Ich stand inmitten einer sich langsam ausbreitenden und ins grobe Holz des Bodens sickernden Lache dicken Blutes, umringt von sechs, kleinen deformierten und verstümmelten Leichen.
Mein ganzer Körper bebte und während mir die Spitzhacke aus der Hand glitt und geräuschvoll in der Pfütze unter meinen Füßen aufschlug fragte ich mich, wie es so weit hatte kommen können.
„Wo ist sie? Wo ist die Prinzessin?“, fragte ich panisch jeden Menschen, den ich in den Gängen des Schlosses begegnete. Zofen, Küchenmädchen, Berater und Stallburschen, doch sie alle sahen mich nur verständnislos an, schüttelten ihre Köpfe oder rümpften gar pikiert ihre Nasen über mein wenig majestätisches Benehmen und meine Ungehaltenheit. Noch nie hatte man in diesem Palast eine Königin derart hastig durch die Flure laufen und lauthals mit dem niedersten Personal sprechen sehen, doch meine Angst war zu groß, als dass ich sie hinter Etikette hätte verstecken können.
Mein Korsett schnürte mir die Luft ab. Nie zuvor war mir mein Rock so schwer, mein Umhang so lästig vorgekommen.
Ich bog in den schmalen Korridor im Westflügel und prallte gegen einen großen Mann, der mich sogleich in seine Arme und in eine abgedunkelte Ecke, fort von neugierigen Blicken zog.
„Beruhige dich. Du erweckst viel zu viel Aufsehen“, flüsterte er mir zu, als ich meinen Kopf an seine Brust lehnte und das vertraute, stete und beruhigte Schlagen seines Herzens hören konnte.
Ich atmete tief ein und aus um ein Schluchzen zu unterdrücken. Sog den Geruch von Erde und Blut auf, der stets an meinem geliebten Jäger zu haften schien.
Mein einziger Vertrauter und treuester Freund in diesem Königreich voll Verrat und menschlicher Abscheulichkeit.
„Hast du sie gefunden?“, fragte ich zögerlich, als ich mich endlich gesammelt hatte.
„Nein, meine Königin.“
Ich blickte zu ihm auf, sah in seinen braunen Augen Bedauern, Mitleid und Sorge. In mir jedoch entbrannten Zorn und Hass, als sich die Erinnerung an den gestrigen Abend in mein Bewusstsein zurück schlich. Die Erinnerung an das Essen mit dem König und seiner Tochter. Meiner Tochter. Meinem geliebten Stiefkind, die mir alles bedeutete und die ich mehr liebte als ihr Vater es je getan hatte.
Der alte König hatte uns gerade berichtet, dass ihm langsam Druck gemacht wurde die Prinzessin endlich zu vermählen. Ihre Schönheit war über die Grenzen unseres Landes hinweg bekannt und es gab viele Freier, die um die Hand des Mädchens anhielten, das von aller Welt nur Schneewittchen genannt wurde. Doch der König war ein tyrannischer, machtbesessener und über alle Maßen gieriger Mensch und er würde durch die Ehe seiner Tochter mit einem anderen Edelmann oder gar einem Prinzen niemals zulassen, dass sein Reich in die Hände einer anderen Blutlinie fallen würde.
Wie oft hatte er mich gezwungen Versuche zu unternehmen einen Kronprinzen zu zeugen? Wie viele Nächte mit diesem impotenten, stinkenden, schmutzigen, alten Mann hatte ich gebetet, dass ich nicht gezwungen wäre seine verkommene Saat auszutragen? Und meine Gebete waren erhört, denn man hatte ihm nie einen weiteren Nachkommen vergönnt.
Doch nun, da Schneewittchen immer älter wurde, drängte man ihn von vielen Seiten zu einer Entscheidung, denn der Fortbestand der königlichen Ahnenfolge sollte entschieden werden.
Allerdings wollte der König weder sein Land, noch die schönste Frau des Reiches teilen und so hatte er uns gestern verkündet, dass er selbst seine Tochter ehelichen würde und würde sie ihm einen Sohn schenken, so würde sein Reich und sein Vermächtnis an diesen übergehen.
Dieser Beschluss setzte meinen Stand als Ehefrau und Königin auf den einer besseren Mätresse herab, doch für Schneewittchen war es das Urteil ihres Untergangs.
„Sie hat sich etwas angetan. Ganz bestimmt, sie wäre lieber gestorben als...“, wimmerte ich, als ich den ungläubigen Ausdruck in Schneewittchens Augen erinnerte, ihre verzweifelt versteinerte Miene, als sie vollends begriffen hatte, was diese Kundgabe bedeutete und ihr leerer Blick danach. In dieser Sekunde, an der Tafel des Königs, vor ihrem goldenen Teller und dem kristallenen Glas voll Wein, war meine Tochter gestorben.
Allein der Gedanke ich könnte sie für immer verloren haben, schmerzte mich so sehr, dass es kaum zu ertragen war, doch mein Jäger schüttelte den Kopf, holte mich in die Gegenwart zurück und entgegnete: „Das ganze Schloss ist voll von Menschen. Jeder Turm und jeder Saal ist belebt oder wurde von den eingeweihten Wachen durchsucht. Ich selbst habe den Park und die umliegenden Felder abgesucht, ebenso den See und den Weiher. Glaube mir, wenn ich dir sage; man hätte sie gefunden.“
„Aber wo ist sie? Wo ist mein Kind?!“, brüllte ich voll Verzweiflung trotz des Wissens, dass meine Wut den falschen Mann traf.
„Ich weiß es nicht, meine Königin aber es kann nur einen Ort geben, an dem sie sich versteckt haben könnte... ihr wisst, welchen Ort ich meine... ihr wisst wo...“
„Wenn sie wirklich in den Dunkelwald geflohen ist, ist sie des Todes. Ebenso gut hätte sie sich vom höchsten Turm hinab stürzen können, so wäre ihr Ende ein leichteres gewesen.“
Der Jäger fasste bedacht zärtlich unter mein gesenktes Kinn und zwang mich ihm erneut in die Augen zu schauen. Sein Blick durchbohrte den meinen, als er sagte: „Gebt die Hoffnung nicht so schnell auf. Habt Vertrauen in die Prinzessin und Vertrauen in mich. Ich werde sie finden.“
Er wollte sich zum Gehen wenden, doch ich griff nach seiner Hand und hielt ihn auf.
„Wenn ihr alleine in den Wald zieht, werdet ihr sie nie finden“, zischte ich ihm zu, „Die Bäume, Sträucher und Tiere dort sind tückisch. Selbst der Wind meidet diesen Wald. Dort werdet ihr keine Spuren lesen können und wenn doch, werden sie Euch auf eine falsche Fährte locken. Ich kenne einen besseren Weg. Den einzigen Weg.“
Es dauerte eine Sekunde, bis er begriff, doch ich konnte ihm die Erkenntnis ansehen. Mein Jäger wusste ganz genau wovon ich sprach und er wusste auch was nun zu tun war.
Ich spürte wie sich alles in ihm sträubte meinem unausgesprochenen Befehl nach zu kommen, doch nach einigen unaushaltbar langen Sekunden nickte er mir zu bevor er mich verließ.
Das kleine Kinderherz in meiner Hand war noch warm. Der Jäger hatte es mir in einer goldene Schachtel in unser Versteck an der südlichen Mauer gelegt. Ein kleines Loch, dort wo ein Stein fehlte, bewachsen mit Moos und Efeu, war es nur für die Menschen sichtbar, die wussten, dass es sich an dieser Stelle befand.
Ich war zurück in dem Raum unter der Krypta, von dessen Existenz niemand außer mir wusste, weil ich selbst ihn erschaffen hatte.
Im Schutz dieses Geheimnisses starrte ich das kleine, blutige Organ eine ganze Weile lang an und trauerte für mich allein um das unschuldige Opfer, das gebracht werden musste um meine Tochter vielleicht noch retten zu können.
Das Ritual, welches mit dem Herz vollzogen werden musste, dauerte drei Tage und Nächte. Ein komplexer Vorgang, der Konzentration, Wissen und Geduld erforderte. In dieser Zeit betete ich zu jeder freien Sekunde, dass die Zeit, die verstrich nicht zu Schneewittchens Verhängnis werden würde.
Am vierten Tage endlich war das Räucherpulver fertig gestellt. In dem hintersten, dunkelsten Winkel meines Verstecks wartete meine einzige Hoffnung. Mein Zauberspiegel, der Quell meiner Magie und Macht. Bedächtig zog ich den schwarzen Samt von ihm, enthüllte das spiegelnde Glas, eingefasst in einen schweren Rahmen aus Gold, Knochen und Liebe.
Ohne einen Zauber, zeigte der Spiegel bloß mich selbst. Mein wahres Gesicht, nicht das, welches ich der Welt und allen Menschen auf ihr zeigte.
Mein falsches Gesicht wurde umrahmt von blonden Locken mit eingeflochtenen Perlen, die von Goldfäden gehalten wurden. Es war schön mit glatter Porzellanhaut, grünen, strahlenden Augen, vollen Lippen, zarten Wangen, die Grübchen zeigten, wenn mir etwas wohl gefiel. Es gehörte einer Königin, deren Namen ich vergessen hatte. Sie war tot. Schon sehr lange und ihr Name hatte keinerlei Bedeutung mehr, ebenso wenig wie mein echtes Gesicht, das mir alt, faltig, vernarbt und mit dunkel eingefallenen Augenhöhlen und hervorstechenden Wangenknochen, entgegen blickte. Mit Warzen, eitrig gefüllten Blasen auf Stirn und Nase und einem rissigen, schmalen Mund der sich gerade jetzt zu einem schmerzerfüllten Lächeln verzogen. Wie die Wahrheit aussah, kümmerte mich nicht, denn niemand kannte sie und niemand sah sie. Sie die Wahrheit, Sie das Opfer, Sie die Königin, deren Antlitz ich stahl. Und so war die Wahrheit weit weniger bedeutend als die Lüge, die ich trug.
Ich füllte das Pulver in eine Schale und entzündete es. Zuerst brannte ein beißender Gestank in meiner Nase, der sich jedoch schnell in einen frischen, blumigen Duft verwandelte. Ich pustete den aufsteigenden violetten Rauch auf das Glas meines Spiegels und sprach: „Spieglein, Spieglein an der Wand, zeig mir das Schönste Kind im Land.“
Sogleich zeigte sich mir das wunderschöne Gesicht meiner Tochter, doch ihre dunklen Augen starrten wie erloschen in die Leere. Sie rührte sich nicht. Ihr Körper saß so ruhig, dass es aussah, als würde sie nicht einmal atmen und für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich das Schlimmste. Doch dann begann ihr Auge zu zucken und zwang sie zu blinzeln. Eine Welle der Erleichterung überkam mich und entlockte mir einen unterdrückten, spitzen Schrei der Freude. Sie lebte!
Ich brauchte einen Moment um mich zu sammeln, bevor ich wieder klare Gedanken fassen konnte und bemerkte wie furchtbar sie aussah. Sie trug noch immer das Kleid vom letzten Abend an dem man sie im Palast gesehen hatte, doch es war schmutzig und verschlissen. Ihre weiße zarte Haut mit Staub und Erde besudelt und auf ihrer rechten Wangen zeigte sich ein dick angeschwollener , roter Striemen.
Mein zierliches, kleines, reines, unschuldiges Mädchen kauerte in einer dreckigen Ecke in irgendeinem Haus. Tiefblaue Handabdrücke zeigten sich an ihrem Hals, lugten unter ihrem ebenholzschwarzen Haar hervor. Würgemale. Wieder krochen mir Hass, Wut Sorge, Mitleid, Zorn, Angst, Verzweiflung in die Kehle. All diese Gefühle, die ich so viele Jahre nicht mehr gespürt hatte und die mich nun um den Verstand bringen wollten, aber wenn ich meine Tochter retten wollte musste ich mich beherrschen.
Wer hatte ihr das angetan und wo um alles in der Welt war sie?
Das Mädchen im Spiegel richtete sich auf und ging zu einem kleinen Fenster hinüber, das sich ungefähr auf ihrer Hüfthöhe befand. Das Sonnenlicht des Mittags flutetet den Raum. Zumindest schien sie nicht in einem Kerker oder Verlies gefangen gehalten zu werden. Mein Spiegel konnte mir nur die Schneewittchens nächste Umgebung zeigen. Etwa zwei bis drei Meter ihres Sichtfeldes. Er schenkte mir einen Blick auf sie und auf ihr direktes Umfeld, mehr aber vermochte auch seine Macht nicht zu offenbaren. Ich beobachtete wie mein Mädchen plötzlich wieder zurück huschte und sich in die Ecke kauerte. Ihr Blick voll von Furcht, während sie ihre Beine ganz fest an ihren Körper zog und versuchte sich so klein wie möglich zu machen.
Zwerge betraten den Raum. Bärtige, kleine Männer mit kurzen, dicken Beinen, großen Nasen und schwarzen Augen kamen auf sie zu gestampft. Drei von ihnen mit Seilen und Ketten bewaffnet, zwei weitere hinter ihnen zur Haustür herein kommend. Hässliche Ausgeburten der dunkelsten Nächte des Waldes. Ihre vernarbten, von der Mienenarbeit verschmutzten Gesichter waren auf meine Tochter gerichtet wie auf ein erbeutetes Wild, das es zu Schlachten galt.
Einer der Zwerge trat vor. Er stand nun genau vor meinem kauernden Stiefkind und blickte auf sie herab. Unvermittelt schlug er ihr hart ins Gesicht und mir entkam ein Schrei des Entsetzens. So schnell sie mit ihren Stummelbeinchen konnten, kamen nun die anderen seiner Sippe und schlangen meiner Tochter die Seile und Ketten um Hals, Arme und Hände und zerrten sie zu Boden. Einer von ihnen setzte sich auf ihren Rücken, presste ihr feines Gesicht auf die groben Dielen der Hütte und schrie ihr etwas ins Ohr. Sie begann zu zittern und zu weinen. Ich ertrug es nicht mehr. Wie konnten diese Abscheulichkeiten es wagen Hand an mein Kind zu legen und wieso war ich nicht dort um sie zu beschützen?
„Schluss!“, befahl ich dem Spiegel der sogleich das Bild schwärzte.
Mein Herz schlug so heftig, dass ich seinen Rhythmus in meinem Schädel spürte, wie ein schmerzhaftes Echo.
„Spieglein, Spieglein ein Wunsch nur, zeige mir Schneewittchens Spur.“
Ich musste sofort den Jäger finden. Mein erweichtes Herz war von Hass erfroren. Hass auf alles und jeden. Auf das nahezu zu Grunde gerichtete Königreich regiert von meinem viel zu alten und unfähigen Ehemann, Hass auf seine Majestät höchstselbst. Wenn ich an den fauligen Atem dachte, den er mir in den meisten Nächten ins Gesicht blies, wenn er japsend und keuchend auf mir lag um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, dass die Jahre seiner Männlichkeit längst der Vergangenheit angehörten, wollte mir nicht ausmalen, wie schlimm es für Schneewittchen sein musste, was die Zwerge, die Missgeburten des Waldes ihr antun mochten. Wie sie ihr unschuldiges Wesen brachen, während ich meinen schwarzen Wallach, an der Seite meines Jägers durch den Dunkelwald trieb um sie zu finden und ihre Peiniger zur Strecke zu bringen.
Selbstverständlich gehörte es sich nicht für eine Königin durch den Wald zu galoppieren. Noch dazu an der Seite eines Jägers, bei Einbruch der Nacht, aber ich hätte es mir um nichts in der Welt nehmen lassen, dabei zu sein, wenn die kleinen Wichte, ihr Leben aushauchten. Hätte die Garde des Königs Schneewittchen gesucht, gefunden und befreit so wären die Zwerge vermutlich am Galgen gelandet, doch auch die Botschaft von der entehrten Königstochter hätte sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land verbreitet. Schneewittchen wäre für immer mit dieser Schande in Verbindung gebracht worden, unattraktiv für Königssöhne, gebrandmarkt mit etwas, das sie nicht verdiente und ich wäre um meine Rache gekommen. Und Rache war in diesem Moment das einzige was mich bei Verstand zu halten vermochte und das einzige, das mich noch antrieb. Ich wollte sie nicht am Galgen sehen. Ich wollte sie leiden sehen.
Das Haus der Zwerge lag recht versteckt und tief im Wald. In meinem blinden Zorn wollte ich direkt auf es zu preschen, doch mein Jäger hielt mich zurück.
„Wir sollten uns umschauen. Du hast von fünf Zwergen gesprochen. Es könnten aber auch viel mehr sein. Zwerge leben meist in großen Kolonien. Sie sind vielleicht klein, aber sie sind sehr kräftig. Unterschätze sie nicht“, ermahnte er mich. Es fiel mir schwer mich zurück zu halten, aber ich nickte.
Wir banden die Pferde an einen vertrauenerweckenden Baum in der Nähe und schlichen dann durch das Dickicht, rund um die Lichtung auf der die Hütte stand zu der mich die Spur des Spiegels geführt hatte. Dass der Wald so dicht bewachsen war, hatte mich auf unserem Ritt gestört, jetzt aber boten uns Sträucher, Büsche und breite Baumstämme Schutz und Versteck.
„Lass uns die Lichtung einmal abgehen, sodass wir die Hütte einmal von allen Seiten eingesehen haben. Noch habe ich keines der Männchen gesehen“, flüsterte mein Vertrauter mir zu. Wieder nickte ich.
„Warte“, zischte ich ihm zu, „die Spur...“
„Was ist damit?“, fragte er, denn den Zauber des Spiegels konnte nur ich sehen. Wie eine schwebende, goldene Nebelschwade, die sich vor mir ausdehnte.
„Sie führt nicht zu der Hütte. Sie führt daran vorbei“, erklärte ich.
Er sah mich unschlüssig an, dann fragte er: „Folgen wir ihr, oder bewachen wir das Haus und warten auf die Zwerge?“
„Nein. Für die Prinzessin zählt jede Sekunde. Wir folgen ihrer Spur.“
Und das taten wir. Die Spur führte uns nicht mehr weit. Bald schon hatte sie uns zu meiner Tochter geführt doch mit dem Anblick, der sich mir bot hatte ich trotz all der Szenarien, die ich in den letzten Stunden gedanklich durchgespielt hatte nicht gerechnet.
Es waren nicht fünf, nur ein einziger Zwerg kniete einige Meter von uns entfernt auf der Wiese zwischen Tannen und Eichen. Sein plumper Körper zusammengesackt, den kahlen Kopf gesenkt und vor ihm aufgebahrt ein gläserner Sarg und in ihm, meine Tochter.
Es dauerte. Sekunden, Minuten, im Nachhinein betrachtet fühlt es sich an wie ein ganzes Leben, bis ich begriff, dass ich zu spät gekommen war, dass meine Tochter tot war und dass es nichts mehr zu retten gab.
Meine Seele hatte meinen Körper unbrauchbar zurück gelassen, mein Blick war der Welt entrückt. Dumpf und kaum verständlich hörte ich die Stimme meines Jägers die auf den Zwerg einbrüllte: „Was habt ihr mit ihr gemacht?!“
Ein Teil von mir sah wie durch einen milchigen Schleier, wie mein Jäger die kleine Missgestalt am Kragen packte und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug. Wie er den Zwerg immer wieder und wieder anschrie und noch ein Schlag und noch ein Schlag und noch ein Schlag fiel, aber nichts davon schaffte es in mein Bewusstsein, nichts davon konnte ich begreifen oder gar realisieren.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte bis mein Verstand wieder funktionierte, doch als es soweit war, lag dort vor meinen Füßen der Körper eines Zwerges, während sein Kopf zu einer undefinierbaren Masse aus Knochen und Blut verkommen war und neben dem entstellten Leichnam ein Jäger seine Fäuste notdürftig mit einem Tuch verband.
Das Rauschen in meinen Ohren ebbte ab und mit bebender Stimme fragte ich: „Was nun?“
„Sie leben zu siebt in dieser Hütte, meine Königin. Ich bin mir nicht sicher ob...“
Mit einer Handbewegung bedeutete ich ihm zu schweigen, denn ich wusste was er sagen wollte und ich wollte es nicht hören. Ich trat an den gläsernen Sarg meines Kindes. Ihr Gesicht geschunden. Ein Auge blau geschwollen, die Lippe geplatzt. Ein großes Büschel Haare fehlte an ihrer linken Schläfe. Diese Wesen, die es nicht einmal fertig gebracht hatten richtige Männer zu sein, hatten meine Tochter erniedrigt und entstellt und dann besaßen sie noch die Frechheit diese bodenlose, aller Menschlichkeit trotzende Frechheit sie noch nach ihrem Tode auszustellen, in einem gläsernen Sarg auf dass sie sie weiterhin begaffen und als ihr Eigentum betrachten konnten!
Nein. Keine Worte mehr. Kein Warten. Es gab nichts mehr zu verlieren. Keine Vorsicht, keine Furcht, keine Überlegung dieser Welt konnte mich jetzt zurückhalten und mein Jäger wusste das. Als ich los rannte, zurück zu der Hütte, zurück zu dem letzten Ort, den Schneewittchen gesehen hatte, folgte er mir. Sein Jagdmesser gezückt und bereit mich bis zum Tod zu verteidigen.
Ich kann mich nicht an vieles erinnern, was in diesem Haus an dem Tag im Wald geschah. Leider. Ich bin noch nicht bereit mir die verlorenen Bruchstücke meiner Erinnerung vom Spiegel zeigen zu lassen und ich weiß nicht, ob ich das jemals sein werde, aber ich erinnere den dummen Gesichtsausdruck des bärtigen, dicken Männchens als ich ihre klapprige Tür auftrat. Ich erinnere wie nur mein Schrei ausgereicht hatte, um ihre Augen mit Furcht zu füllen. Ich erinnere wie ich nach der Spitzhacke griff, die neben dem Kamin gelehnt hatte und das Gefühl von spritzendem heißen Blut auf meinem Gesicht. Es war ein Rausch. Blutrausch. Und das ist das all überlagernde Gefühl, dass selbst meine Trauer in den Schatten stellt. Mein Jäger hat in diesem Haus niemanden getötet. Er hat sie alle mir gelassen. Alle sechs.
Während ich das abgezogene und präparierte Gesicht meiner Tochter in den Händen halte, frage ich mich, ob sie dankbar wäre, wenn sie wüsste was ich ihren Peinigern angetan habe, oder schockiert. Ich lege das Gesicht der Prinzessin auf das meine. Meine trockene, ledrige Haut verschwindet unter ihrer markellosen. Ich halte die Luft an, als ich mich durch das Glas des Spiegels gleiten lasse, welches nun so weich und durchlässig ist, wie warme Milch. Erst als ich mich wieder zurück lehne und meine neuen Augen öffne, wage ich es wieder zu atmen.
Das Bild im Spiegel lächelt mich an. Es zeigt die schönste Frau im ganzen Land. Mit Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haar so schwarz wie Ebenholz. Die neue Königin ist geboren.