In jedem Fall schuldig
„Jeder verantwortlich Handelnde wird schuldig.“ So zitiert die Stellungnahme der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) zum Ukrainekrieg Dietrich Bonhoeffer. Dieser Satz ist zu lesen in Bonhoeffers Fragmenten zur „Ethik“. Dabei ist uns weniger bewusst, dass Bonhoeffers Überlegungen zu Verantwortung, Friede und Versöhnung die theologische Friedensethik beeinflussen, so etwa auch im Blick auf den Krieg in der Ukraine. Auch Konrad Adenauer sagte einmal: „Durch Unterlassen kann man genauso schuldig werden wie durch Handeln". Und der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse meinte einmal, dass es Situationen im Leben gibt, wo man sich, ganz gleich wie man sich entscheidet, schuldig macht.
Vor so einer Situation stand Stauffenberg, als er am 20. Juni 1944 Hitler töten wollte. Tut er nichts, dann sieht er tatenlos zu, wie Millionen Menschen sterben. Verübt er ein Attentat, dann wird er zum Mörder.
Heute stehen wir alle im Blick auf den Krieg in der Ukraine vor dieser Situation. Wer sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht, macht sich wegen „unterlassener Hilfeleistung“ schuldig. Im Strafgesetzbuch (StGB § 323) lesen wir unter „Unterlassene Hilfeleistung“: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. …
Wer nach besten Kräften Hilfe leistet, die sich aber im Nachhinein als unzureichend herausstellt, macht sich nicht strafbar. …
Eine gemeine Gefahr ist bei einer konkreten Gefahr für Leib und Leben unbestimmt vieler Personen oder bedeutender Sachwerte anzunehmen.“
Als gemeine oder konkrete Gefahr werden Naturkatastrophen oder Flächenbrände benannt, nicht aber kriegerische Auseinandersetzungen.
Damit machen sich zwar diejenigen Parteien oder einzelnen Menschen, welche Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen, nicht im Sinne des StGB § 323 strafbar, sind aber in einem moralischen Sinne schuldig und dürfen sich deshalb nicht wie die besseren Menschen aufführen. Aber auch diejenigen, welche Waffenlieferungen befürworten, machen sich schuldig. Sie haben sich hierfür entschieden, obwohl ihnen bekannt ist, dass Waffen Menschenleben vernichten.
Hätte Putin sein Ziel, die Ukraine entgegen dem Völkerrecht Russland einzuverleiben ohne Krieg erreicht, weiß niemand, was er dann getan hätte. Erreicht er aber sein Ziel mit kriegerischen Mitteln nicht, weiß auch niemand, was er tun wird.
Ganz gleich, wie man sich entscheidet, man wird in jedem Fall schuldig. Und diese Entscheidung kann nicht kollektiv getroffen werden. Sie muss von jedem einzelnen Menschen getroffen werden, im Wissen darum, dass seine Entscheidung Konsequenzen hat. Alles, was ich tue oder nicht tue, hat früher oder später Konsequenzen. Daraus ergibt sich die Frage „Bin ich bereit, die Konsequenzen zu tragen?“ Damit bin ich für das Ergebnis in meinem individuellen Rahmen verantwortlich und ich darf nicht auf denjenigen herabschauen, welche eine andere Entscheidung als ich getroffen haben, denn ich mache mich in jedem Fall schuldig.