Der Morgen dämmerte und die vielen Menschen im Pass begannen, wie Ameisen in einem zu engen Bau umherzuwuseln. Frauen riefen ihre umhertollenden Kinder herbei und setzten sie auf die Karren. Die Rufe wie auch die geführten Gespräche glichen Geschnatter zahlloser Schwingen. Männer überprüften unnötigerweise den sicheren Sitz der Ladungen. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Der feste Wachentsatz der Pass-Wacht bezog Posten und die abgestellten Arbeiter diskutierten die angeordneten Bauprojekte sowie über Arbeitsteilungen.
»Aufsitzen Männer, wir reiten nach Hause, zurück zum Lager. Man wartet dort auf unsere Rückkehr und es gibt viel zu tun.« Fendrik verabschiedete sich von seinem Bruder und Yaeko, die Ben in die neue Mark begleiteten. Er begab sich an die Seite Jariks und beide griffen sich an die Handgelenke, um sich geschwisterlich zu umarmen. »Danke, dass du mich ziehen lässt. Ich weiß, dass du es nicht gutheißen kannst, aber es ist so am besten. Wir sehen uns wieder - Früher oder Später.«
»Wenn du zu viel Mist machst mein Lieber, erfahr ich davon. Ich werde dir höchstpersönlich in den Arsch treten. Versprochen.«
»Ich vermisse dich ebenfalls, nur nicht ganz so innig wie du mich.«
Eine letzte kräftige Umarmung mit Schulterklopfen und beide lösten sich einander. Jeder ging seines Weges.
»Pass mir gut auf den Sturkopf auf, Yaeko!«, rief Fendrik über seine Schulter hinweg.
»Werde ich machen. Grüß Eric und bleib wachsam. Viel Glück!«
»Euch auch!« Sodann wechselte er die Blickrichtung und hob seine ihm gereichte Lanze. »Aufsitzen Männer, das Ziel – unser Lager in Middellande!«
Fendrik ritt mit seinen zwei Scharen an und passierte das für sie geöffnete Tor der Palisade. Viele der Reisenden schauten niedergeschlagen den sich entfernenden hinterher, aber keine Träne bildete sich in ihren Augen. Zu viel Leid und Schmerz verband sie mit dem zurückgelassenen. Sie wussten, dass ihre erkorene Heimat in Kürze erreicht werden solle, eines in der die erhoffte Freiheit auf sie wartete.
Ben hatte sich beim Verabschieden kurzgehalten und alsbald mit einer halben Hundertschaft nach vorn an die Spitze des Trosses begeben, um als Erster im Tal anzukommen. Es sollten sie zwar keinerlei Einwohner erwarten, aber umherstreunende Heuler könnten durchaus auf der Lauer liegen. Außerdem mochte er keine Abschiedsszenen und hatte sich deswegen aus purem Eigennutz aus dem Staub gemacht.
Die Pass-Wächter schlossen die Torflügel, sobald Fendrik mit seinem Beritt hindurch war, von nun an waren Middellande und der Tross voneinander getrennt.
Stück für Stück schmälerte sich die Sicht zu seinem Bruder, bis beide Torflügel an ihrem Platz anlangten. Die beiden Verschlussbalken wurden aus ihren an der Palisade befindlichen Vorrichtungen aufeinander zugeschoben, um das Tor zu verriegeln.
»Komm schon, dein Bruder ist durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Schau nur, Benjamin hat die Karren anrollen lassen. Wir sollten uns eilen, wenn wir nicht die Letzten sein wollen.«
»Hoffentlich hast du recht. Seine und meine Zukunft sind unterschiedlich und er muss lernen, auf eigenen Füßen zu stehen«, antwortete Jarik benommen mit träumerischem Blick zu der vollends geschlossenen Palisade. Schwermütig blickte er weiterhin hinüber zu dem bereits verriegelten Tor und schüttelte sacht den Kopf – hing seinen Erinnerungen nach.
»Kommst Du? Wenn wir nicht die Letzten sein wollen, sollten wir jetzt los.«
Jarik wendete niedergeschlagen sein Pferd und gemeinsam mit Yaeko führten sie die zweite Hälfte des Berittes als Abschluss des Trosses durch den vor ihnen liegenden Abschnitt des Passes. Freudige Rufe und beherztes Gelächter halten durch diesen an ihre Ohren. Kein Geräusch klagte über Wehmut, obwohl jeder von ihnen allen Grund dazu haben sollte. Schließlich verließen sie ihre angestammte Heimat und zogen in eines ihnen vollkommen unbekanntes Gebiet. Alle hatten nur eines im Sinn – in ihr neues Heimatland ankommen und gemeinsam beginnen, diese zu gestalten. Die Hoffnung auf eine lebenswertere Zukunft befand sich direkt voraus.
Fendrik und seine Männer betraten auf den Rücken ihrer Pferde Middellande und mussten fortan auf sich selbst gestellt das Leben meistern. Kein Jarik, der ihnen befahl und kein Ben, der sie führte. Der Trupp hielt und die Jäger drehten sich beklommen zum Pass herum und hegten, jeder für sich, ihrer Gedanken.
»Fendrik, was wird aus uns? Ich meine, wie machen wir jetzt weiter?«
»Unsere Aufgabe steht fest und Eric ist unterwegs seinen Teil dazu beizutragen. Er reitet durch die Marken und sucht Verbündete, denen wir Vertrauen schenken können. Wir müssen unsere Reihen füllen und anweisen. Den Drill dürftest du noch gut in Erinnerung haben, oder?«
»Nur zu gut. Ich wäre gern bei dem Kampf dabei gewesen, nur um mit anzusehen, zu welchem Resultat die qualvolle Ausbildung führte.«
»Den Ausgang hast du hinreichend erzählt bekommen. Sie waren sieghaft, das sollte als Urteil reichen. Auch wenn wir das energische Antreiben seitens Ben so manches Mal verflucht haben, er tat, was er für notwendig hielt, und wird es vermutlich weiter handhaben.«
»Du hast recht, wir taten ihm Unrecht. Niemand konnte ahnen, wozu dieser Drill wirklich von Nutzen sein wird, bis es zum unvermeidbaren Kontakt kam«, beteuerte der Jäger kopfnickend und mit angezogenem Mundwinkel.
»Es gibt nichts, wofür du oder die anderen sich entschuldigen müssen. Wir reiten in ein bestehendes Zuhause, unsere Freunde hingegen ins Nichts. Sie müssen mit Schweiß und Blut aus diesem Tal erst eines formen, uns ergeht es dahingehend besser.«
»Ich möchte mit den Leuten nicht tauschen. Der Bau im Pass ist eine Sache, aber ein komplett unbekanntes Tal zu bevölkern, ohne zu wissen, was einen erwartet?«
»Jarik hat eine grobe Karte des Tales und außer ein paar Heulern ist dort nichts beheimatet. Unsere Freunde und ihr Gefolge bilden mit Kindern eine solide Ansammlung von mehr als sechshundert Seelen. Ich habe nie für möglich gehalten, auch nur ansatzweise so viele Menschen für diese Idee begeistert zu sehen.«
»Das hat niemand.« Der Jäger kraulte sein unruhiges Pferd am Hals und blickte in die Schatten der Bäume, direkt voraus. Noch immer wehten nach Tod stinkende Schwaden umher. Fendrik stimmte sich mit seinen Männern ab, den Ort der siegreichen Schlacht zu begutachten und führte sie durch den angrenzenden Waldrand in vorgegebener Richtung. Es dauerte nicht lange und ein penetrant durchdringender Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihnen in die Nasen. »Verflucht stinkt das.«
»Wir wurden vorgewarnt. Sie haben das gesamte Lager eingerissen und als Scheiterhaufen genutzt. Die Kadaver schwellen noch immer, schaut dort vorn.«
Die Reiter näherten sich weiter den noch glühenden Feuerstellen, worin mit verrenkten und verkohlten Gliedern die erschlagenen Gouwors schmorten. Einer der Jäger lenkte sein Pferd an eines der ausgebrannten Feuer heran und stocherte mit der Spitze seiner Lanze in den Kohlehaufen umher. Die schwarz, durch das Feuer verkrüppelten Gliedmaßen der Verbrannten, zerfielen zu Asche und zerstäuben im seichten Wind. Fendrik ordnete an, es dem Kameraden gleich zu tun und die verkohlten Reste zu zerstoßen.
»Lasst uns verhindern, dass man hier das Ausmaß der Zerstörung sofort erahnen kann. Wenn wir die Gebeine vernichten, kann man deren ursprüngliche Anzahl kaum noch beziffern. Schiebt die Holzreste tiefer in die Glut, sodass diese den übrigen Rest auch verbrennen mögen.«
Es war eine undankbare Aufgabe, bestialischer Gestank, der durch das Zerstoßen der verkohlten Überreste weiter zunahm und die aufstaubende Kohle setzte den Männern zu. Nach Beendigung ihrer Tat machten sie sich auf direktem Weg zu ihrem Lager und rasteten nur kurzweilig an der Terne, um sich die ekelige Rußschicht von Haut und Haaren zu waschen.