»Sie kommen!«, echote ein Ruf. Jarik gestikulierte mit den Armen. Wortlose Befehle wurden erteilt, und einige der berittenen Jäger schwärmten aus. Der enge Baumwuchs lichtete sich und voraus traten die Ersten ins Freie und ausdruckreiche Laute des erstaunen wurden gehör. Eine riesige Lichtung, direkt vor dem Brehin weitete sich vor ihnen und vielerorts brannten üppige Feuerstellen. Die einfahrenden Fuhrwerke wurden von den bereits Anwesenden eingewiesen.
»Schafft die Karren ins Rund und lasst dazwischen entsprechend Platz für eure Feuer. Wir lagern hier, bei den ersten Sonnenstrahlen ziehen wir weiter. Ruht euch aus«, verteilte Ben, in Absprache mit seinen Freunden, die Order unter den einfahrenden. Die Jäger versorgten hingegen ihre Pferde und halfen mit den bereits wartenden Neuankömmlingen den Übrigen beim Stellen der Fuhrwerke.
Kochfeuer wurden entfacht und Fackelschein erhellte die Reihen zwischen den Karren, wo viele sich einfach auf mitgeführte Decken niederlegten. Nicht wenige waren von dem ausgiebigen Marsch ermattet und rollten sich zum Schlafen ein, ohne sich an die entzündeten Feuer zu gesellen und Gedanken auszutauschen. Die Restlichen fanden sich jedoch zusammen, sprachen über Ereignisse des Tages sowie einer eventuellen Zukunft und den erheblich angeschwollenen Tross, bestehend aus mehr als fünfhundert Menschen, zuzüglich Tieren. Ben verweilte mit seinen Freunden abseits der Menge, nahe den grasenden Pferden und lauschte den Gesprächen seiner Jäger, als Yaeko ihn aus seinen Gedanken riss.
»Wie erhofft keinerlei Probleme. Kein einziger der Gouwors oder Heuler hält sich in der Nähe auf. Die Siedler waren gut vorbereitet und warteten auf unser Eintreffen. Eric hatte sie demnach gewissenhaft angewiesen.«
»Soll uns nur recht sein. Hast du Reiter vorausgeschickt oder bestreifen sie das Umland?«
»Ich habe mir gedacht, zwei meiner Scharen zum dritten Wegepunkt vorausreiten zu lassen. Dein Gefühl in allen Ehren, aber bisher hat es sich nicht bewahrheitet. Nichtsdestotrotz kann ich es einfach nicht so ohne Weiteres übergehen und sicherheitshalber diesen Entschluss getroffen.«
»Gute gemacht, Yaeko.« Ben klopfte ihm fest aufs Knie. »Das spart uns Einiges an Zeit. Ich will unsere Leute Morgen, noch vor Einbruch der Nacht, in dem Pass haben. Erst dann wage ich es, sie erneut lagern zu lassen.«
»Bisher liegen wir doch in der Zeit und sind trotz des langsamen Vorankommens weit gekommen. Wir könnten vielleicht den Tross beim Aufbruch anstatt in zwei, in drei Reihen marschieren lassen«, gab Jarik zu bedenken.
»Hm.« Ben massierte sich in Gedanken das Kinn und schaute ins flackernde Feuer, welches seine leuchtend blauen Augen ein gespenstisches Aussehen verlieh. »Wenn wir sie in drei Reihen bekommen, verkürzt das zwar deren Länge, aber vor dem Pass stockt dieser dann wieder. Du weißt doch, drei Längen in der Breite. Das ist nicht viel, wenn zwei Karren nebeneinander und dazwischen Menschen und diverses Vieh hindurch getrieben werden.«
Jarik schien darüber nachzudenken und nickte. Er nestelte mit beiden Händen vornübergebeugt an einigen Grashalmen und zupfte den einen oder anderen dabei aus. »Stimmt, daran habe ich nicht gedacht.«
»Wie dem auch sei. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und sollten uns ausruhen. Wir sitzen zwar auf den Rücken unserer Pferde, aber müssen dafür auch die Umgebung im Auge behalten. Ich für meinen Teil bin Todmüde.«
Morgengrauen brach an und alle zu Pferd kümmerten sich um die Versorgung ihrer Tiere und organisierten Patrouillen, um den Weg zum dritten Wegepunkt abzusichern. Die Siedler verräumten ihre Habe und löschten die verbliebenen Glutnester der nächtlichen Feuer. Heiteres Gelächter und angeregte Gespräche säumten die gesamte Lichtung, in der vollkommene Betriebsamkeit herrschte. Die Lieder vereinzelter Schwingen gesellten sich der Heiterkeit derer und zauberte so manchen ein lächeln auf die Lippen.
»Auf auf, es geht weiter! Abmarsch zum dritten Ziel – dem Zugang zum Pass. Unsere neue Heimat rückt mit jedem Schritt näher.«
Ausgeruht und mit Zuversicht geladen sowie die bisher ereignislose Reise schien die Anwesenden anzuspornen. Keine unmittelbare Gefahr und erhöhter Schutz verlieh allen einen zufriedeneren Gesichtsausdruck. Der gesamte Tross war in wenigen Momenten in Bewegung und das einzig wirkliche Hindernis, die Terne, ohne schwer greifende Probleme überwunden. Festgefahrene Karren wurden mit bloßer Muskelkraft vorangeschoben und gezogen. Wo es sich nicht anders bewerkstelligen ließ, wurden kurzerhand Bohlen aus den Materialkarren herbeigeholt und als Hebel untergehakt. Die meisten Fuhrwerke jedoch passierten diesen breiten Bach, der zum Frühjahr stark anschwoll und einem Fluss glich, ohne besondere Mühen.
Einige Gesprächsfetzen drangen bis an Bens Gehör, die ihn aber nicht weiter beunruhigten oder zum Einlenken zwangen.
»Wie lang ist denn dieser Pass ...«
»Wie sieht das Tal dahinter wohl aus ...«
»Werden wir wieder in Frieden leben können ...«
»Haben wir es geschafft ...« und viele ergänzende Gespräche über das Kommende gediehen. Bis zu dem Augenblick, als zwei Reiter im vollen Galopp auf das Gefolge zuhielten. Die Art, wie sie ihre Tiere anspornten und der Schaum vor den Nüstern derer, zeugte von Dringlichem.
»Das sind unsere Männer. Irgendetwas muss passiert sein.« Ben hob ruckartig die rechte Faust nach oben und gab Nachrückenden somit den Befehl zum sofortigen Halten. Die berittenen Kämpfer versteifen sich augenblicklich und hielten wachsam Ausschau einer drohenden Gefahr. Die Boten waren schnell heran, schlitternd zügelten sie ihre Pferde. Ganz außer Atem erklärte einer der beiden, dass sich auf halbem Wege, zwischen dem Terne und dem dritten Wegepunkt eine Rotte Gouwors, geschätzt auf eine Hundertschaft, versammelten. Die Übrigen der zwei Scharen hätten sich zurückgezogen, um zu beobachten. »Sie haben ein Lager eingerichtet. Es deuten jedoch keine Spuren daraufhin, dass sie bereits länger dort verweilen. Mit diesem riesigen Zug kommen wir keinesfalls an ihnen vorbei.«
Ben richtete sich in den Steigbügeln auf, dreht seinen Oberkörper Richtung des geführten Trosses und schwenkte mit seiner gereckten Rechten, um den Kämpfern zu verdeutlichen, sich um ihn zu sammeln.
»Männer, nun zählt es. Unsere Boten berichten von einer Hundertschaft Gouwors direkt voraus. Wir können sie nicht umgehen und sind verpflichtet, den Zug zu schützen. Uns bleibt keine Wahl. Denkt an den Drill. Bis zum Erbrechen haben wir zusammen trainiert und nun müssen wir beweisen, dass die Zeit nicht vergeudet war. Der Baumwuchs steht dicht, verdeckt viele unserer Bewegungen und können von genauso vielen Seiten nah heran. Ich erwarte ab Sichtweite gehörigen Lärm von einem jeden; diese Brut soll stehend ihren Untergang entgegen sehen. Keine Gefangenen, keine Gnade. In Zweierreihen zu je Fünfen wird unsere Wendigkeit im Wald garantieren. Reitet durch sie hindurch, sodass Nachrückende nicht in euch selbst prallen. Die Lanzen sollen nicht in euren Ärschen stecken, sondern in denen, die euch seit vielen Sommern unterdrücken. Zwei Scharen bleiben beim Tross, der Rest in Aufstellung. Yaeko, Jarik. Ihr führt die Flanken.«
Dank des unaufhaltsamen Trainings, welches etlichen deutlichst in Erinnerung schien, machte sich eindringlich bemerkbar. Geordnete und präzise wurde Formation bezogen, Schwerter und Pfeile gelockert. Grimmige Gesichter säumten die Reihen der Berittenen, Lanzen wurden nachgefasst und ausbalancierend in den Händen gewippt.
»Leichter Trab bis auf Sichtweite!«, bellte Ben. Um den Anritt zu signalisieren, holte er mit seiner Rechten aus und reckte sie nach vorn. Augenblicklich trabte alle an – ihr Ziel, die erste konkrete Feindbegegnung. Ein bemerkenswerter Blick, fast eine komplette Hundertschaft Berittener, bewaffnet mit Lanze, Schwert und Bogen. So passierten sie die Schatten der Bäume zu ihrem ersten gemeinsamen Kampf und der ersten wahrlich münzbaren Gegenwehr der Menschen. Leichtes und gedämpftes Trommeln der Hufe ihrer Pferde hallten durch das Gehölz. Vereinzelnd ließen sich aufgeregtes Schnauben und schwere Atemzüge vernehmen. Der Wald schien selbst den Atem anzuhalten und beobachtete den Ritt der Menschen – sie ritten wieder.