Er konnte nicht einmal benennen, wie lange er so da gesessen und die Zeilen seines Vaters wieder und wieder gelesen hatte. Anfangs fand er es verstörend, als Serfem, ausgerechnet ein Thulene, ihm den Brief reichte und mit belegter Stimme gestand, wie Leid es ihm täte. Der vermeidliche Mann Bestlins meinte, was er von sich gab und es schien, als würden ihm allein diese wenigen Worte die Luft zum Atmen rauben.
Von einem der Schattenjäger erfuhr er, dass Serfem vor vielen Jahren zum Frontdienst gezwungen und von seinen Liebsten ferngehalten wurde. Die ›göttliche Herrscherin‹ hielt mit ihren elitären Truppen die Familien jener in unbefriedeten Gebieten in Knechtschaft, die ihren Dienst nicht zufriedenstellend verrichteten. Der Junge glaubte zu erahnen, was ihm da vermittelt werden sollte.
Er zwang einen bitteren Kloß herunter, faltete das Stück Papier wieder ordentlich zusammen und bugsierte es dorthin zurück, wo niemand es je finden würde. Es waren seine Worte, die jene, seines Vaters für ihn so wertvoll machten und kein anderer ausgenommen seiner Ma' und seinem Pa' sollten sie zu Gesicht bekommen.
Wir lieben euch - Ma' und Pa'.
Wir denken jede Nacht an euch - Ma' und Pa'.
Wann kommt ihr uns endlich holen - Ma' und Pa'?
Einzig in unseren Erinnerungen und Tränen spiegeln sich eure Gesichter - Ma' und Pa'.
Wir lieben euch Ma' und Pa', bis zum letzten Atemzug.
Euer Kay und Veyed.
Er sah sich um und kletterte zurück auf den Boden der Tatsachen. Entschlossen trugen ihn seine Füße zu einer finster scheinenden Wand, im Lichte des Tages hingegen würde diese sich als dicht gewachsenen Busch darstellen.
Dahinter versteckte er einen nahezu pechschwarzen Rappen, den er sich aus den Ställen der Schattenjäger borgte.
Gespannt beobachtete er die Umgebung und die sich bewegenden Schatten auf der entfernten Palisade. Nicht alle dieser Männer standen im Sold des Lords und ebenso wenige auf dessen Seite, das war ihm gewiss. Dennoch, es trug niemandem auf der Stirn geschrieben und so hielt er sich weiterhin verborgen. Stets zu dritt und nach der Dämmerung zu vieren, ritten Wachgänger zwischen dem Rabengehölz und dem grenzbezeichnenden Bach auf und ab.
Als er sich gewiss war und sein Gespür ihn nicht mahnte, spornte er sein Pferd an. Der Weg hinüber in das schützende Gehölz war kaum nennenswert, dennoch blieb jede falsche Bewegung verräterisch.
Erinnerungen der damaligen Flucht formten Bilder in seinem Geiste und so sah er über die Schulter hinweg. Dies konnte annähernd derselbe Weg gewesen sein, den er einst mit Veyed lief, nur in entgegengesetzter Richtung.
Vorsichtig, dennoch behänden lenkte er den Rappen entlang eines Wildpfades. Dieser, so erinnerte er sich, führte ihn direkt bis an die verwaisten Sandsteingruben. Von dort an würde er entweder laufen und in dem Gerinne weiter bis hinauf zur Erhöhung klettern müssen, oder umständlich den ungeschützten Aufweg folgen.
Er entschied sich für die mühsamere dafür bewährte Route.
Serfem und die Schattenjäger hatten nicht übertrieben. Kayden wurde hier im Wohnhaus seines Vaters geboren und wuchs auf dem verfallenen Hof auf. Noch vor wenigen Jahren spielte er mit seinem Bruder als auch zu Erntezeiten mit anderen Kindern in den zerfallenen Ruinen verstecken.
Aus Erzählungen war im bekannt, wie groß der Weiler vor der Invasion gewesen sein musste und wie viele Menschen in diesem einst lebten. Verblüfft hockte er in den Schatten einer Hauswand und verfolgte die Bewegungen umherstreifender Wächter. Ihm wurde erzählt, dass bei ihrer Flucht die Scheune so auch die Schmiede niederbrannte. Geblieben waren das Wohnhaus und die Lagerstätte, deren großes nunmehr geschlossenes Tor er im Auge hatte.
Dort würde er sich erneut in die Schatten begeben und einen Schleichweg hinüber zum Haus seiner Eltern erkunden. Es standen genügend Hindernisse umher, hinter denen er sich verbergen konnte und die Nacht umgab ihn schützend in seinem braunen Umhang. Die Kapuze zog er sich tief ins Gesicht und schlich geduckt von Schatten zu Schatten. Einer Katze gleich wand er sich durch eng stehende Kisten und Fässer. Sprang, krabbelte und glitt lautlos seinem Ziel entgegen.
Rondal selbst wusste dem Jüngling nicht mehr beizubringen und so war es ihm nur verständlich, sich den Schattenjägern anzuschließen, um den allseits gefürchteten Geisterwald zu durchstreifen. Ein jeder freute sich, den scharfsinnigen Burschen in ihren Reihen zu wissen und vermittelten ihm Erkenntnis, die er aufsog wie ein Schwamm das Wasser. Er galt als einer der Besten und Gerissensten unter den ihren. Alric würde seine Freude an dem Jungen haben, hatte es als Bericht an Kylion geheißen.
Er beobachtete zwei ihm unbekannte Männer aus der Tür seines Hauses treten und diese hinter sich schließen. Er musste sich korrigieren, seines alten Zuhauses. Schwermut belegte seine Glieder bleiern, als er oben am Fenster seiner früheren Räumlichkeit ein müde scheinendes Gesicht erkannte.
Das Zimmer war hell erleuchtet, so als würde in jedem Winkel dieses eine Kerze für Licht sorgen. Ein Schauer überkam ihm, so als glitt eine eisig kalte Hand beginnend des Nackens bis hinab zum Steiß. Er spürte jeden einzelnen Finger dieser irrealen Hand und glaubte nadelspitze Fingernägel zu verspüren. Seine Rechte umfasste einen nahestehenden Pfosten, bis der Schmerz der krampfenden Muskeln und Sehnen ihn ermahnten.
»Auch wenn Bestlin den Weiler wieder aufbauen ließ, ich kann für die Zwei nur hoffen, dass die Jungs nie gefunden werden.«
»Halts Maul. Ich war bei dem Trupp dabei, die die Leichen am Bach fanden. Schaurig sage ich dir.«
»Meinst du ...«
»Nein. Da waren keine Leiber von Kindern. Das hast du aber nicht von mir.«
»Schon klar, aber ...«
»Nichts aber.« Der Sprecher schien nach den richtigen Worten zu suchen und sprach deutlich gepresster als wenige Momente zuvor. »Serfem sagt, sollten die Zwei je wieder kommen, müsse ein jeder sich entscheiden.«
»Gesetz dem Fall. Hast du dich entschieden?«
Sein Gesprächspartner grunzte und schien sich in die hohle Hand zu boxen. Ein dumpfes Klatschen echote laut in Kaydens Ohren. »Ich weiß, auf wessen Seite ich stehe und stehen werde. Ich hoffe, du weißt es spätestens dann auch.«
Der junge Schattenjäger lauschte angestrengt, konnte jedoch nur noch Bruchstücke wahrnehmen. Sie schienen sich über seinen Onkel zu unterhalten und welch zwielichtigen Auftrag dieser im Namen des Lords in Holmfirth auszuführen habe.
Das letzte Mal, dass man ihn zu Gesicht bekam, war vor mehr als einem Jahr.
Ihm wurde gewahr, dass er sich gefährlich weit aus den Schatten wagte, und zuckte zurück. Gerade zur rechten Zeit empfand er, denn zur Gleichen wurde die Tür zum Wohnhaus aufgestoßen. Kaydens Blick schlierte, als dessen Vater mit verschränkten Armen, im Lichte der Öllampe hinter ihm, den Türrahmen beinahe zur Gänze ausfüllte. Dieser blickte sich selbstsicher um, lehnte sich mit vorn aufgelegten Händen über die Brüstung und stierte ins Dunkle. Kayden wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und spürte Augen auf sich ruhen.
»Alna, wo?«
Angesprochene schluchzte und wies mit ausgestreckter Hand hinüber zum Lagerhaus. Genau in seine Richtung.
»Na warte Bürschchen. Ich habe euch räudigen Scheißer mehrfach ermahnt, jetzt reicht es.«
»Klarich sei vorsichtig«, ersuchte Kaydens Mutter mit erstickt.
»Ich werde mir aus deiner zerzausten Gestalt einen neuen Türpfosten knoten. Komm her du Lump«, mahnte sein Vater mit absonderlich klingendem Bass. Er klang nicht mehr wie Früher. Abgestumpft, beinahe herrisch, als wäre jedwede Liebe aus seiner Stimme entwichen.
Er fasste hinter sich und betastete die Wand. Das vierte Brett neben dem Tor, etwa zwei Handspannen oberhalb des Bodens. Seine Bewegungen wurden fahriger, nahezu panisch.
Verdammt, hier war es, es musste hier gewesen sein.
Kayden suchte nach jenem, dass lose an einem Nagel hing und ihm beim Versteckenspielen stets einen Ausweg bot.
Das Brett war nicht mehr oder vielmehr wurde gerichtet, so wie der Rest des Weilers auch.
»Wusste ich´s doch.« Er hieb fordernd die rechte Faust in seine offene Linke - immer wieder aufs Neue. »Komm da vor Bursche, es gibt kein Ausweg.«
Kayden tastete besseren Wissens weiterhin nach dem losen Brett und blickte gehetzt von seinem Vater nach einem anderweitigen Fluchtweg, der ihm in der Tat verwehrt schien. Durch das Gefluche wurden weitere aufmerksam und versperrten ihm den einzig möglichen Weg.
Klarichs Brauen wallten wie Wellen auf dem Meer. Er überlegte, sortierte seine Gedanken. Etwas an der Art wie diese verhüllte Person die Wand betastete, schien ihm bekannt.
Kayden erhob sich bedächtig, um nicht bedrohlich zu wirken. Seine Linke richtete er abwehrend nach vorn, hielt jedoch den Kopf gesenkt, als seine Rechte die geheime Tasche an seinem Gürtel nicht gleich fand. Er wusste, trüge er eine Waffe, sein Vater hätte ihn längst gepackt. Langsam beinahe andächtig hob er den Brief empor und erntete fragende Blicke seines grollenden Gegenübers.
»Was soll das? Willst du dich mich mit einem Stück Papier erschlagen?«
Kayden schallt sich einen Narren, denn er schüttelte zu ungestüm den Kopf. Die Kapuze verrutschte und ließ für sein Empfinden zu viel seines Gesichtes erkennen.
Nach Luft röchelnde Laute drangen ihm schmerzlichst tönend ans Ohr und sein Blick heftete sich an wässrige Augen seines Vaters. Klarichs Mund stand offen und dessen Kinn vibrierte. Tränen rannen ihm haltlos die Wangen hinab, als sich die Erkenntnisse verdichten.
Ein Junge, sein Junge nutzte stets und ständig ein am Lagerhaus lose hängendes Brett, um sich dem Zugriff seines älteren Bruders zu entziehen. Kurzes braunes Haar und eine kleine jugendliche Nase. Die Augen vermochte er nicht zu erkennen und die Lippen schienen voller. Es musste sein, es konnte nicht anders sein.
Die Stimme des Bauern erzitterte und klang flehend. »Mein Junge«, wisperte er gebrochen. Langsam trat er näher, wollte den jungen Mann umarmen. Seine Worte erstarkten mit jedem Atemzug. »Mein Junge. Kay, mein Junge.«
Angesprochener konnte nicht umhin und kämpfte mit den Gefühlen. Sein Magen wurde ihm flau und sein Hals schmerzte. Ohne es weiter abwarten zu können, zog er seinen Vater ins Zwielicht des Lagers und in die Arme. Ihm war egal, ob man ihn jetzt erkannte und das Geheimnis um ihn endlich gelüftet wurde. Die Schatten jedoch verbargen ihre Bewegungen und legten einen dünnen Schleier von Sicherheit über beide.
»Kay ...«
»Pa' ...«
»Mein Junge. Wo ...«
»Pa' bitte. Hör mir zu.« Kayden drückte ihm den Brief in die Hand und Klarich verschloss diese zur Faust. Er sah hinab auf diese und nickte erstickt. »Du bist nicht gekommen, um zu bleiben.«
»Ich musste euch sehen, ich konnte nicht mehr, weißt du?«
»Wir wissen, wie es euch ergeht. Serfem hat sich offiziell als Wachvorsteher hier her versetzen lassen.«
»Serfem.«
»Er ist ein Freund, Kay.«
Eine Stimme erscholl gefährlich nahe. »Klarich was geht da vor. Prügel dem Dieb seinen verdorrten Geist aus dem Schädel und geb endlich Ruhe.«
»Ich verprügle keine Jungen, die Hunger haben«, gab der Bauer ebenso laut zurück.
»Du und dein Wohlgetue. Einen Scheiß drauf.«
Wieder an seinen Sohn gerichtet, verdrängte er das Aufbrausen des Wächters, der kein ehrliches Interesse daran hegte, ihm zur Hilfe zu eilen. »Wann?«
»Sobald Veyed der Falke ist. Ich werde versuchen wieder zu kommen. Richte Ma' aus, dass wir euch beide ganz doll Lieben.«
Klarich konnte nicht antworten. Ihm versagte die Stimme und drückte stattdessen seinen Jungen fest an die Brust.