Er tat es den anderen gleich. Um nicht abermals unangenehm aufzufallen und die bevorstehenden Umstände zu wiederholen, in die er sich tags zuvor unentwegt bewegte, hoffte er nunmehr sich zurückhalten und unauffällig verhalten zu können.
In einfacher Leinenkleidung gehüllt, schlurfte er mit Less an seiner Seite durch die Straßen und Gassen der Stadt. Sein treuer Freund blieb ihm beständig nah. Die Nase hoch erhoben, um alle erdenklichen Gerüche aufzunehmen. Dessen Ohren gespitzt, um jedwede Geräusche wie Laute rechtzeitig zu urteilen und seine Rute prangte mahnend senkrecht. Keine zwei Handbreit tapste dieser rechts von ihm entfernt; stets bereit, seinem Herrchen zu helfen.
Es viel ihm sichtlich schwer und ein waches Auge würde unzweifelhaft bemerken, dass er es nicht gewohnt war, sich dermaßen unterwürfig zu zeigen. Immer wieder verharrte er und sah sich mit offen stehendem Munde um. Er verstand nicht, was sich ihm bot.
Innerlich war er froh über den gestrigen Ausklang des Abenteuers, kamen sie heil und unbehelligt in ihre Betten. Anstatt einer Standpauke klopfte Serfem ihm schlicht auf die Schulter. »Nicht wie wir es uns vorgestellt haben, aber aufschlussreich. Womöglich bewegt sich in Memnach mehr, als wir glaubten zu wissen«, hatte er gemeint. Nicht ein Wort über seine unbeholfene Art und Weise. Kein Tadel oder Rüge, nicht einmal von dem heiklen Vorfall, als man ihm den Finger abschneiden wollte. Kayden war sich nicht sicher, ob er dem Thulenen abkaufen sollte, der Abend sei zufriedenstellend gelaufen.
Memnach bot zügellose Angebote für nahezu jeden. Für alles war langhin gesorgt. An diesem Ort wurden all jene fündig und bekamen, was sie bereit waren zu suchen wie zu geben. Von was auch immer gab es mehr als genug und diese Grenzenlosigkeit wurde offen gelebt wie dargeboten. Eine wahrlich reiche Stadt, wenn man Sarkasmus und Ironie lebte und liebte. Gleiches galt offensichtlich für Schändung, Missbrauch und Gewalt.
Kayden glaubte zu begreifen, aus welchem Grunde die Gemeinen ermattet zu Boden stierten und mit gesenktem Haupt ihres Weges zogen. Der gestrige Tag lehrte ihn, dass Vernunft nicht uneingeschränkt dem eigenen Empfinden folgen musste und dass einem das Hemd näher war als die Hose.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Selbst Serfem wusste darauf keine befriedigende Antwort. So gut es ihm möglich war, versuchte er den Brüdern klar zu machen, dass das was sie in den kommenden Tagen sehen, hören und womöglich fühlten, über kurz oder lang auch Falkenau ereilte. Sie konnten sich nicht für ewig hinter der schützenden Baumgrenze verstecken, die ihre Zuflucht noch zu schützen wusste. Das, was für Agrea, gar für die gesamten Siebenkönigslande zum grausamen Alltag wurde, muss ein Ende finden und aus jenem Grund seien sie in der Stadt.
Egal was ihnen ihr Gewissen rät, sie sollten sich unter allen Umständen von Auseinandersetzungen fernhalten.
Hinter sich Less wissend, saß er auf einem Mauervorsprung, der in eine abwärtsführende Treppe mit Brustwehr einherging. Genauer betrachtet hockte er zwischen zwei Zinnen, die den Jungen zur Rechten wie Linken verbargen. Aufmerksam beobachtete er das Treiben der Unterstadt und schnitzte mit seinem altbackenem Messer an einem achtlos herumgelegenen Stück Holz.
Eine verwahrloste Grünfläche entzog ihn den Blicken vorbeigehender vom Wege aus. Das, was einst womöglich ein Beet oder kleiner Garten gewesen sein mochte, wurde nunmehr von wild wachsenden Sträuchern und dichtem Buschwerk umwuchert.
Jene die in der Stadt lebten taten was auch immer. Der ›Falke‹ empfand es als unmöglich, Struktur in diesem Durcheinander zu erkennen; strengte er sich auch noch so an. Memnach, begonnen bei den Häusern, schien vor sich hin zu rotten. Das die damalig eingefallenen Horden alle möglichen Stilisierungen, die an die einstigen Herrschaften erinnerten, zerstört haben ist das eine. Dass die vorstehenden Obristen und Häscher Thules nichts gegen den offenkundigen Zerfall der Gebäude taten und somit jeglicher Vernunft handelten, wollte sich ihm nicht erschließen.
Leute, die wirkten, als kämen sie direkten Weges aus den Zellen der Kerker, marschierten in Gruppen auf die Felder vor den Toren der Stadt. Jeder von denen, die bewusst wie unbewusst aus der Reihe traten, wurden mit Peitschenhieben zurückgedrängt. Oftmals waren diese armen Seelen mit nicht mehr als herabhängenden Fetzen bedeckt. Wulstige Narben und halb verschorfte Wunden zeugten von tagtäglicher Pein.
Abgemergelte Gestalten, die am Wegesrand beim Betteln erwischt wurden, machten Bekanntschaft mit den Stiefeln von Soldaten oder jenen, die im Namen der Obristen wüteten.
Menschlichkeit, Moral gar die Sittsamkeit gegenüber Kindern und jungen Mädchen - sogar Knaben - am Höhepunkt ihrer Reife schienen unter der Knute Thules keinerlei Stellenwert zu bemessen.
Offenen Weges, vor den Augen von Vätern wie Müttern, wurden Schutzbefohlene geschlagen, gedemütigt und unsittlich berührt bis hin zu öffentlichen Schändungen und Missbrauch. Kayden bekam in einer der unzähligen Seitengassen mit, wie fadenscheinige Behauptungen zu einer solchen Vergewaltigung führten. Unter Einhaltung frivolem Gelächter machten Wetten die Runde, beim wievielten das junge Miststück das Bewusstsein wohl verlor.
Es schmerzte ihn im Herzen und kratzte mit gierigen Fingern an seinem Gewissen, nicht einschreiten zu dürfen. Die gesamte Stadt war ein Sündenpfuhl. Eine Schande und menschenunwürdig. Dennoch, wem würde es helfen, würde er ... ja wem sollte ausgerechnet er allein zur Seite stehen können? Was würde es nützen?
Tränen rannen ihm die Wangen hinab. Wut nagte an ihm. Empörung darüber, dass er nicht in der Lage war, Einfluss an dem Geschehen zu nehmen.
Bis zur Mittagsstunde war er umhergestreift, bis er sein hiesiges Plätzchen fand. Dort im Schutze des Grüns und den Zinnen grübelte er über das dominierende Elend und der unübersehbaren Hoffnungslosigkeit.