Er kehrte in eine der oberen, wohlgemeinten, besseren Schenken ein. Seine Kehle war ihm trocken und gedachte zu überprüfen, inwieweit er mit seinen Vermutungen richtig lag.
Kaum dass er an einem knorrigen Baum seine Zettel versteckte, machte sich eine gebeugte, offensichtlich ältere Person, daran zu schaffen und verschwand eben in jener. Er musste Vorsicht walten lassen und so versuchte er unscheinbar zu wirken.
Bisweilen konnte oder wollte ihm niemand hinreichend Auskunft darüber geben, wie das Volk zu Thule und seinen Häschern stand. Die Blaubluter und ihre Schergen schliffen nahezu das gesamte Land und verhinderten jegliche Versuche dieses wieder aufzubauen.
Nichts, und wenn dann nur sehr wenig deutete, noch auf längst vergangene Zeiten hin. Die Wappen Memnachs und derer der Myrefall wurden nach der Übernahme der thulenischen Herrschaft vollends getilgt. Gleiches galt für die sinnbildliche Darstellung ihres Leittieres - den Falken.
Nach wie vor konnte er sich nicht vorstellen, woran es liegen mochte, das Agrea sich nicht zur Wehr setzte. Diese göttliche Herrscherin zog nach der Machtübernahme der Ländereien den Großteil ihres Volkes ab. Lediglich die Gedungenen, ihre Schergen und rot blutenden Nachkommen, ließen sie zurück.
Was diese im Namen ihrer Herrlichkeit verrichteten, lag auf der Hand.
»Jemand wie du wird hier nicht bedient, verschwinde«, wurde Kayden brüsk empfangen, noch bevor er seinen zweiten Fuß in den Raum der Schenke aufsetzte.
Alle zuvor geführten Gespräche verstummten schlagartig und jeden einzelnen Blick fühlte er auf sich ruhen.
Na wunderbar, so was Ähnliches hatte ich schon. Dachte der ›Falke‹. Aussprechen hingegen tat er anderes. »Ich möchte nur«, begann er sich zu rechtfertigen.
»Was du willst, interessiert hier so gar keinen«, blaffte der Wirt hinter seiner Theke. Dessen Lappen zeigte genau in seine Richtung und war ebenso Rot wie das Gesicht, das dort schimpfte.
»Hau bloß ab und nimm deine schmutzigen Parolen mit«, schnauzte nunmehr ein anderer, der mit einem einzigen Schritt seitlich von ihm stand und ihn dorthin schubste, woher er kam.
Mit dem Hosenboden voran landete Kayden abermals im Dreck, das zusammengeknüllte Stück Papier auf seinem Schoß.
»Lass dich hier nie wieder blicken. Beim nächsten Mal bekommst du eine Abreibung, bevor wir die Schwadrone rufen.« Der Mann hatte nicht einmal gänzlich ausgesprochen, als die Tür bereits ins Schloss fiel.
»Da vorn'! Da ist der Bastard!«
»Packt ihn«, rief eine weitere Stimme, die für seinen Geschmack viel zu nah klang.
Kayden unterließ es unterdessen, sich umzusehen. Sein Instinkt riet ihm, schleunigst die Beine in die Hand zu nehmen. Er rollte mit den Augen, seine Lippen öffneten sich zu einer stillen Klage. »Nicht schon wieder«, raunte er.
So schnell seine Füße ihn trugen, hetzte er durch ihm unbekanntes Gebiet. Ohne Ziel und stets der Nase nach.
Mit voraushaltenden Handflächen sprang er über umherstehende Kisten und Fässer. Hechtete rücksichtslos durch Hecken wie Sträucher und kletterte gewandt über Zäune und halbhohe Mauervorsprünge hinweg. Kratzer auf Hände, Arme und Gesicht waren ihm ein kleineres Übel, als sich diesem Pack stellen zu müssen.
»Hab ich dich!« Unerwartet trat ihm ein mit einer Klinge Bewaffneter entgegen, der den Weg zur Gasse rechts von ihm versperrte. Der ungebetener jemand fuchtelte mit seinem Schwert herum und schien irgendetwas lustig zu finden. »Na mein Hübscher, bereit für ein Tänzchen?«
Kayden war außer Atem und sah sich gehetzt um. Er hielt die Hände gebeugt auf den Knien und musterte den Mann abschätzend. Dieser fing an, rau und rüde zu grunzen.
»Du bist flink. Hast den anderen ordentlich zugesetzt.«
»Lass mich durch«, hauchte der ›Falke‹. Er schüttelte unterstreichend den Kopf. »Bitte, ich habe nichts Unrechtes getan.«
»Mmh, möglich.«
»Ehrlich.«
»Wenn du mit den Händen und den Mund ebenso gewieft bist, wie mit deinen Füßen ... kannst du dich bei mir verkriechen. Vielleicht lasse ich dich sogar am Leben.«
Angewidert zog Kayden die Stirn kraus. Sein rechter Nasenflügel begann zu vibrieren und die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf. Jemand rief und er hörte seine Verfolger nahen. In seinen Gedanken hallten Rufe und entstanden Bilder von einem jungen Mädchen, welches geschunden am Boden lag. »Du mieses Schwein.«
Seine Stimme grollte wie ein mahlender Mühlenstein. Die Luft um ihn herum schien merklich kühler zu werden. Er glaubte gar, den Atem seines Häschers zu sehen. Feinster Nebel, bestehend aus aberwitzig kleinen Eiskristallen. Ganz so, als hauche man im tiefen Winter aus.
Seine Sinne waren nicht mehr die seinen, obgleich er genauestens wusste, was er tat, spürte und hörte. Es fühlte sich an, als sei er entrückt. Die Instinkte wacher und aufmerksamer als zuvor. Agbar blieb wie geheißen weit außerhalb der Sicht, seinen üblichen Ruf konnte er hingegen deutlich hören. Er empfand sich ihm nahe.
Ohne geringste Anzeichen, die jemand hätte als Vorwarnung benennen können, sprang er aus seiner nach wie vor gebeugten Haltung vor. Jener, der sich mit seinem rostigen wie schartigen Schwert noch Augenblicke zuvor übermäßig und überlegen fühlte, sah seinem sprichwörtlichen Todesengel in die Augen.
Dem Bewaffneten verblieb nicht einmal ein Bruchteil eines Atemzuges um sich zu rühren, geschweige denn dem Angriff zu erwehren.
Widererwarten und mit pochenden Schläfen schlitterte er aus der schmalen Gasse, die noch kurz zuvor zu seinem Verhängnis hätte werden sollen, auf ein weitflächig freies Gelände. Seine Verfolger ihm auf den Fersen.
»Ha, der Drecksack rennt in sein Verderben«, hörte er jemanden hinter sich höhnen.
»Pack ihn einfach du Idiot«, brüllte ein weiterer.
Schnellen Blickes versuchte Kayden sich zu orientieren und schallt sich selbst einen Ochsen.
Anstatt in Richtung Unterstadt zu laufen, dorthin wo die Kanäle bereits vor vielen Jahren aufgebrochen wurden, trugen ihn seine Beine genau zu jenem Platz, an welchem er nicht sein wollte. Sein Verstand wusste, dass er innerhalb des unterirdischen Wegenetzes vor nahezu aller Augen spurlos verschwinden konnte, hingegen jeglicher Vernunft, war er unterdessen ausgerechnet hier gelandet.
Der Hohn heuchelte seine Streiche mit ihm. »Das Schicksal, mein Junge, lässt sich nicht betrügen«, hatte einst sein Vater zu ihm gesagt, als er mit Veyed fangen spielte und dummerweise auf eine liegen gelassenen Harke trat. »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt zu meist selbst hinein«, witzelte sodann auch noch sein Onkel.
Er drehte sich herum, verzog die Mundwinkel und schnaubte. »Wo steckt Serfem, wenn man ihn braucht.«
Er wusste, wo er sich augenblicklich und auf sich allein gestellt befand, aber nicht zu sein begehrte. Überall nur nicht an diesem Ort. Seine Gedanken verrieten ihm, was er nicht in Worte zu kleiden gedachte. Zu viel Ungerechtigkeit und Gram gingen von diesem Platz aus, er spürte es in jeder seiner fasern - der alte Marktplatz.
Da war das uralte steinhölzerne Tor, welches sich nach Außen hin öffnete und das nördliche Herz Agreas von den alltäglichen Dingen innerhalb der vorgelagerten Stadt verriegelte. Hinter dem Portal der verwaiste und erbenlose Thron des Stadtadels wie auch die Bastion der einst stolzen Rotten. Davor zwei Schwadrone, die zu ihm herübersahen.
Wenn geschlossen galt die Ummauerung als unüberwindbar. Memnach ergab sich dem Feind nach langer Belagerung, nachdem die Thulenen begannen, die Überreste Verstorbener mit Katapulten über die alten Festungsmauern zu schleudern.
Rechts von dem Tor, so glaubte er, eine in die Mauer eingelassene Tafel zu erkennen. Darüber einen nahezu verrosteten Nagel. Unumgänglich dachte er an die abendliche Geschichte des Müllers und deren Ende. Die Augenklappe des hingerichteten Myrefall und seiner Gemahlin.
Andererseits fand er umliegend erhöhte wie umwehrte Plattformen auf Dächern und vorgelagerten Balkonen. Dort konnten sich Schützen vortrefflich verbergen und das gesamte Areal unausweichlich zum Hexenkessel verwandeln. Niemand würde diesen Platz lebend verlassen, vorausgesetzt der Feind käme nicht in ungezählter Übermacht und sprach sich das Recht zu, einige Hundert Opfer seien zu verkraften.
»Jetzt haben wir dich du räudiger Hund. Schluss mit weglaufen.«
Kaum das die letzten Worte in seinem Ohr nachklangen, spürte er einen unsäglichen Schmerz am Hinterkopf. Ihm wurde schwarz vor Augen und verlor das Bewusstsein.