Betrübt und mit geränderten Augen saß sie wie so oft allein in seiner Wohnung und schaute sich Erinnerungsfotos an. Ihr liebstes lag direkt vor ihr und eine Träne tropft darauf. Das Foto zeigte einen jungen blonden Mann mit ausgeprägten muskulösen Körper. Dieser posierte in einer Fantasierüstung und hielt ein Schwert locker geschulter und grinste siegreich.
An der Haustür läutete es und von unten rief ihr letzter Halt zu ihrem verlorenen Liebsten hinauf. »Ich geh schon.«
Es war wohl nur der Postbote, der jeden Tag beinahe zur selben Uhrzeit die Post brachte. Ralf ließ sich bereits seit Wochen die private wie geschäftliche Zustellung nach Hause liefern. Die Stufen zu Bens Wohnung knarrten wie üblich, als ihr Schwiegervater in spe heraufkam.
»Katrin? Liebes, du hast Post von der Kripo.«
»Was um Herrgotts Willen wollen die von mir?«
»Was weiß denn ich, mach selber auf und sag du es mir.«
Lange Zeit hielt sie den noch verschlossenen Umschlag in Händen und nestelte ungeschickt daran herum.
»Mach ihn auf«, drängte Ralf.
Sie blickte zu ihm auf und nickte betrübt.
Der Umschlag, ungewöhnlich Dick enthielt ein Anschreiben nebst einem dünnen Büchlein. Beides betrachtete sie gelangweilt und fand an dem Buch nichts Aufregendes, außer, dass es beträchtlich verwittert aussah. Das Anschreiben jedoch war offiziell.
Sehr geehrte Frau Krause, leider können wir ihnen nach wie vor keinerlei fundierte Auskünfte über den Verbleib ihres Verlobten mitteilen. Die Spurensicherung jedoch hat auf Drängen der Staatsanwaltschaft, wie auch der durch Herrn Leger beauftragten Detektei erneut das Umfeld der Burg Herzberg untersucht. Eingesetzte Spürhunde konnten unter einer hochstehenden Wurzel das beigefügte Büchlein finden, welches für uns und den Ermittlungen keinerlei Ansätze liefert. Es handelt sich dabei nachweislich um eine Habe ihres Verlobten, der in diesem angenommener Weise seine Wunschwelt niedergeschrieben hat. Zu unserer Entlastung übersenden wir ihnen dieses. Hochachtungsvoll Kommissariat Osterode am Harz.
»Hast du mitgelesen?«
»Hab ich, aber ich wusste nicht, dass Ben jemals geschrieben hat.«
»Ich auch nicht.«
»Liebes, ich lass dich mit diesem da lieber allein. Ich muss mich um meinen Auftrag kümmern, wenn ich den nicht auch noch verlieren will. Erzählst du mir vom Inhalt?« Ralf legte seinen rechten Zeigefinger auf den Umschlag des Buches.
»Mache ich, ja.«
Katrin atmete tief ein und öffnete den Buchdeckel und blickte auf eine Signatur, geschrieben in seiner Handschrift.
Bestimmt für meine Liebste daheim - Katrin Krause.
Sie schluchzte in sich hinein, als sie diesen einen Satz las.
Oh Ben, wo steckst du nur?
Katrin griff sich das Buch und blätterte die Seiten durch, von hinten nach vorn. Abrupt hielt sie inne und blätterte zurück – etwas war ihr aufgefallen, etwas was nicht hätte sein dürfen.
Was war das denn? Ich bin mir sicher, dass dort eben noch etwas ganz anderes stand.
Nichts deutete auf ihre Vermutung hin und sie blätterte daraufhin zurück zur ersten Seite. Erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen warf sie das Buch von sich. Sie zog die Beine eng an die Brust und umklammert diese ganz fest. Verängstig und leise nuschelnd wippte sie vor und zurück, konnte den Blick von dem Buch jedoch nicht trennen. Die Neugierde siegte und griff abermals zu. Der Satz, den sie zuerst gelesen hatte, war nicht mehr. Stattdessen las sie nun einen vollkommen anderen.
Dies ist für die zurückgebliebene Seele Benjamins gedacht und findet seinen Ursprung, wenn diese diesen Einband in Händen hält. So ist es bestimmt. Bevor ihr euch nun fragt, wie dies sein kann, so sei euch gesagt, dass es Dinge hinter den Dingen gibt, wie es Benjamin am eigenen Leib erfahren hat und weiterhin wird. Benjamin ist für euch unnahbar geworden, bis er es schafft, die ihm gestellte Aufgabe für beendet zu erklären. Nur er selbst ist in der Lage, sich zurück in seine eigene Welt zu wünschen und nur wenn er sich dessen eindeutig und Selbst bewusst geworden ist, kann er nach Vollendung seiner Taten in sein eigen Leben zurückkehren. Lest auf den nachfolgenden Seiten sein Leben im Parallelem des ihren. Helft seinem hier, indem ihr ihn freilasst. Zwischen eurem Geiste besteht eine tiefgründige Verbindung und er fühlt sich euch in mancherlei Situationen sehr nah – so seine Worte. Ihr müsst von ihm lassen, sodass er den Weg zu Euch zurückfinden kann.
Lest seinen Weg und tut, was immer zu tun ist. Ihr tragt den Schlüssel dazu in Hand und Herzen.
Katrin fröstelte, als sie diese Zeilen wiederholt las, um deren Wahrheitsgehalt zu beurteilen. Sie las ohne Pause die Einleitung des Buches weiter und erfuhr, wie die Bewohner in dieser fiktiven Welt lebten und welcher Gefahren sie Tag ein Tag aus ausgesetzt waren. Sie wusste um die geheimen Wünsche Bens, jene, in denen er lieber zu einer anderen Zeit gelebt hätte. Kurzerhand blätterte sie weiter und staunte. Auf der nächsten Seite stand beschrieben, wie es zu Bens Verschwinden kam und wie er von der Burg zu diesem kleinen Wäldchen lief. Die geschriebenen Worte zogen sie förmlich in den Bann und runzelte die Stirn, als sie von einer Lerina zu lesen bekam, die ihr so ähnlich zu sein schien. Dieses Mädchen versuchte sich ihrem Verlobten zu nähern und wollte anscheinend mehr.
Wiederstrebend dachte sie an die beiden in eindeutigen Posen, kam aber auch nicht drum herum den Wahrheitsgehalt der eingehenden Worte zuzustimmen. Es war scheinbar wirklich Bens Aufgabe dieses Volks aus der Knechtschaft zu führen, auch wenn sie tief in sich drin nicht an diese ungeheuerliche Geschichte glauben wollte. All diese Dinge sind doch nur Fiktion ... oder?