Ziellos wanderte ich umher. Der Schmerz in meinem Bauch war längst abgeklungen, doch ansonsten fühlte sich mein Körper immer noch an wie eine einzige große Wunde. Doch mit der Zeit verflüchtigte sich auch der Rest meiner körperlichen Qual. Nie hätte ich gedacht, dass ich der Eiseskälte, die an diesem undankbaren Ort herrschte, jemals etwas Positives abgewinnen könnte. Sie fraß sich in meinen Körper, bis sie meine Knochen erreicht hatte und betäubte meine Glieder, sodass ich einigermaßen schnell voran kommen konnte. Bald würde ich aber sowieso wieder normal laufen können. Nur wohin ging ich eigentlich? Hatte ich die richtige Richtung erwischt oder humpelte ich gerade in die entgegen gesetzte? Die altbekannte Stille umgab mich wieder und blieb mir eine Antwort schuldig. Dennoch... manchmal war mir, als hätte ich hinter mir etwas gehört und ich blieb abrupt stehen, hielt den Atem an und lauschte mit pochendem Herzen, nur um zu bemerken, dass da wohl doch nichts wahr. Toll, jetzt wurde ich auch noch paranoid, was aber im Grunde auch kein Wunder war, nach allem, was ich in der letzten Stunde erlebt hatte. Als nächstes würde ich Stimmen hören und anfangen mit ihnen zu reden. Verdammt ich musste mich zusammenreißen und den Jungen finden! Völlig überflüssig zu erwähnen, dass ich mich noch immer nicht in Sicherheit wiegte und orientierungslos durch die dunkle Suppe wanderte. Sicherheit, die gab es hier nicht und auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als wie ein Kleinkind zwischen meinen Eltern auf der Couch zu sitzen und in meine Lieblingsdecke gewickelt eine Tasse heiße Schokolade zu trinken, wusste ich genau, dass ich nicht einfach in den nächsten Minuten aus diesem Alptraum erwachen würde. Waren es Tage, Wochen oder gar Monate, die ich schon hier verbracht hatte? Ich hatte mein Zeitgefühl komplett verloren und das machte mir Angst. Aber am meisten fürchtete ich mich vor der alles entscheidenden Frage. War ich noch am Leben oder schon längst tot? Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, aber zu viel sprach dagegen, dass ich noch lebte. Ich wusste genau, dass ich mich hier verletzen konnte, was eigentlich Grund zur Annahme war, dass ich noch lebendig war. Aber war es normal, dass ein aufgeschlagenes Knie nach wenigen Minuten heilte? Auch jetzt konnte ich spüren wie nach und nach mein verschnellerter Genesungsprozess einsetzte, wenn auch langsamer als erwartet... Vielleicht lag es daran, dass mich diesmal das Monster verletzt hatte. Ich hatte es einer Eingebung nach Seelenfresser getauft, weil ich im tiefsten Inneren der Ansicht war schon tot zu sein. Und was blieb nach dem Tod anderes vom Menschen übrig als die Seele? Nur hätte ich nie erwartet ein zweites Mal sterben zu können, denn was blieb zurück, wenn sogar die Seele ausgelöscht wurde? Nun wusste ich es... Man wurde zu einer identitätslosen Kreatur, der es nach nichts anderem als dem dürstete, was sie selbst einmal waren. Vielleicht spürten sie genau, was ihnen fehlte und wollten das klaffende Loch in ihrer Brust wieder füllen... mit einer anderen Seele. Ob es klappte, wusste ich allerdings nicht. Und selbst wenn, wäre man danach noch man selbst? Fragen über Fragen, die mir niemand beantworten würde...
Ein weiterer Grund, der die Theorie meines Todes verstärkte, war das fehlende Bedürnis zu schlafen. So ausgelaugt wie ich jetzt auch sein mochte, mein Körper kannte keine Müdigkeit. Und wäre das nicht schon seltsam genug, fehlte mir auch ein weiteres Grundbedürfnis...
Normalerweise war ich ein Mensch, der quasi immer Hunger hatte, doch seitdem ich hier gelandet war, verspürte ich keinen Appetit, keinen Drang danach überhaupt etwas essen zu wollen. Einerseits war das gut, denn was sollte ich hier auch zu mir nehmen? Andererseits war es befremdlich, komisch, angsteinflößend, denn wenn ich nichts mehr brauchte, das mich am Leben hielt... was sprach dann dagegen, dass ich nicht schon längst gestorben war? Nichts, das versetzte mir den größten Stich. Als das mit Sophie noch nicht passiert war, hatten wir oft darüber gesprochen, nachgedacht, was mit uns passiert sein könnte, hatten uns auch die Frage der Fragen gestellt. Tot oder lebendig? Nach langen Überlegungen und Grübeleien kamen wir zu dem Schluss, dass wir nicht länger unter den Lebenden weilten. Zu viel sprach dagegen...
Und doch... das Jenseits hatte ich mir so nicht vorgestellt. Ich war nie ein Sonnenschein gewesen, hatte als Kind schon immer gerne Streiche gespielt und entsprach bis zum Zeitpunkt meiner Ankunft hier nicht dem Idealbild eines freundlichen, hilfsbereiten Menschen. Aber Grund genug mich in diese Hölle zu verfrachten war das meiner Ansicht nach nicht. Da steckte mehr dahinter, ich hatte es im Gefühl. Was auch immer es war, ich hatte mir in den Kopf gesetzt, es herauszufinden und diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Auch wenn ich bereits gestorben war, hatte ich meine Hoffnung auf ein besseres Leben danach nicht begraben. Irgendeine Art der Erlösung musste es für mich noch geben, denn ich war nicht bereit für den Rest meines Seins in Dunkelheit zu schmoren.
Ohne es bemerkt zu haben lief ich schneller und entschlossener. Mal nach rechts mal nach links, um eine möglichst große Fläche abzudecken, bis sich mein Schuh nach einiger Zeit in einer deutlichen, wabbeligen Erhebung verfing und ich mit einem überraschten Schrei zu Boden ging. So schnell wie möglich krabbelte ich davon und rollte mich zur Seite. Wenn das schon wieder einer war, wäre es das dieses Mal mit hoher Wahrscheinlichkeit für mich gewesen! Ich richtete mich auf, rannte ein gutes Stück weg und wartete mit pochendem Herzen, ob ich verfolgt werden würde oder nicht. Als auch nach mehreren Minuten nichts geschah, ging ich langsam und vorsichtig zurück, bis mein Schuh wieder an etwas stieß. Zögernd beugte ich mich nach unten und streckte eine Hand in Richtung Boden aus. Alles oder nichts! Ich berührte nackte Haut. Wie von einer Tarantel gestochen zog ich mich wieder zurück und presste meinen Arm an die Brust. Noch immer regte sich nichts, niemand machte Anstalten sich auf mich zu werfen.
Wieder ging ich in die Hocke. Sollte ich ihn wirklich gefunden haben? Zögernd streckte ich meine Hand wieder nach unten aus und spürte Haut und verklebten, zerfetzten Stoff. Er war es.
Erleichtert sackte ich auf den Boden und spürte wie mir Tränen von den Wangen liefen. Seit die Seele meiner Freundin verschlungen wurde und sich morbiderweise in die gleiche Kreatur verwandelt wurde, die sie angegriffen hatte, war ich komplett auf mich allein gestellt gewesen. Sie war mein Licht in all der Dunkelheit gewesen. Wir kannten uns schon ewig und drei Tage. Selber Kindergarten, selbe Schule, sogar dieselben Hobbys... Sie war immer für mich da gewesen, hatte sich stillschweigend meine Probleme angehört und mir geholfen, wann immer ich in Schwierigkeiten gewesen war. Sie hatte mir, so mies meine Laune auch war, immer ein Lächeln auf mein Gesicht gezaubert. Wenn man irgendjemanden eine beste Freundin nennen konnte, dann sie. Wir waren wie Schwestern gewesen, unzertrennlich. Sogar hier waren wir beide zusammen gelandet. Ich war so überglücklich gewesen, sie an meiner Seite zu wissen. Sie hatte mir Hoffnung und Zuversicht geschenkt, selbst hier in all der Dunkelheit, Scherze gerissen und versuchte mich aufzuheitern, auch wenn sie selbst am liebsten geweint hätte.
Ich spürte wieder die Schuldgefühle in mir hochsteigen und konnte kaum verhindern, dass ich hemmungslos zu schluchzen anfing. Zerissen zwischen Selbsthass und der Freude endlich nicht mehr alleine zu sein, krallte ich meine Hände in den Arm des Jungen und überließ mich meinen Gefühlen.
Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, als meine Tränen endlich versiegten. Beschämt ließ ich den Arm des bewusstlosen Unbekannten los, ganz leise hörte ich ihn atmen. Er war noch immer nicht aufgewacht, aber das war egal.
Ich würde warten.