Am entlegensten Ende des Hafenviertels schien es deutlich dunkler als anderenorts. Wahrlich, man erzählte sich dies nicht nur, es fühlte sich fürwahr irgendwie falsch an. Wie an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
Wie aus weiter Ferne vermochte man das wütende Meer gegen die äußere Kaimauer klatschend und schmatzend wahrzunehmen. Die moosigen Fäden der glitschigen Steine würden jetzt auf und ab tanzen. Die sprühende Gischt einen jeden bis auf die Haut durchnässen.
Innerhalb der schützenden Mauer wogte das Wasser seicht auf und ab und umspielte die von Algen bedeckten Pfosten. Gelegentlich und sofern man nur nahe genug stand, konnte man das Schnalzen vertäuter und altersschwacher Boote hören, wenn deren schlierigen Flanken sich an den Anlegern rieben.
Spiegelungen der wenigen Lampen und Fackeln, die zu dieser Zeit noch brennen mochten, brachen sich auf dem unruhigen Wasser.
Ein Windstoß zerrte allerorts an lose hängende Bretter und blies durch löchrige Wände. Das klingende Wehklagen begleitend des scheppernden Applauses verkündete bevorstehenden Verfall und Abwanderung. Zweifelsohne, das Hafenviertel war keine Gegend der einladenden Gastfreundschaft.
Draußen braute sich ein Unwetter zusammen, von jetzt auf gleich. Es zog an allen erdenklichen Stellen zugig herein, wenngleich der stete Luftaustausch die abgestandene Luft angenehm in Bewegung versetzte. Den Anwesenden schien dies nicht zu kümmern. Es wurde unbekümmert Gerüchten und Garn gelauscht, gesoffen und gerülpst.
»Hey. He du entwerteter Strolch einer räudigen Hündin, hier spielt die Musik.«
Der Sprecher schnippte mit Zeigefinger und Daumen vor des Gegenübers Gesicht. Dessen Stimme klang beinahe väterlich. Absurd.
»Du bist nicht erst seit gestern hier und weißt, was dich erwartet. Sturm zieht auf und ich verwette den verrotteten Arsch meines alten Herrn darauf, dass es gleich anfangen wird, wie aus Kübeln zu pissen.«
Eine Hand, seine Hand, legte sich auf die Tischmitte, so als wolle er ihm diese schützend reichen.
»Willst du auf meinen Schoß kommen? Ich beschütze dich ... ehrlich.«
Der Mistkerl verzog nicht einmal eine Augenbraue. Er meinte wortwörtlich, was er da von sich gab. Mehr noch, er spottete weiter und wedelte mit einer fast vollends geleerten Flasche billigen Fusels. »Na mein Junge, etwas Mut antrinken oder erzählst du mir jetzt endlich, wie du gedenkst, deine letzte Schuld begleichen zu wollen?«
Angesprochener hob müde den Kopf und musterte Stellen, durch denen es unweigerlich hindurchtropfen würde. Er raunte und lehnte sich mit verschränkten Händen voran. Er suchte Blickkontakt und versuchte in den Augen seines Gegenübers zu lesen.
»Ab der nächsten Seite wird es spannender mein Hübscher«, versprach dieser und rülpste ihm ins Gesicht. Seine Nasenflügel begannen sich zu blähen und die Brauen verzogen sich hin zum Nasenansatz. »Spiel nicht mit mir, Maskenmann. Auch wenn du bereits einiges von dem wieder Gut gemacht hast, was uns die deinen schulden ...«
»Einen Dienst. Nur noch einen Frondienst bleibe ich dir schuldig. So war die Abmachung«, unterbrach er das Aufbrausen seines Gegenübers.
»Memnach sollte uns einst Waffen und Leute schicken.«
»Verschone mich mit dem alten Klamauk Dolvi. Von dem und vielen weiteren Seemannsgarn gibt es hier massig genug«, wehrte er kopfschüttelnd ab. »Ich kann es nicht mehr hören und du weißt selber, sofern du deinen Dickschädel endlich einmal zur Abwechslung zum Nachdenken nutzen würdest, dass Memnach euch gar keine Männer hätte entsenden können.«
»Hätten sie nicht. Fürwahr, das hätten sie nicht. Aber es ist immer schön, zu wissen, jemanden Bedeutsamen in der Hand zu haben, der einem einen Gefallen schuldet ... nicht wahr?«
Seine Mundwinkel zuckten und ein geschlagenes Grunzen entwich seinen ungeöffneten Lippen. »Niemand vermochte ihnen noch etwas entgegenzusetzen. Der Zeitpunkt war längst überschritten.«
»Der Traum meines Vaters war die Vereinigung der fünf Inseln. Überlassen wurden uns nur verfallene Ruinen, die wir nicht wieder aufbauen können, weil unsere Bäume zu nichts taugen. Zu klein, zu krumm, zu dünn ...«, theatralisch hob er die Hände und ließ sich nicht wie erdacht auf den Tisch niedersausen, er legte sie gelassen und ruhig auf die Platte. »... Scheiße noch eins. Der spärliche Bewuchs auf den Inseln taugt nicht einmal, um alle Siedlungen mit Palisaden zu umfrieden.«
Sein Kopf sank ihm auf die Brust und seine Stimme klang trauernd. »Wenn wir noch über unsere Boote verfügten, mein Volk würde wieder erstarken. Sie würden ihren Mut und ihre Kraft wieder erlangen. Die Lieder der Sagen würden erneut übers Meer hallen.«
Eine Hand schob sich in sein getrübtes Blickfeld und er hob verunsichert die Brauen.
»Wenn ich es schaffe, dir und den deinen, ausreichend Holz zu beschaffen ...«
»Du?«
»... könntest du das Vorhaben deines Vaters aufgreifen.«
Schwer atmete Dolvi ein und wieder aus, seine Stimme einem Hauch gleich. »Das Vermächtnis meines alten Herrn. Die Vereinigung der Clans. Olofsson, Großjarl der Inseln.« Er hob den Blick und ein Lächeln stahl sich auf seine Züge. »König Dolvi. Herrscher und Großjarl der fünf geeinten Inseln. Wenn du Schwätzer das schaffst, gilt dein letzter Frondienst als beendet. Mehr noch, ich werde mir künftig das Lästern über den Landrattenadel sparen.«
Angesprochener beugte sich, ohne den Freibeuter aus den Augen zu lassen zur Rechten und förderte einen schlank anmutenden Gegenstand auf den Tisch. Eingeschlagen in schmuddelige Stoffstreifen lag er vor ihnen und wurde näher zu Dolvi geschoben.
»Ist es das, was ich vermute?«
»Ein Schwätzer benötigt derlei nicht. Es ist deines Vaters Klinge.«
Beinahe erwartungsvoll glitt dessen Linke über die Lumpen, ohne jedoch das darunter von diesen zu befreien. Der Blick wie sein seichtes Kopfnicken bestätigten ihm, was er unlängst annahm.
»Nimm es zurück. Diese Waffe gleicht keiner hierzulande und ist ein viel zu kostbares Gut.«
»Es ist das Wertvollste, was ich je hätte geben können und du hast sie dir mehr als verdient.«
»Als Schwätzer?«
Ihre Blicke trafen sich erneut, sie bemaßen sich und suchten nach Unaussprechlichem. Beide wussten, wer jetzt zuerst sprach, würde verlieren.