“, lenkt Stegener ein.
„Diese Träume, die er hat, die werden direkt aus dem Regierungszentrum in seinen Kopf projiziert. Man will ihn damit gefügig machen. Sein Vater wusste, wie intelligent sein Sohn ist, und hat das der Regierung in Auftrag gegeben. Er soll für sie arbeiten, ohne dass er es mitbekommt. Zunächst habe ich ihn in einen Raum gebracht, in dem dieser Sender keine Signale mehr weitergeben kann. Somit können auch keine Träume mehr in seinen Kopf gesetzt werden. Es kommt gleich ein Arzt, der wird den kleinen Störenfried entfernen, solange bleibt er dort.“
„Wenn die eh schon alles wissen, weshalb ergreifen sie uns nicht?“
„Manchmal bist du doch ein wenig blauäugig. Dieser Staat lebt vom Informationsfluss. Die Regierung weiß, dass sie Widersacher hat. Sie haben sich euch zunutze gemacht und über den Sender abgehört.“
„Das erklärt nicht den Chrom-II-Stift! Er konnte zwei von den Typen damit erledigen.“
„Ein wenig Schwund ist immer Roberto!“
„Nein! Das glaube ich nicht. Wo ist der Haken? Chrom-II ist der Feind der Republik, die durch subelitröse Veränderungen aufrechterhalten wird. Dieser Gefahr wird sich auch ein Jo Kahl nicht aussetzen.“
Stegener gerät ins Zweifeln. Für einen Moment ist er sehr still. Er scheint sich eine Antwort zu überlegen, schaut auf den fallenden Schnee, der den Innenhof immer mehr bedeckt. Dann geht er zum Schrank und gießt sich einen Scotch ein.
„Der ist fünfundzwanzig Jahre alt. Aus den Zeiten der Bundesrepublik, Zeiten, in denen Berlin noch Hauptstadt war. Ach was soll’s.“
Dann verstummt er wieder und leert das Glas in einem Zug.
„Der Junge scheint schlauer zu sein, als man denkt. Sein Unterbewusstsein scheint zu verhindern, dass bestimmte Informationen an die Oberfläche gelangen.“
„Nicht ganz einleuchtend, aber das würde auch erklären, weshalb niemand von denen hier ist.“
„Mag sein Roberto, mag sein!“
Stegener geht zur Tür hinaus und zieht sie hinter sich zu. Normans Zigaretten liegen noch auf dem Tisch. Roberto nimmt sich eine davon heraus und zündet sie an. Ein Blick aus dem Fenster verrät ihm, dass es noch immer unentwegt schneit. Luisa fragt ihm selben Moment noch einmal nach einem Kaffee. Ohne sich zu ihr umzuschauen, winkt er ab und schüttelt den Kopf.
Gedankenversunken zieht er an dem Glimmstängel.
Hastig inhaliert Roberto den Rauch ein und lässt ihn für einen Augenblick tief in seiner Lunge verschwinden. Der fallende Schnee sieht ein wenig gräulich aus, als er zu Boden fällt, nicht so frisch und weiß, wie er dieses aus seiner Kindheit kennt. Er stutzt und wendet sich vom Fenster ab, schaut auf den PC, der auf Stegeners Schreibtisch steht – hochgefahren und betriebsbereit. Spontan steigt die Neugier in ihm hoch. Vorsichtig bewegt er die Maus, der Bildschirmschoner gibt den Blick auf ein nicht verschlüsseltes Manuskript frei. Ohne es wirklich bewusst zu wollen, beginnt er zu lesen.
»Augenblicklich spürte ich wieder meine schmerzenden Beine, der Frost war unerträglich. Hastig rannte ich den schmalen Waldweg hinunter. Ich schaute mich nicht mehr um. Mein Magen drehte sich, als hätte ich etwas Schlechtes gegessen. Warum nur konnte diese Regierung mich so in den Bann ziehen?«
Es sind Notizen von Bürgern, die sich der JND verschworen haben und Zweifel hegen. Bedenken, die auch Roberto besitzt.
»Ich kam in einen Raum, der einer Arztpraxis glich. Alles roch sehr steril. Eine Krankenschwester kam zu mir und band mir den Arm ab. Dann bekam ich eine Spritze. Augenblicklich wurde mir schwarz vor Augen. Irgendwann wachte ich wieder auf und hatte nur noch die JND im Kopf. Mir war übel, als hätte ich mich übergeben müssen. Was war nur passiert?«
Roberto klickt auf die nächsten Seiten.
»Ich hatte damals die SPD gewählt. Somit war ich ein Außenseiter. Als es dann zu dem Regierungswechsel kam und die Bundesrepublik Geschichte war, musste ich zu einer Pflichtuntersuchung. Man wollte mich auf Tauglichkeit mustern. Eine Überprüfung in der Art hat jedoch niemals stattgefunden. Lediglich eine Spritze rammten sie mir in den Arm. Kurz verlor ich das Bewusstsein, doch bereits ein paar Stunden später wusste ich, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.«
„Roberto! Wach auf!“, spricht er leise vor sich hin.
Dann rennt er zur Tür und ruft laut über den Flur.
„Luisa! Luisa! Wo ist Stegener? Ich muss ihn sofort sprechen.“
Luisa zuckt unwissend mit den Schultern, darauf drückt Roberto sie in die Ecke. Sie will schreien, doch er hält ihr den Mund zu.
„Sag mir sofort, was hier abgeht. Ich habe auf dem PC Sachen gelesen. Ich denke, ich hab genug. Was ist hier los?“
„Er ist … bei deinem Freund. Der Arzt ist jeden Moment bei ihm. Geh hin, bevor es zu spät ist. Der Behandlungsraum, er ist unten. Nimm den Fahrstuhl bis ins zweite Untergeschoss, dann rechts den langen Gang hinunter … und hier, nimm den Stick mit.“
Roberto greift nach dem Chrom, lässt dann von Luisa ab und hastet in Richtung Fahrstuhl. Sein Atem geht schnell, fast bleibt ihm die Luft weg, als er die langen Gänge des Kellers entlangläuft. Ein Mann in weißem Kittel kommt ihm entgegen. Seine Blicke mustern ihn unfreundlich. Roberto überlegt, sofort zu handeln. Seine Hände zittern. Zumindest muss er es versuchen, es ist seine einzige Chance. Er nimmt den Stick und haut zu – und der Typ sackt zusammen wie ein Kartenhaus.
„Strike!“, murmelt Roberto vor sich hin.
Noch wenige Meter bis zum Behandlungsraum, Robertos Herz pocht wie wild. Dann reißt er die Tür auf und erwischt Stegener, als er Norman gerade festbindet. Ein weiteres Mal muss Roberto es versuchen, doch blitzschnell erinnert er sich an Stegeners Resistenz. Roberto reagiert instinktiv. Er geht auf Stegener zu, der steht jedoch auf und will Robertos Angriff entgegenwirken. Norman stellt ihm jedoch mit seinem linken freien Fuß ein Bein, Stegener fällt zu Boden und Roberto setzt ihm den Stick instinktiv direkt in seine Halsschlagader. Sofort geht Stegener zu Boden und ringt nach Luft. In Windeseile bindet Roberto Norman los.
„Du bist ja doch nicht so ein Dummkopf“, flüstert Norman und lächelt Roberto an.
„Er wollte dir nicht helfen, er hatte auch niemals vor, einen Sender zu entfernen. Den gibt es gar nicht. Das Einzige, was er vorhatte, war, dich zu verändern.“
„Aber woher weißt du das denn auf einmal?“
„Sein PC, ich habe etwas gelesen, da ist mir ein Licht aufgegangen. Komm, wir verschwinden.“
Roberto zieht den Stick aus Stegeners Hals und beide verlassen fluchtartig den Raum.
„Wir nehmen die Treppe, der Aufzug kann gefährlich sein!“, ruft Norman Roberto zu.
„Wir dürfen Luisa nicht vergessen. Sie hat mir geholfen, wir nehmen sie mit“, entgegnet Roberto und läuft noch einmal in die Wohnung.
Mit der hochgewachsenen Dame im Schlepptau verschwinden sie in Richtung Staatskarosse. Im dichten Schneetreiben fahren die drei vom Hof und biegen ab in Richtung Autobahn.
„Ich konnte dieses System nie leiden. Schon als Junge wollte ich den Tod meiner Mutter rächen. Deshalb war mir nicht klar, weshalb ich an dem Abend, an dem ich Kahl töten sollte, plötzlich für die JND sympathisierte.“
*
Bei einem meiner letzten Versuche fand ich heraus, dass Subelitronen auf verschiedene Art und Weise verabreicht werden können. Die komplexeste Art ist die intravenöse Zufuhr in Verbindung mit einem Nervengift. Dann nehmen die Teilchen sofort Besitz vom abgestorbenen Körper. In Getränken oder Speisen verabreicht können die Dinger das menschliche Gehirn nur zeitweilig beeinflussen. Von Heimfelds verglich das in seinen Schriften mit der Verabreichung einer Droge. Ich baute ein Experiment nach, das ich an Mäusen testete. Die Versuchsobjekte waren zwei Tiere gleichen Alters und derselben Rasse, genetisch fast identisch, und programmierte die Subelitronen auf Bissigkeit. Der Maus Nummer eins injizierte ich eine Konzentration von einem Mol pro Liter, angereichert in der bekannten Nervengiftlösung. Nach kurzer Bewusstlosigkeit hatte ich ein bissiges Vieh herangezüchtet. Der zweiten Maus gab ich dieselbe Konzentration in Wasser zu trinken. Auch sie wurde bissig, doch nach zwei Stunden war sie wieder lammfromm. Somit war diese Studie auch für mich bewiesen.
*
„Aber deine Träume!“
„Nix da … Träume. Hab ich mir ausgedacht. Ich habe Stegener nicht getraut. Aber er war stärker und allem Anschein nach resistent, deshalb musste ich mir was einfallen lassen. Einmal Dummkopf, immer Dummkopf. Mir war klar, dass ich ihn damit verunsichern konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mich fortzuschaffen und unwirksam zu machen. Ich habe mich dabei zwar auf sehr dünnes Eis begeben, doch ich habe fest damit gerechnet, dass du mich da irgendwie rausholst. So ein Dummkopf bist du ja nun auch wieder nicht.“
Norman fährt Berlin-Mitte auf die Autobahn in Richtung Westen. Luisa sitzt auf dem Rücksitz und lächelt. Ihr Gesichtsausdruck wirkt befreit. Unter den Rädern der schweren Karosse ist der Schnee kaum zu spüren. Die Straße ist wie leergefegt, kein Lkw, kaum ein Auto. Ihr Ziel – Ruhrstadt!
Für eine Weile herrscht Stille im Auto. Robertos Augen sind gerötet und müde. Bereits nach kurzer Zeit schläft er ein. Immer wieder schaut Norman in den Rückspiegel und beobachtet Luisa, fast so, als wollte er in sie hineinschauen und ihre Gedanken lesen. Luisa bleibt das nicht verborgen und sie wirkt dadurch sichtlich unsicher. Ihre Hände krampfen ein wenig und ihr Blick weicht dem von Norman immer wieder aus. Unruhig rutscht sie auf dem Rücksitz hin und her.
„Ich kenne dich!“, rutscht es Norman zum guten Schluss förmlich über die Lippen.
Luisa erschrickt.
„Ich weiß auch woher!“, fährt Norman fort und unterstützt seine Aussage nickend, während er sie immer weiter mustert.
„Du warst in Island im Forschungszentrum, vor etwa einem halben Jahr.“
Luisa schüttelt den Kopf.
„Du musst mich verwechseln“, antwortet sie und lässt ihre Blicke ausweichend umherschweifen.
„Nein. Ich irre mich nicht. Du warst das.“
Luisa schaut verschämt nach unten. Noch immer steht ihr Körper stark unter Druck. Von der vorherigen Leichtigkeit ist nichts mehr zu spüren.
„Ich hatte doch keine Ahnung, woher sollte ich denn wissen, dass …“
„Zumindest gibst du es zu“, unterbricht Norman.
Luisa nickt. Für einen Moment herrscht wieder Stille. Der Schneefall lässt allmählich nach. Die Temperaturanzeige steht zu diesem Zeitpunkt auf fünf Grad unter null.
„Wir brauchen Sprit. Dummkopf wach mal auf. Wir müssen tanken“, ruft Norman nach einiger Zeit.
Roberto antwortet irgendetwas im Halbschlaf und dreht sich zur Fensterseite um.
„Ich weiß, wo der nächste Zapfpunkt ist und könnte mit einer Tankkarte aushelfen“, bietet Luisa an.
Norman beginnt zu lächeln. Sein Blick wirkt längst nicht mehr so verbissen wie noch Minuten zuvor.
„Ich vertraue dir, aber lass mich bitte gucken, ob die Karte gechipt ist!“
Luisa grinst.
„Ich bin doch nicht dumm. Der Chip ist deaktiviert. Keine Verfolgung möglich. Und wenn schon, du hast doch den Stift. Fahr hier bitte die nächste Ausfahrt heraus.“
Norman setzt den Blinker. Vereinzelte Sonnenstrahlen brechen durch die aufgelockerte Bewölkung. Das Thermometer zeigt noch zwei Grad unter null an.
„Gibt es eine Videoaufzeichnung an der Tankstelle?“
„Ja, sie ist sogar mit der Zentrale verbunden.“
„Okay, lass mich machen …“
Norman fährt an die Zapfsäule, geht zum Kofferraum und zieht sich eine JND-Offiziersjacke über. Dann füllt er das Auto mit Benzin und geht in den Verkaufsraum.
„Hoch im Dienst junger Herr, bitte geben Sie mir Zugang zum System!“, befielt er dem Kassierer, der ihm sofort Platz macht.
„Die Videoaufnahme ist beschlagnahmt, Anweisung aus seiner Ruhrstadt. Meine Assistentin wird die Rechnung begleichen.“
„Vielen Dank junger Herr und gute Geschäfte“, fügt Luisa hinzu, nachdem sie ihre Karte hat durchziehen lassen.
Dem Kassierer steht noch der Mund offen, als die Karosse vom Hof fährt. Norman grinst, Roberto schläft und die Temperatur liegt genau bei null Grad.
Wieder ist es still im Fahrzeug. Luisa schaut gelangweilt aus dem Fenster. Normans Blick wirkt sehr konzentriert.
„In einer Stunde ist es soweit, dann kommen wir in den Speckgürtel. Ich bin mir nicht sicher, aber es kann sein, dass wir ein wenig Action bekommen“, spricht er schließlich Luisa wieder an.
„Immerhin hat es ja bislang keine echten Widersacher gegeben. Aber jetzt haben sie welche, das wissen sie natürlich. Wir sollten aufpassen“, fährt er fort.
„Wo genau willst du eigentlich hin?“, fragt Luisa.
„Wo ich hin möchte? Ich sag es dir. Ich fahre zu meinem Vater.“
„Was willst du dann von ihm?“
„Luisa, frag bitte nicht so dumm. Du weißt genau, was ich vorhabe. Ich werde ihm mal ordentlich die Meinung sagen und ihm zeigen, dass sein Sohn weder ein Schwerverbrecher noch ein Rowdy ist, sondern ein hochintelligenter junger Mann, der sich lediglich nicht alles bieten lässt.“
Luisa schaut Norman fragend an. Sie scheint nicht verstanden zu haben, was in Normans Kopf vor sich geht. Deshalb zieht sie es vor, zu schweigen. Wieder herrscht Stille im Fahrzeug. Der Speckgürtel seiner Ruhrstadt nähert sich und das Thermometer zeigt leichte Plusgrade. Die hohen Schneemassen an den Straßenseiten beginnen allmählich zu tauen. Langsam wird auch Roberto wieder wach. Schlaftrunken fragt er Norman, wo sie sich denn befinden würden, doch dieser antwortet ihm lediglich mit einem kurzen „Halt die Klappe, Dummkopf!“
Auf seinem Stadtring wird der Verkehr ein wenig dichter. Die Karosse, mit der die Drei unterwegs sind, geht in der Menge völlig unter. Sie scheinen sich in keinerlei Gefahr zu befinden. Allein diese Umgehung umfasst eine Gesamtstrecke von 242 Kilometern und 647 Abfahrten zur linken oder zur rechten Seite. Die große Regierungszentrale seines Landes befindet sich direkt im Zentrum seiner Stadt. Abnorme Gebäude in moderner Glasbaukunst reichen bis an die teils übernommenen Leitplanken aus der Zeit der Bundesrepublik heran. Alle Stadtparks sind plan ausgerichtet und die künstlich gepflanzten Bäume stehen in gleichmäßigen Abständen auseinander. Sogar die Normgrößen für Parkbänke sind in den Gesetzen seiner Republik festgelegt und unabdingbar einzuhalten.
In seiner Stadt gibt es keinen Unrat und keine Obdachlosen. Die waren bereits kurz nach der Übernahme irgendwie verschwunden. Unter den wenigen Gegnern munkelt man, sie wären verschleppt, in Arbeitslager gesteckt oder ausgewiesen worden. Andere wissen es jedoch besser. Seine Innenstadt gleicht einer pompösen Einkaufszentrale. Der Zutritt ist nur als JND-Mitglied zulässig. Aber was wird schon benötigt? Die Uniform seiner Armee ist ein Einheitsbrei, ebenso die Dienstkleidung seiner industriellen Mitarbeiter. Kinderhütende Frauen tragen meist die gleichen Röcke und Oberteile, das Essen wird in vorgeschriebenen Portionen verabreicht.
WILLKOMMEN IN DER RUHRSTADT – PLEASANTLY WELCOME TO RUHRTOWN
Trotz der sich kilometerweit erstreckenden Wolkenkratzer wirkt die Stadt einladend, abgesehen vom Rest des Landes, der mehr oder minder verrottet. Sie weckt die Neugier eines Fremdlings, was genau hinter dieser Fassade stecken mag. Diverse Sektoren sind für die vereinzelten Abwicklungen und für die Funktionalität des Systems verantwortlich. Geheime Intranetverbindungen nach modernstem Standard sorgen für die innerstaatliche Koordination und die erforderliche Sicherheit.
Norman bewegt sich auf diesem Stadtring und fährt direkt auf den sogenannten Zellkern zu. Luisas Arme und Beine sind erneut angespannt, ihr Blick wirkt nervös. Roberto zündet drei Zigaretten an. Eine reicht er Norman herüber, die Zweite gibt er Luisa. Eigentlich raucht sie nicht, sie nimmt sie jedoch trotzdem an und zieht panisch daran, während Roberto locker aus dem Fenster ascht. Das Thermometer zeigt mittlerweile vier Grad über null an.
*
„Roberto, verdammte Scheiße, wach auf!“
Norman steht vor seinem schlafenden Freund und schüttelt ihn heftig. Dieser reagiert jedoch nicht. Immer wieder ruft Norman ihn beim Namen, bis er den bewusstlosen, flach atmenden Körper schließlich auf dem Rücksitz in die stabile Seitenlage bringt. Luisa sieht teilnahmslos zu. Ihr Blick ist leer und ihr Mund steht offen. Sie scheint in eine Art Starre gefallen zu sein.
„Komm Mädchen, setz dich wieder ins Fahrzeug. Roberto muss zu einem Arzt, bevor es zu spät ist“, raunzt Norman sie an und packt sie forsch am Arm.
Luisa schießen die Tränen in die Augen. Ihre Hände zittern und aus der Nase läuft ein wenig Blut. Norman beachtet das nicht weiter. Ständig schaut er zu Roberto. Hastig startet er den Motor und fährt mit Vollgas aus der Metropole.
„Luisa, versuch ihn zu wecken. Na los! Tu was!“, schreit Norman, während er die Geschwindigkeit immer weiter erhöht, doch die Angesprochene antwortet nicht.
Kopfschüttelnd lenkt er das Gefährt weiter stadtauswärts auf direktem Weg zu einem seiner vertrauten Mediziner. Ungefähr eine halbe Stunde später erreicht er sein Ziel. Mit quietschenden Reifen parkt er vor der Tür, sprintet aus dem Fahrzeug und hievt seinen teilnahmslosen Freund vom Rücksitz. Speichel fließt Roberto aus dem Mund und die Hose ist ebenfalls nass. Norman versucht krampfhaft, sich auf den Beinen zu halten. Trotz des Tauwetters ist der Gehweg noch relativ rutschig. Mit flatterigen Händen klingelt er ununterbrochen bei dem Mediziner. Ein Türsummer geht.
„Doktor Erlenbach! Gut, dass Sie da sind. Mein Freund hier, er ist getroffen worden, von einem dieser Pfeile! Sie wissen schon.“
„Komm herein, Norman. Mein Gott, du siehst aber schlecht aus. Ich werde gleich auch mal nach dir sehen“, lenkt der Arzt ein und zieht eine besorgte Miene.
„Machen Sie sich um mich keine Gedanken. Aber unsere Begleitung, die Frau, die im Auto sitzt, sie muss auch versorgt werden.“
„Was ist mit ihr?“
*
Vielleicht sollte man sich zunächst die Frage stellen, wer das überhaupt ist. Lediglich ihr Vorname ist mir bekannt. Luisa! Mein Verhältnis zu ihr ist gespalten, besser gesagt, ich vertraue ihr nicht. Vor einiger Zeit sah ich sie im Labor in Island. Sie unterhielt sich sehr lange mit dem Professor. Ein paar Brocken davon konnte ich aufschnappen. Es ging um die subelitröse Veränderung der Mitmenschen, die eigentlich keine Bedeutung für die JND hätten und um deren endgültige Exekution. Damals konnte ich mir nicht unbedingt einen Reim darauf machen. Diese Leute waren doch schon tot – zumindest dachte ich das. Von der Umkehrfunktion - einer Art Reinkarnation – war mir nichts bekannt. Das weiß ich selbst erst seit einigen Stunden. Aber abgesehen von ihrer Aufgabe in diesem Staat – sie ist heute früh in eine Starre verfallen, kurz nachdem Roberto von diesem Scheißpfeil getroffen wurde. Ich war unachtsam, ein echter Vollidiot.
*
„Wenn er jetzt stirbt, dann ich schuld an seinem Ableben. Mir hätte bewusst sein müssen, dass ich ohne Sicherheitsvorkehrungen nicht in den Regierungsbezirk hätte eindringen dürfen. Dieses Mal bin ich wohl der Dummkopf.“
„Zunächst werden wir deinem Freund wieder auf die Beine helfen. Zum Glück ist er sonst gesund und hat ein solides Immunsystem. Sein Kreislauf ist stabil, ich muss ihn nur zurückholen, doch damit kenne ich mich aus. Wie lange wirkt das Serum schon?“
Einen Augenblick lang überlegt Norman.
„Etwa neunzig Minuten ist es her. Es geschah kurz vor unserem Ziel. Er hatte nur die Fensterscheibe unten und dann ging alles so schnell.“
„Die Stadt ist gefährlich. Vor allem, wenn man unangemeldet in diese Zonen eindringt“, entgegnet der Arzt und zieht eine Spritze auf, um Roberto diese zu verabreichen.
„Aber sie hätten mich erkennen müssen. So etwas ist ein Verbrechen“, wirft Norman mit erregter Stimme ein.
„Mein lieber Norman. Sie wussten garantiert, auf wen sie zielen. Informiere dich besser, du musst ihnen immer einen Schritt voraus sein. Nur so kannst du überleben und allem hier trotzen. Bevor du nach Island gingst und ich dich untersucht habe, da gab ich dir einen Tipp mit auf den Weg. Traue niemandem außer dir selbst, auch wenn es dein engster Freund ist. Lass keinen an deinem Wissen teilhaben und denke ausschließlich nur an dich.“
Für einen Moment hält Norman inne.
„Dann bin ich wohl ein Versager. Ich habe viel zu viel ausgeplaudert.“
„Naja, dein Freund hier, ich sehe das Branding. Er ist doch bekannt. Das ist doch …“
„Ja, es ist Carlos! Eigentlich Roberto Trottoni.“
Plötzlich murmelt Roberto etwas Unverständliches und wirft dabei hektisch seinen Kopf hin und her.
„Er hat noch einmal Glück gehabt“, wirft der Arzt ein. „Es hätte schlimmer ausgehen können.“
„Wo bin ich? Wer sind Sie?“
„Roberto, du bist hier in Sicherheit. Du bist von einem dieser abartigen Dinger getroffen worden und ich habe dich zum Arzt gebracht“, versucht Norman, ihn zu beruhigen, doch Roberto schaut ihn nur fassungslos und mit unverständlichem Blick an.
„So! Ich werde mich jetzt mal um die Dame draußen kümmern“, ergänzt der Mediziner und verlässt den Behandlungsraum.
„Norman“, spricht Roberto mit leiser Stimme. „Ich habe dir nicht alles erzählt.“
„Dann ergänze!“
„Als ich in den Verhörraum kam, ist noch viel mehr passiert. Ich habe es verschwiegen, weil ich das nicht glauben konnte. Die Person, die ich anfangs nur schemenhaft erkannte – ich war ihr schon einmal begegnet. Es war Stegener! Er hat mich unter Druck gesetzt, dich zu bespitzeln, aus dir herauszukitzeln, wie du funktionierst. Anfangs hielt ich das für einen Streich meiner Fantasie. Es war alles von vorn bis hinten durchgeplant. Vom Attentat bis zu meiner Verhaftung. Es gab von Beginn an eine genaue Strategie und ich bin mir nicht mehr sicher, wie weit diese geht. Was ist alles vorbestimmt? Ist auch etwa geplant, dass wir hier sind? Inwiefern werden wir vom Staat manipuliert? Was macht diese Regierung mit uns?“
„Endlich fängst du an zu denken, Dummkopf! So gefällst du mir. Wir werden diesen Kampf fortführen – und siegen.“
Instinktiv geht Norman zum Fenster und schaut hinaus. Das von ihm geparkte Auto ist verschwunden. Ebenso Luisa. Doktor Erlenbach liegt leblos am Boden. Blut läuft an seiner Stirn hinunter und vermischt sich mit dem angetauten Eis. Der Himmel hat sich in der Zwischenzeit noch weiter aufgeklärt und ist mittlerweile so blau wie an einem heißen Sommertag. Am Horizont ist nicht eine Wolke zu sehen.
Roberto versucht, einen klaren Kopf zu bewahren. Doch so sehr er sich auch bemüht, es gelingt ihm nicht, nachzudenken. In seinem Gehirn fühlt sich alles so verwaschen an.
„Roberto, wir müssen ihm helfen! Nun komm, bevor es zu spät ist“, ruft Norman ihm zu und stürzt nach draußen.
Noch etwas benommen geht Roberto seinem Freund hinterher. Wegen des viel zu grellen Sonnenlichtes kneift er die Augen zusammen und zieht dabei die Stirn kraus.
„Doktor Erlenbach, so wachen Sie doch auf. Bitte!“, schreit Norman unterdessen verzweifelt. „Nun sei doch nicht so ein Dummkopf und tu etwas. Komm, wir tragen ihn hinein und versuchen, ihn in irgendeiner Form wiederzubeleben.“
„Keine Chance. Er ist tot. Schau mal hier“, antwortet Roberto kopfschüttelnd und deutet mit der Hand auf ein Ding, das in Erlenbachs Arm steckt.
„Das kann nicht sein, Roberto. Er war auf keinen Fall verändert. Das hätte ihn kaltlassen müssen. Und vor allem, woher hat Luisa diesen Chromstick?“
„Ich kann dir deine Wissenslücken nehmen. Und danach wirst du mich nicht mehr für einen Dummkopf halten.“
„Okay, erzähl, aber wir helfen dennoch dem Doc!“
*
Bei Stegener sind mir noch einige Texte in die Hände gefallen, über die ich noch nicht gesprochen habe, weil ich sie entweder nicht verstanden oder nicht wahrhaben wollte. Doch jetzt ergibt alles einen Sinn. Dieser Staat existiert nur durch Vorbestimmung. Sämtliche Dinge, die passieren, müssen genau zu dieser Zeit geschehen. Selbst das Einlenken unsererseits, die Vernichtung der veränderten Gesellschaft durch Chrom II und sogar unsere Inhaftierung oder der Ausbruch … es ist ohne Ausnahme geplant.
Nun steht die Frage im Raum, wie bekommt eine solche Regierung so etwas hin? Wer weiß wovon und wo sitzen die Drahtzieher? Die Antwort ist einfach. Es gibt keine! Niemand weiß etwas, nur diese kleinen Dinger sind die Informationsgeber, sie wollen sich verbreiten und von möglichst vielen Zellen Besitz ergreifen. Subelitronen sind so intelligent, dass sie sogar über den ursprünglichen Verwender die Kontrolle übernehmen können. Sie zwingen dich zu etwas, was du gar nicht möchtest, vor allem, wenn du von ihnen weißt. Norman Sörensen, als du zum allerersten Mal von der Existenz dieser subatomaren Masse gehört hast, hat es dich nicht mehr losgelassen, du wurdest süchtig nach Wissen. Ebenso erging es mir. Du erzähltest mir davon und schon war ich infiziert. Sofort wollte ich alles genau verstehen lernen, ich hatte nichts anderes mehr im Kopf als diese Subelitronen.
*
„Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, denn ich denke, dass nicht Jo Kahl dieses Land regiert, sondern kleine Teilchen, die am liebsten jeden Zellkern austauschen und lenken möchten. So viel zu diesem Thema und zum Dummkopf. Vielleicht – und das müssen wir bedenken – ist es sogar der Wille der Elis, dass ich dir das erzählen soll. Aber egal, wie wir uns verhalten, es kann immer so gewollt sein. Das bedeutet für uns, nicht nur doppelt, sondern dreifach aufzupassen. Luisa hat nicht aus freiem Willen gehandelt, es war ihr so vorgegeben, eigentlich ist sie okay. Aber vielleicht ist es auch völlig anders, eine Garantie gibt es nirgends.“
Norman überlegt einen Augenblick, dann senkt er die Augen, schließt sie und es quellen ein paar Tränen unter den geschlossenen Lidern hervor. Der leblose Körper des Arztes liegt mittlerweile in dessen Behandlungsraum.
„Wie kann ich sicher sein, dass du mir die Wahrheit erzählst, Trottoni?“
„Das kann ich dir nicht beantworten, ich weiß es selbst nicht, vielleicht haben auch mir Subelitronen befohlen, dir das so zu sagen. Es gibt keine Garantie. Manchmal glaube ich, dass nichts von dem, was hier geschieht, tatsächlich passiert.“
Erneut geht Norman in sich. Dann zieht er dem Arzt den Stick aus dem Arm, schaut wieder zu Roberto und sagt: „Komm! Jetzt will ich es wissen!“
„Was hast du vor?“, entgegnet Roberto erstaunt, als er von Norman am Arm gepackt und aus der Praxis geschleift wird.
*
Eines Morgens im Labor konnte ich ein Gespräch belauschen. Von Subelitronen hatte ich damals noch keine Ahnung, ich wusste noch nicht einmal etwas von deren Existenz. Der Professor war schon sehr früh in seinem Büro. Das war eigentlich nichts Ungewöhnliches, doch die lauten Stimmen mehrerer Männer gaben mir zu denken. Sie sprachen alle sehr gebrochenes Deutsch – ich hatte ab und zu ein paar Probleme, sie zu verstehen, dennoch wusste ich genau, dass sie von Heimfelds eine Frist setzten. Der Professor antwortete ihnen noch, dass einige Dinge sehr gefährlich wären. Man müsse damit umgehen können, fügte er noch hinzu, doch die Männer lachten nur und sagten, das solle er mal ruhig deren Sorge sein lassen. Von Heimfelds war ein Genie, er wusste genau, was er tat. Heute bin ich mir sicher, dass er von dem gesamten Ausmaß der Fähigkeiten dieser Teilchen wusste und so vielleicht auch Kahl unter Druck zu setzen verstand.
Still und heimlich verschwanden diese dubiosen Typen wieder, wenige Wochen später fand ich die Unterlagen auf dem Schreibtisch. Es war geplant, alles vorbestimmt, genau berechnet.
Sarah, meine geliebte Sarah. Leider war sie auch nur Mittel zum Zweck. Sie übte wahrscheinlich eine Art Kontrollfunktion aus. Spielte mit ihren Reizen, um zu checken, ob auch alles nach Plan lief.
Und befohlen wurde es von diesen winzigen Dingern, die wahrscheinlich schon von viel zu vielen Dingen die Macht übernommen haben und somit unserer aller Zukunft gestalten.
Die JND wollte Macht, bekommen haben sie Kontrolle. Aber sie kontrollieren nicht, sie werden kontrolliert. Doch von alldem ahnen sie nichts. Kahl ist dieser Kraft genauso zum Opfer gefallen wie wir, Sarah, Luisa, Stegener und weiß Gott noch wie viele.
*
„Subelitronen lassen sich zwar programmieren, aber die Software in ihren kleinen Körperchen ist nichts anderes als ein trojanisches Pferd. Ein Virus im Virus sozusagen … und genau da habe ich den Lösungsansatz! Dieser Stick enthält vielleicht eine Konzentration von 4 Mol pro Liter an elitrösen Teilchen. Programmiere ich diese auf Selbstzerstörung und darauf, dass sie den Rest ihrer Brüder damit infizieren sollen, dann könnte es sein, dass es einen kleinen subatomaren Krieg gibt und sich sämtliche Veränderungen dadurch auflösen.“
„Du laberst eine verquirlte Scheiße!“, stößt Roberto kopfschüttelnd hervor.
„Nein, komm! Wir gehen wieder hinein. Der Doc hat im Keller ein Labor, dort werde ich versuchen, das hinzubekommen.“
„Aber all das passiert doch nicht wirklich!“
„Roberto, schlaf deinen Rausch aus, ich glaube, das Medikament ist dir nicht bekommen. Wir sind hier in der Realität, zwar etwas verworren, aber nicht verloren! Nun komm schon, Dummkopf, lass es uns versuchen!“
„Ja, aber …“
„Nix aber, wir probieren es!“
Norman und Roberto gehen die Treppe hinunter und stehen vor einer schweren Metalltür, die mit einem Zahlencode gesichert ist. Für einen Moment hält Norman inne, dann tippt er – als ob es etwas ganz Normales wäre – die Geheimnummer ein und öffnet den Eingang zum Labor. Dort im Inneren ist es sehr kalt. Norman knipst das Licht an und sieht sich um. Schnell ist eine Apparatur aufgebaut, von der Roberto nichts mehr versteht. Zwischen diversen Glaskolben, Kühlaggregaten, Verbindungsschläuchen und Trichtern zieht er nur ein ratloses Gesicht.
„Was um Himmels willen tust du da? Meinst du, du kannst die Welt mit einem simplen Versuch retten? Das funktioniert nie und nimmer. Ich glaube, jetzt bist du der Dummkopf.“
Normans Lächeln schwindet. Mit ernstem Blick schaut er seinem Gegenüber in die Augen.
„Es ist ein Versuch! Also vertrau mir! Wenn es mir nicht gelingt, werde ich mich ab sofort in Dorftrottel umtaufen lassen. Gib mir bitte eines von den Insekten aus der Tafel, am besten ein etwas größeres. Da! Die Libelle. Sie wird sich gut eignen.“
„Norman, dieses Tier ist tot und in einer Art Setzkasten untergebracht.“
„Genau so soll es sein. Ein nicht lebendes Subjekt kann man nebenwirkungsfrei programmieren.“
Norman nimmt das Insekt aus der Glastafel, legt es in eine Art Erlenmeyerkolben und beginnt mit der Übertragung vom Stick über Chrom V zur Tierzelle. Zu Beginn des Transfers programmiert er die Elitronen zunächst auf Freundlichkeit. Das ist relativ simpel und benötigt nicht viel Zeit.
„Ich möchte nicht, dass das Ding uns hier gleich angreift“, fügt er während seiner konzentrierten Arbeit erklärend hinzu.
Bereits Sekunden später flattert das Versuchsobjekt munter durch das Labor.
„Das war Step 1“, nickt er und Roberto schaut nur ungläubig zu.
„Das nächste Tier bitte. Da! Der Schmetterling!“
Roberto reicht ihm erneut eine Glasschale.
„Ich gehe jetzt gleich einen Schritt weiter und entziehe den Elitronen bei der Programmierung die Fähigkeit, die Zellkerne zu besetzen. So können sie sich nur auf den Mitochondrien niederlassen und nicht zu einhundert Prozent Besitz vom Körper des Versuchsobjekts erlangen. Ist ganz einfach, habe ich schon einmal in Island gemacht. Als zweite Stufe gebe ich ihnen noch den Befehl, sich gegenseitig anzugreifen. Mal sehen, was passiert.“
Norman reicht Roberto eine Schutzbrille, er selbst trägt auch eine. Dann beginnt er mit der Übertragung. Schnell ist das Tier erreicht, es bäumt sich auf und … zerplatzt! Alles, was übrigbleibt, ist eine winzige rote Staubwolke über dem Labortisch.
„Na siehst du! Soll ich dich jetzt Dorftrottel nennen?“
„Wohl nicht, Dummkopf! Es hat funktioniert, sie haben sich angegriffen und zerstört. Das rötliche Zeug hier, das ist Schwefel. Die Elitronen rasen mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit aufeinander zu, prallen zusammen und verschmelzen zu einer molaren Masse, aus der je nach Gewicht ein chemisches Element produziert wird. Durch die Energieladungen entstehen die passenden Protonen und Elektronen. Somit sind die Subelitronen für immer Geschichte.“
„All das erschließt sich mir nicht ganz!“
„Okay, genug davon! Du verstehst es sowieso nicht. Wir hauen jetzt hier ab. Die Libelle muss ich leider noch eliminieren.“
Norman setzt kurz den Chrom-II-Stick an und legt das erstarrte Tier erneut in die Glastafel. Anschließend programmiert er die auf dem Chrom befindlichen Teilchen genauso wie im Versuch, holt sie sich jedoch zurück, sodass sie sich noch nicht zerstören können. Dann geht er zum Eingang, winkt Roberto mit einer Kopfbewegung zu sich und verriegelt die Tür.
„Wir fahren jetzt direkt in die Regierungszentrale. Von dort aus beginnt der Dominoeffekt.“
„Aber wir haben doch gar kein Auto mehr“, wirft Roberto ein.
„Doch! Der Doc hat eins und das braucht er nun nicht mehr! Also los, komm schnell!“
Norman setzt sich ans Steuer des Fahrzeugs, das vor einer Garage auf dem Hof des Arztes geparkt ist. Den Schlüssel hat er zuvor vom Tisch genommen. Die Straßen sind mittlerweile vom Tauwasser leicht geflutet.
„Wenn das noch wärmer wird, dann bekommen wir hier eine Katastrophe“, flüstert Norman leise vor sich hin und lenkt den Wagen geschickt in Richtung Zentrum. Ungefähr eine halbe Stunde später erreicht er das Regierungsgebäude.
Roberto zittert ein wenig, als Norman ungefähr zweihundert Meter vom Haupteingang entfernt parkt und ihm mit einem Nicken signalisiert, auszusteigen. Selbstbewusst nähert er sich den ersten Sicherheitsleuten.
„Ihr könnt mich jetzt hier ruhig festnehmen oder auch umbringen. Aber dann werdet ihr nicht mehr viel von eurem Staat haben. Schaut euch doch nur einmal das Wetter an. Es wird warm! Vielleicht sogar heiß! Und wo wollt ihr dann mit dem ganzen Wasser hin? Ich habe dafür eine Lösung und die stelle ich nun Jo Kahl vor. Danach könnt ihr mich ja immer noch umbringen und meinen Kollegen hier auch. Aber erst gehe ich da hoch. Den Weg kenne ich.“
Die Security weicht ein wenig zurück, da Norman den Chrom-II-Stick in der Hand hält. Ungehindert geht er gemeinsam mit Roberto über den langen Eingangsbereich in Richtung Haupttor, das direkt zum Amtsbereich des großen Meisters führt.
„Woher kennst du den Weg so genau? Wer bist du wirklich und weshalb hast du diese Leute so gut im Griff?“
„Ich trage den Nachnamen meiner Mutter. Sie war niemals mit dem Mann verheiratet, der mich gezeugt hat. Auf keinen Fall möchte ich ihn Vater nennen, obwohl ich das nicht verleugnen kann. Eigentlich wollte ich es dir schon viel früher erzählen, doch es war mir nicht unbedingt angenehm. Jo Kahl ist es. Ja, ich bin sein Sohn. Nur deshalb ist es so weit gekommen, dass ich in Island im Labor war. Kaum ein anderer hätte diese Chance bekommen. Nein! Niemals! Immerhin hatte er eine Menge mit mir vor. Wollte mich als seinen Nachfolger einsetzen, als seinen Junior sozusagen, doch ich habe abgelehnt, denn ich hasse dieses Land. Das weiß er, aber er liebt mich und deshalb würde er mich nie töten lassen. Als ich jedoch von seinen Machenschaften erfuhr, dass Menschen durch Subelitronen verändert werden und auch er davon Wind bekam, na klar, da musste er ja reagieren. Deshalb der Knast, aber vielleicht auch genau darum wurde es mir oder uns so leicht gemacht, zu fliehen und vor allem zu überleben. Ich habe keine Angst vor ihm, deshalb konfrontiere ich ihn jetzt mit der Wahrheit. Nur so hat Deutschland eine Zukunft.“
Norman und Roberto stehen direkt vor der Tür des großen Meisters. Selbstbewusst treten sie in das riesige, prunkvoll eingerichtete Regierungszimmer des Diktators. Vor ihnen steht ein schwerer Schreibtisch aus Eiche, davor befindet sich ein pompöser Lederstuhl – mit der hohen Lehne zum Eingang gewandt. Das Fenster ist zur Hälfte durch Lamellen verdunkelt.
„Jo Kahl, ich bin hier!“, ruft Norman in den Raum.
Langsam dreht sich der Stuhl herum und das Staatsoberhaupt schaut seinem Sohn zum ersten Mal seit Langem wieder in die Augen. Sein Gesicht wirkt müde, gestresst und faltig. Das Haar ist leicht ergraut. Mit blassem Teint blickt er den beiden entgegen.
„Es ist aus dem Ruder gelaufen. Du hast verloren, Vater!“
Kahl entgegnet nichts, er bleibt auffallend ruhig.
„Immer wenn du nicht weiter weißt, dann glänzt du durch Wortlosigkeit. Aber dein Marionettenstaat ist am Ende. Nichts von alldem, was du hier in den letzten zwanzig Jahren aufgebaut hast, ist tatsächlich vorhanden. Ja, du warst in der Lage, die Fäden deiner Puppen zu ziehen, hast alles zu deinem Gunsten verändert. Doch du hast nicht bedacht, dass genau diese Fäden sehr seiden sind und reißen können, besser noch, dass sie von selbst porös werden. Was willst du tun, wenn das Eis weiter schmilzt? Gar nichts wahrscheinlich. Die Subelitronen führen mittlerweile ihr Eigenleben. Du hast sie nicht mehr unter Kontrolle und verlierst so auch deine Macht über diese beschissene Republik.“
„Die Autobahn nach Westen steht bereits unter Wasser. Die Temperaturen steigen stündlich weiter an. Professor von Heimfelds ist heute früh tot im Labor gefunden worden. Er hat sich erhängt“, wirft Kahl mit leiser, unsicher klingender Stimme ein.
Norman schüttelt den Kopf.
„Wahrscheinlich haben die Teilchen das veranlasst. Sie sind ein Teil der Gesellschaft geworden und nehmen ohne Rücksicht auf Verluste mehr und mehr Raum ein. Alles, was sich ihnen in den Weg stellt, wird gnadenlos vernichtet. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn dir irgendetwas an deinem Deutschland liegt, dann musst du handeln – oder du wirst untergehen.“
„Das wird niemals geschehen. Ich habe diesen Staat erschaffen so, wie er jetzt ist, und ich werde ihn retten. Und weiterregieren!“
„Jo Kahl! Du wirst allein nichts ausrichten können. Aber ich kann dieses Land retten. Es ist ein Versuch, doch der ist an Bedingungen geknüpft.“
„Norman, auch wenn du mein Sohn bist, niemand wird mir Vorschriften machen. Meine Armee gehorcht mir nach wie vor und wir werden diese Krise meistern.“
Wütend haut Kahl mit der Faust auf den Tisch. Seine Augen funkeln vor Zorn. Sein eben noch so unschuldig wirkendes Gesicht mutiert zu einer Art Fratze. Roberto erschrickt, doch Norman bleibt cool und gelassen und legt ihm schützend die Hand auf die Schulter. Dann tritt Norman einen Schritt nach vorn und beginnt, seinen Vater aufzuklären.
„Diesen Staat durftest du niemals dein Eigen nennen. Von einer Grenze zur nächsten war alles nur auf Sand gebaut. Die eigentliche Regierung bestand nicht aus einer Verfassung, die durch die JND beschlossen wurde, auf diesem System lag vom ersten Tag an ein Schatten. Diese kleinen, unberechenbaren Teilchen nahmen Besitz von allem, von dem du nur glaubtest, dass es deines wäre. Die Wetterveränderung basiert auf deren Eigenleben. Wenn wir jetzt nicht eingreifen, dann wird sicherlich noch mehr geschehen. Freunde sind zu Feinden geworden und umgekehrt. Man kann niemandem mehr vertrauen. Die JND ist schon lange keine Partei mehr, sondern eher eine Farce. Alles versteckt sich hinter einem Vorhang, der eigentlich schon längst gefallen ist.
Doch durch einen kleinen simplen Versuch habe ich herausgefunden, dass es tatsächlich möglich ist, sie zur Selbstzerstörung zu zwingen. Bloß wenn ich dir helfen soll, dann komm verdammt noch mal von deinem hohen Ross herunter und geh auf meine Forderungen ein. Das Erste, was ich im Gegenzug will, ist Sarah – und zwar lebend. Ich liebe sie von ganzen Herzen und bin mir sicher, dass sie hier ist. Sie arbeitet für dich und wurde von dir darauf angesetzt, mich zu beobachten. Des Weiteren beantrage ich bei dir Immunität für Roberto und mich. Und nun friss oder stirb, alter Mann.“
Kahl lehnt sich in seinen Stuhl zurück und schaut seinem Sohn tief in die Augen.
„Du bist genauso wie ich. Gehst über Leichen! Und weil du mein eigen Fleisch und Blut bist, bekommst du, was du willst. Aber wenn du mich betrügst, dann stirbst du.“
Norman lächelt und dreht sich auf dem Absatz um. Roberto folgt seinem Freund, als dieser das Büro des Diktators verlässt.
Dann geht alles ganz schnell. Norman zückt ein aus dem Labor des Arztes mitgenommenes Röhrchen, nimmt eine Probe des Schnees, der angetaut an der Seite des Regierungsgebäudes aufgetürmt liegt, und entzieht den sich darin befindlichen Elitronen die Fähigkeit, Zellkerne zu besetzen. Anschließend setzt er die Kettenreaktion in Gang, in dem er die Probe wieder freigibt. Danach folgt die Zusammenführung der auf Selbstzerstörung programmierten Elitronen vom Stick. Wie von Geisterhand fällt der Schnee wie Pulver zusammen und bildet eine klumpige Masse, ähnlich wie pappiger Sand.
„Es bildet sich Siliziumoxid, aber ein besonderes Isotop. Wahrscheinlich sieht es hier bald aus wie in einer Wüste, aber immer noch besser, als zu ertrinken.“
Roberto sieht erstaunt zu und zündet sich eine Zigarette an. Sein Herz klopft. Kahl schaut seinem Sohn aus dem Fenster zu, zwischen seinen Lippen eine Zigarre. Er lächelt.
Plötzlich ist die Armee verschwunden. Vom Wachpersonal ist niemand mehr zu sehen. Subelitröse Veränderungen heben sich gegenseitig auf. Wolkenformationen bilden sich sekundenschnell am Himmel und verändern ständig ihre Gestalt.
„Der Schattenstaat ist am Ende … Vater!“, flüstert Norman und sieht zum Fenster hinüber, hinter dem Kahl eben noch gestanden hat. „Ich hoffe nicht, dass es zu viele Leben fordert, doch ich bin es diesem Land schuldig. Ich konnte doch mein Wissen nicht einfach für mich behalten und nichts tun. Und nun möchte ich zu ihr …“
In rasender Geschwindigkeit läuft Norman in das Regierungsgebäude. Er hastet die Stufen hinauf und steht wieder im Zimmer seines Vaters.
„Wo ist sie?“
Doch Jo Kahl antwortet nicht mehr. Er ist tot. Mit halb geöffnetem Mund liegt er vor seinem Fenster. Die Zigarre in seiner Hand glimmt noch. Norman beugt sich über ihn und fühlt seinen Puls. Kein Lebenszeichen.
Mit Tränen im Gesicht rennt Norman durch das Haus.
„Sarah, Saaaraaaaah …“
Sein Rufen hört man im gesamten Gebäude. Unverhofft öffnet sich eine Tür und seine Traumfrau steht vor ihm. Unversehrt, mit einem Lächeln auf den Lippen und glänzenden Augen kommt sie auf ihn zu und nimmt ihn in den Arm.
„Ich wusste es von der ersten Minute an, dass du es schaffst, den Staat von dieser Last zu befreien“, flüstert sie ihm zu und küsst ihn zart auf die Lippen.
„Warum liebe ich dich nur so?“, antwortet er ihr und holt Roberto zurück ins Regierungsgebäude.
Für ein paar Minuten scheint die Zeit stillzustehen. Es ist so ruhig, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Dann beginnt das Leben wieder. Autos fahren auf den Straßen der Ruhrstadt, die Luft wirkt frisch, als wäre sie soeben gereinigt worden. Selbst der öffentliche Nahverkehr scheint planmäßig zu funktionieren, es ist so, als wäre nie etwas gewesen. Es kommt Roberto fast unheimlich vor, als die Erinnerungen der letzten Jahre zu verblassen scheinen. Das Branding auf seiner Brust ist die einzige Narbe, die ihn das alles nicht ganz vergessen lässt.
Bereits am selben Tag wird in Deutschland ein weiteres Mal die Verfassung geändert. Seit Langem wird es wieder Wahlen geben. Regierungssitz und Hauptstadt bleibt weiterhin die Ruhrstadt, dort wird das deutsche Parlament in Zukunft tagen.
*
Am Sonntag, den 21. Januar 2046, gewinnt Norman Sörensen die Parlamentswahl mit der absoluten Mehrheit und wird neuer Ministerpräsident Deutschlands.
Roberto Trottoni nimmt am selben Datum die Wahl des Stellvertreters Sörensens an.
Zwei Wochen später heiraten Norman und Sarah.
Luisa ist seit ihrem Verschwinden nicht wieder aufgetaucht.